Bartsch oder Luxemburg? Wege zu einer revolutionären Partei

30.01.2021, Lesezeit 25 Min.
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Die Partei Sozialistischer Arbeiter:innen (PTS), Schwesterpartei von RIO in Argentinien.

Warum die Linkspartei keine Antwort auf die Krise bietet. Aufgaben der revolutionären Linken in Deutschland heute.

Dietmar Bartsch (2020): „Die Linksfraktion wird alle Maßnahmen unterstützen, die Solidarität befördern, Schaden von unserem Land, den Menschen und der Wirtschaft abwenden. (…) Nach der Krise sind grundsätzliche Fragen zu stellen.“

Rosa Luxemburg (1899): „In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.“

Januar 2021: Noch immer befinden wir uns inmitten der Corona-Pandemie, die von den bürgerlichen Regierungen nicht unter Kontrolle gebracht wird. Die schwerste Krise des kapitalistischen Systems seit Jahrzehnten zieht tiefe Risse durch die politischen Systeme zentraler imperialistischer Länder. Am deutlichsten sichtbar ist das in den USA. In dieser Situation betreten auch die Ausgebeuteten und Unterdrückten mit Revolten und Aufständen erneut die Bühne. Es kündigen sich Jahre des verschärften Klassenkampfs an, sowohl in halbkolonialen Ländern als auch in imperialistischen Zentren, wie die Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA eindrucksvoll zeigte. Und auch in Europa tritt die Arbeiter:innenklasse heute mit dem Streik der Raffinerie-Arbeiter:innen von Grandpuits in Frankreich und der Logistik in Italien auf die Bühne.

Welche Antwort müssen die Linke und die Arbeiter:innenklasse auf Pandemie und kapitalistische Krise geben? Sollen sie sich an Dietmar Bartsch oder an Rosa Luxemburg halten? Welche Organisation müssen wir aufbauen? Eine Partei, die sich der Mitverwaltung des kapitalistischen Staats widmet, oder eine, die im Kampf gegen Pandemie und Krise Schritte zur Überwindung des Kapitalismus geht? Und wie bauen wir diese Partei auf?

Wir wollen in diesem Artikel die Herausforderungen und Aufgaben der revolutionären Linken skizzieren. Im Zentrum steht für uns dabei die Frage, wie wir auch hier in Deutschland eine revolutionäre Partei aufbauen. Das geht für uns nur im Kampf gegen den Reformismus und die Gewerkschaftsbürokratie, das heißt die Apparate der Gewerkschaften, die eine Rolle als Vermittlerin zwischen den Interessen des Kapitals und den Interessen der Arbeiter:innen einnehmen.

In diesem Sinne rufen wir alle revolutionären Organisationen genauso wie die fortschrittlichsten Kämpfer:innen der Arbeiter:innenklasse und der sozialen Bewegungen dazu auf, sich an der Debatte über die Taktiken und Strategie zum Aufbau einer revolutionären Partei zu beteiligen. Wir wollen unsere Zeitung Klasse Gegen Klasse für eine solidarische Diskussion darüber öffnen.

Auf die Pandemie folgt der Klassenkampf

Der Lockdown der Bundesregierung im Interesse der Konzerne, der das Privatleben massiv einschränkt, um die Betriebe und damit die Profite der Kapitalist:innen weiter am Laufen zu halten, ist katastrophal gescheitert. Die Infektions- und Todeszahlen sinken langsam. Doch ein Ende der „zweiten Welle“ ist angesichts gefährlicher Mutationen des Coronavirus ungewiss. Das Gesundheitswesen, mit den Pflegekräften an vorderster Front, ist überlastet. Es droht an immer mehr Stellen aus allen Nähten zu platzen. Die schleppend angelaufene Impfkampagne ändert daran bisher wenig.

Zudem finden in diesem Jahr eine Reihe von Landtagswahlen sowie die Bundestagswahl am 26. September statt. Für die Bourgeoisie ist die Aufgabe der kommenden Regierung klar, die nach bisherigen Prognosen von einer schwarz-grünen Koalition übernommen werden wird: Sie wollen die arbeitende Bevölkerung für die Kosten der Krise aufkommen lassen. Obwohl die Bundesregierung mit Milliardenhilfen angeschlagene Konzerne wie die Lufthansa rettete, stehen in Sektoren wie dem Einzelhandel, dem Tourismus und der Luftfahrtbranche, aber auch in der exportorientierten Metallindustrie Massenentlassungen bevor.

Weitere Angriffe werden bereits geplant. Der Wirtschaftsrat der CDU fordert angesichts „überlasteter Sozialsysteme“ eine Anhebung des Renteneintrittsalters von 67 auf 70 Jahre, was einer milliardenschweren Rentenkürzung gleichkommen würde. Bis zur Bundestagswahl wird die Koalition aus CDU und SPD versuchen, größere Verschlechterungen aufzuschieben. Doch die Maßnahmen wie Kurzarbeiter:innengeld oder die Corona-Soforthilfen an kleine Betriebe und Solo-Selbstständige sind unzureichend und werden den Anstieg der Arbeitslosigkeit und Armut nicht aufhalten. Die kommende Bundesregierung wird also wahrscheinlich die härtesten Kürzungen und Sparmaßnahmen seit der Agenda 2010 oder gar dem Mauerfall durchsetzen.

Die Arbeiter:innenklasse muss sich auf die kommenden Angriffe vorbereiten und für ein Notfallprogramm gegen die Corona-Krise kämpfen, das vermeidbare Tote verhindert und die Kapitalist:innen abkassiert. Diese Forderungen dürfen sich nicht auf ein Trostpflaster gegen die schlimmsten Auswirkungen der Krise beschränken. Dies würde nur das Ziel verfolgen, die Wut der Massen zu besänftigen und das Regime zu stützen. Es reicht genauso wenig, abstrakt die Abschaffung des Kapitalismus zu fordern. Denn das ließe die Frage offen, wie die materiellen Kräfte aufgebaut werden können, um die Angriffe der Kapitalist:innen zurückzuschlagen und in die Offensive zu gehen. Deshalb benötigen wir ein System von Übergangsforderungen, wie von Leo Trotzki in seinem Übergangsprogramm ausgeführt, das an die dringendsten Notwendigkeiten der Massen anknüpft, die Selbstorganisierung der Arbeiter:innen und der Jugend vorantreibt und sie mit dem Kampf für die sozialistische Revolution verbindet.

Einige dieser Forderungen finden bereits Einzug in die öffentliche Debatte. Die Zero-Covid-Initiative wird von Sektoren der radikalen Linken und des linken Reformismus bis hin zu Teilen der Linkspartei unterstützt. Sie fordert eine Abkehr von Privatisierungen im Gesundheitswesen, die Überführung der Impfstoffproduktion in Gemeingut und ein Herunterfahren der nicht-essentiellen Wirtschaft, um die Infektionsketten komplett zu sprengen. Appelle an die bürgerlichen Parteien können dies jedoch nicht durchsetzen. Nur die Arbeiter:innenklasse kann die Kampfkraft hierzu aufbringen. Dazu muss sie in koordinierten Streik- und Kampftagen die Perspektive eines politischen Generalstreiks entwickeln.

Die Führungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Mitgliedsgewerkschaften sind jedoch von einer solchen Perspektive meilenweit entfernt. Während der Corona-Krise haben sie sich gemeinsam mit den Interessenverbänden der Kapitalist:innen zu Verwalter:innen eines Burgfriedens aufgespielt. An einigen Orten gelang es den Arbeiter:innen, der Bürokratie Streiks aufzuzwingen, die auch leichte Verbesserungen erreichten. Doch die Bürokratie würgte diese so schnell wie möglich ab. Dafür nutzten sie die Hetze der bürgerlichen Presse aus, die Arbeitskämpfe in gewohnter Manier als „verantwortungslos“ und „unangebracht“ geißelten. Letztlich wurde damit vor allem Druck abgelassen – die Arbeiter:innenklasse insgesamt erkämpfte sich so keine wesentlich bessere Stellung.

Doch was ist notwendig, damit sich die bisherigen Teilkämpfe vereinen und ihre konkreten Forderungen sowie ein allgemeines Notfallprogramm im Interesse der Arbeiter:innen durchgesetzt und mögliche Gegenreformen wie die Rente mit 70 verhindert werden können? Es braucht eine Einheitsfront der Gewerkschaften, der linken Organisationen und sozialen Bewegungen, die sich einen solchen Kampfplan auf die Fahnen schreibt. Eine Einheitsfront, die mittels einer breiten Basisorganisierung Streiks und Mobilisierungen gegen die Krisenpolitik der Regierung und der Bosse organisiert. Doch damit diese Einheitsfront Realität werden kann, ist es dringend nötig, eine kämpferische und antibürokratische Opposition in den Gewerkschaften zu sammeln, die die bürokratischen Führungen der Gewerkschaften und der reformistischen Parteien wie der Linkspartei herausfordern und zur Umsetzung eines Kampfplans zwingen kann.

Illusionen in reformistisches Regieren

Ein großer Teil der Linken ist jedoch der Meinung, dass dieser Perspektive dadurch gedient sei, die Linkspartei im Rahmen einer rot-rot-grünen Koalition an die Regierung zu bringen, um die notwendigen sozialen Maßnahmen durchzusetzen. Dahinter steckt eine elektorale, das heißt auf die Wahlen ausgerichtete, Strategie. Darin geht es nicht darum, die Arbeiter:innen und die Massen für den Kampf zu organisieren. Stattdessen wollen sie möglichst viele Parlamentssitze für die Linkspartei erreichen, die dann als Teil einer Regierungskoalition Reformen durchführen soll. In der progressivsten Variante dieser Strategie wird auf eine Mobilisierung auf der Straße gesetzt, um die Linkspartei im Parlament (oder in der Regierung) zu begleiten oder unter Druck zu setzen. Doch der Fokus bleibt auch dabei auf der parlamentarischen Tätigkeit.

Diese Haltung ist nicht neu, und so lohnt es sich für Revolutionär:innen, historische Analogien zu untersuchen, um klarer Schlussfolgerungen ziehen zu können. Wir beginnen unseren historischen Abriss mit Rosa Luxemburg. Der heutige Reformismus vereinnahmt die Sozialistin und begründet mit ihr eine staatstragende Politik. Doch schon vor über 100 Jahren bezeichnete sie die Fokussierung auf die parlamentarische Arena anstelle der Intervention in den Klassenkampf in einer scharfen Polemik gegen Karl Kautsky als „Nichtsalsparlamentarismus […], im Gegensatz zur sozialdemokratischen Massenaktion des Proletariats zur Erringung und Ausübung politischer Rechte.“1 Es ist bemerkenswert, dass Luxemburgs Kritik hier nicht nur die Regierungsbeteiligung von Sozialist:innen trifft, sondern schon die Fokussierung auf die parlamentarische Arbeit anstelle des Vorantreibens der „Massenaktion des Proletariats“. Wohlgemerkt lehnte Luxemburg nicht die parlamentarische Tätigkeit an sich ab, sondern stellte in Frage, wofür sie dient: Für Luxemburg war selbstverständlich, dass die parlamentarische Bühne genutzt werden muss, um mit den Massen zu reden und ihre Kämpfe zu unterstützen; nicht jedoch, um die Massen an den bürgerlichen Staat zu binden und die Illusion in seine Reformierbarkeit zu schüren.

Schon einige Jahre zuvor war in Frankreich zum ersten Mal ein sozialistischer Abgeordneter in eine Regierung eingetreten: Alexandre Millerand war von 1899 bis 1902 Handelsminister der Regierung Waldeck-Rousseau. Während Jean Jaurès, der Anführer der französischen Sozialist:innen, den Eintritt Millerands in die Regierung rechtfertigte (obwohl er einige Jahre später seine Position änderte), war es Rosa Luxemburg, die gegen diese opportunistische Politik polemisierte. In ihrem Artikel „Eine taktische Frage“ (1899) schrieb sie:

Vom Standpunkte der opportunistischen Auffassung des Sozialismus, wie sie in der letzten Zeit in unserer Partei namentlich in den Theorien Bernsteins laut wurde, das heißt vom Standpunkte derstückweisen Einführung des Sozialismusin die bürgerliche Gesellschaft, muß auch der Eintritt der sozialistischen Elemente in die Regierung ebenso erwünscht wie natürlich erscheinen. Kann man einmal den Sozialismus überhaupt allmählich, in kleinen Dosen in die kapitalistische Gesellschaft einschmuggeln, und verwandelt sich andererseits der kapitalistische Staat von selbst allmählich in einen sozialistischen, dann ist eine fortschreitende Aufnahme von Sozialisten in die bürgerliche Regierung sogar ein natürliches Ergebnis der fortschreitenden Entwicklung der bürgerlichen Staaten, ganz entsprechend ihrer angeblichen Annäherung zur sozialistischen Mehrheit in den gesetzgebenden Körpern.

Dagegen vertrat Luxemburg einen revolutionären Standpunkt: Die Zerstörung des Kapitalismus und des bürgerlichen Staates ist eine Vorbedingung für den Übergang zum Sozialismus. Nach Rosa Luxemburg kann das adäquate Mittel für diese Aufgabe nur der Klassenkampf sein. Die Positionen, die Sozialist:innen in den bürgerlich-demokratischen Institutionen einnehmen, sollen dementsprechend nur dazu dienen, dass sich dieser Klassenkampf entwickeln kann. Sie schlussfolgerte: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.“ Im Gegensatz dazu, wie die Linkspartei heute über Regierungsbeteiligung diskutiert, stand für Rosa Luxemburg fest: Eine Regierung der Arbeiter:innen kann nur durch die Zerschlagung des bürgerlich-kapitalistischen Staates entstehen.

Millerand wurde schließlich 1904 wegen seiner konservativen Politik aus der Sozialistischen Partei Frankreichs ausgeschlossen. Die Vorstellung, dass eine Regierungsbeteiligung von Sozialist:innen etwas anderes als purer Opportunismus sein könne, hat sich jedoch gehalten. Die Debatte über den „Ministerialismus“ war eine Vorgeschichte für die Beteiligung an „Volksfront“-Regierungen in den 1930er Jahren in Europa, also Bündnissen mit bürgerlichen Parteien. Sie waren auch das Vorspiel für die Integration in bürgerliche Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus. Das galt sowohl für die reformistischen Sozialdemokratien, die sich vom Ziel der Revolution entfernt hatten, als auch für die stalinistischen Kommunistischen Parteien. Diese suchten im Namen der Verteidigung der Sowjetunion eine Allianz mit der Bourgeoisie und verrieten so revolutionäre Prozesse auf mehreren Kontinenten.

Die Umwandlung der europäischen Sozialdemokratie in einen „Sozialliberalismus“ seit den 1970er Jahren und die Umwandlung der Kommunistischen Parteien zum „Eurokommunismus“ vertieften diesen Kurs der Anpassung an den bürgerlich-kapitalistischen Staat und die begrenzten Mechanismen der liberalen Demokratie. Der Horizont der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft wurde aus dem Programm und der Strategie dieser reformistischen Organisationen völlig getilgt. Sobald er nicht einmal mehr als fernes Ziel existierte, wurde die Anpassung an den Rahmen der kapitalistischen Demokratie zum Selbstzweck: Bedenkenlos wurden institutionelle Räume und Regierungspositionen in den kapitalistischen Staaten besetzt.

Dass die Regierungsbeteiligung „sozialdemokratischer“ oder „sozialistischer“ Parteien nicht nur ein Hindernis für den Klassenkampf darstellt, sondern die angestrebten Reformen selbst häufig keine Aussicht auf Umsetzung haben, können wir sowohl am historischen Beispiel Millerands betrachten, als auch in der Praxis der SPD und der Linkspartei heute. Die SPD war mit der Agenda 2010 selbst für einen der größten Angriffe auf die deutsche Arbeiter:innenklasse seit dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich und verwaltet die aktuelle kapitalistische Krise gemeinsam mit der CDU/CSU im Interesse des deutschen Großkapitals. Die Linkspartei entstand nach der Agenda 2010 aus einer Fusion zwischen der WASG – einer Abspaltung von der SPD – und der PDS. Ihr Ziel war dabei die Resozialdemokratisierung der SPD, nicht der Aufbau einer sozialistischen Alternative. Die Regierungsbilanz der Linkspartei in diversen Landesregierungen seit ihrer Gründung 2007 macht entsprechend deutlich, dass es sich dabei um eine neue (links-)reformistische Partei handelt, die Teil des bürgerlichen Staates ist: Die Linkspartei setzte in den Landesregierungen die Agenda 2010 mit um, war verantwortlich für massenhafte Privatisierungen, führt das repressive Abschiebungsregime mit aus und hat als Teil der Regierungskoalition in Berlin die Blockade des Volksentscheids zur Enteignung von Immobilienkonzernen mitgetragen.

Nichtsdestotrotz gibt es in der Linkspartei eine Reihe von Kräften am linken Rand, die sich vornehmen, die Linkspartei als innerparteiliche Opposition nach links zu ziehen und sie zu einer Art sozialistischer Oppositionspartei zu machen. Dazu gehört zum Beispiel die Plattform Antikapitalistische Linke (AKL), in der unter anderem die Organisationen SAV und SOL aktiv sind. SAV und SOL sprechen sich immer wieder in ihren Erklärungen gegen eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei aus. Auch das Netzwerk marx21 nimmt verbal eine ähnliche Position ein, ist jedoch politisch und materiell viel tiefer in den Apparat der Partei eingebunden. So tritt Janine Wissler, die bis vor Kurzem das prominenteste Mitglied von marx21 war, im Einvernehmen mit der Parteispitze als Kandidatin zum Parteivorsitz an – gemeinsam mit der aktuellen Fraktionsvorsitzenden aus Thüringen, Susanne Hennig-Wellsow, einer eingefleischten „Regierungslinken“.

Die Parteispitze und einen Großteil der Mitgliedschaft interessiert die Kritik an Regierungsbeteiligungen wenig: Die Linkspartei nimmt ganz klar Kurs auf eine rot-rot-grüne Regierung auch im Bund, was nichts weniger als die Regierungsbeteiligung an der wichtigsten imperialistischen Macht Europas bedeuten würde.

Das Problem ist nicht, dass der Parteiapparat in seiner aktuellen Ausrichtung zu elektoralistisch ist und der linke Flügel der Partei deshalb regelmäßig ausgebootet würde. Die Linkspartei ist seit Langem in den bürgerlichen Herrschaftsapparat integriert. Wie wir an anderer Stelle schrieben:

Die laut marx21 „erste gesellschaftlich relevante sozialistische Massenpartei (links von der SPD) in der Geschichte der Bundesrepublik”, regiert schon längst in mehreren Bundesländern. Genau genommen war die Linkspartei bereits in der Regierung, bevor sie überhaupt gegründet wurde, noch als PDS. In ihrer ganzen Geschichte gab es keinen einzigen Tag, an dem sie nicht irgendwo in der Regierung war. D.h. jeden Tag trägt sie Verantwortung für Abschiebungen, Zwangsräumungen, Privatisierungen. Und Janine Wissler ist wie erwähnt seit Jahren im geschäftsführenden Vorstand dieser Partei — Christine Buchholz, eine andere Führungsfigur von marx21, noch länger.

Die Linkspartei ist längst in den bürgerlichen Staat eingebunden und damit in hohem Maß durch Bundes- und Landtagsmandate, Parteien- und Stiftungsfinanzierung materiell abhängig. Damit ist es ihr schlichtweg unmöglich, den grundlegenden Bruch zu vollziehen, der notwendig wäre, um eine sozialistische Opposition darzustellen. Die Integration in den bürgerlichen Staat ist eine materielle Schranke, die – wie der berüchtigte Marsch durch die Institutionen – am Ende die Partei korrumpiert und den Staat schützt.

Aber bedeutet eine Abkehr von der Linkspartei nicht eine Abkehr von den Massen? Ted Grant, Begründer der Tradition, aus der SAV und SOL stammen, argumentierte für eine konstante Arbeit innerhalb von reformistischen Organisationen selbst noch zu Beginn eines revolutionären Ausbruchs der Massen: „Die gesamte Geschichte zeigt, dass sich die Massen in den ersten Etappen eines revolutionären Aufstiegs an die Massenorganisationen wenden, um eine Lösung für ihre Probleme zu finden, besonders die jungen Generationen, die zum ersten Mal das Terrain der Politik betreten.“ Dahinter steckt die Position, dass reformistische Parteien wie die Linkspartei einen notwendigen Zwischenschritt im Bewusstsein der Massen darstellen würden. Das ignoriert jedoch, dass die konsequente Aktion von Revolutionär:innen in Momenten der Zuspitzung des Klassenkampfes zu enormen Bewusstseinssprüngen führen kann. Für eine Rechtfertigung dieser Haltung müsste außerdem die prokapitalistische Regierungspolitik der Linkspartei zum Anlass genommen werden, vor den Massen und den eigenen Anhänger:innen eine scharfe Abrechnung mit dem Reformismus vorzunehmen, um sie zum Bruch mit dieser Politik zu führen. SAV und SOL belügen letztlich sich selbst, wenn sie glauben, dass der immergleiche Appell gegen Regierungsbeteiligung, ohne jemals eine Konsequenz zu ziehen, zum Aufbau einer prinzipienfesten Opposition am linken Rand der Partei beitragen würde. Denn eine solche muss früher oder später mit dem Reformismus der Linkspartei brechen und eine sozialistische Alternative links der Linkspartei auf die Tagesordnung setzen. Doch diesen Zeitpunkt verschieben diese Kräfte stetig, noch dazu ohne zu sagen, wann er denn kommen soll.

Das beste Beispiel für diese Illusion sind Artikel wie „Rebellisches Regieren als Machtoption?“ von marx21. Das Netzwerk wendet sich in dem Artikel augenscheinlich gegen die Vorstellung, dass eine Regierungsteilnahme irgendwie fortschrittlich sein kann und belegt eindrücklich die Unmöglichkeit des „rebellischen Regierens“. Nur: DEA, die Schwesterorganisation von marx21 in Griechenland, unterstützte Syriza, und marx21 ist heute eben Teil des Linkspartei-Vorstands. Welche Bilanz zieht das Netzwerk daraus? Darauf kommt der Artikel nicht zu sprechen. Statt die Schlussfolgerung zu ziehen, dass ein konsequenter Bruch mit dem Regierungssozialismus nötig ist – und damit ein Bruch mit der Linkspartei –, endet der Artikel mit einem zahmen Appell, dass die Partei das oben schon erwähnte Luxemburg-Zitat beachten solle. Wie es denn gelingen soll, dass die Linkspartei mit dem Regierungssozialismus bricht, wollen sie selbst nicht sagen. Janine Wisslers Vorsitzkandidatur begrüßte marx21 sogar, in der illusionären Hoffnung, dass der Parteiapparat sich dadurch irgendwie wieder von Regierungsbeteiligungen entfernen würde.

Ein anderes Beispiel der vergangenen Jahre ist genauso lehrreich: Im Spanischen Staat gründeten sich nach den Protesten der „Empörten“ im ganzen Staat hunderte Zirkel der neoreformistischen Partei Podemos. Die zentristische, also zwischen reformistischen und revolutionären Positionen schwankende, Organisation Anticapitalistas war an vielen Orten federführend daran beteiligt. Die Partei machte sich den Ausspruch „Ihr repräsentiert uns nicht“ zu eigen, mit dem die Platzbesetzungen ihre Ablehnung der herrschenden Institutionen ausgedrückt hatten. Heute, nur wenige Jahre später, ist Podemos Teil der spanischen imperialistischen Regierung und verteidigt die Monarchie. Anticapitalistas musste letztlich zähneknirschend mit Podemos brechen (verabschiedete sich aber extrem freundschaftlich mit einem gemeinsamen Abschiedsvideo von Anticapitalistas-Anführerin Teresa Rodriguez und Podemos-Chef Pablo Iglesias). Aber jahrelang setzte die Organisation ihre Energie in den Aufbau von Podemos und verlieh dem Projekt Legitimität. Eine radikale Linke, die zum Aufbau solcher Apparate als Strategie beiträgt, statt eine revolutionäre Kraft unabhängig vom Reformismus aufzubauen, verdient ihren Namen nicht.

Für eine revolutionäre Umgruppierung

Die Linkspartei ist nicht reformierbar: Sie ist Teil des imperialistischen deutschen Staats und verteidigt in mehreren Landesregierungen dessen Interessen. Dennoch sagen selbst viele Kritiker:innen der Regierungsbeteiligung, dass man trotzdem Teil der Partei bleiben müsse, um sich nicht von denen zu isolieren, die am Aufbau dieser Partei als linke Kraft arbeiten. Doch für welches Programm werden denn Leute für die Linkspartei gewonnen? Es ist das Programm der Regierungen von Berlin, Bremen und Thüringen. Fakt ist, dass die linken Strömungen in der Linkspartei dazu gezwungen sind, für die Partei zu rekrutieren, die sich eben Rot-rot-grün als Perspektive vornimmt. Das Programm der Linkspartei ist keines, dass die Kämpfe der Arbeiter:innen und der Massen gegen die Krise ins Zentrum stellt, sondern ein Programm des Nichtsalsparlamentarismus, das inkompatibel mit dem Aufbau einer sozialistischen Opposition ist. Es ist ein Programm der Anpassung an den bürgerlichen Staat mit der Vorstellung, dass man durch die Übernahme des Staatsapparats vorteilhafte Reformen umsetzen kann.

Der Bruch mit den reformistischen Illusionen in eine regierende Linkspartei fällt indes nicht vom Himmel, sondern braucht eine eigenständige materielle Grundlage. Diese Erfahrung musste auch Rosa Luxemburg machen – die große Tragik ihres heroischen Kampfes gegen den Revisionismus innerhalb der SPD. Denn trotz der Dominanz des revisionistischen Flügels in der SPD, trotz der Zustimmung der Parteispitze zum Ersten Weltkrieg und jahrelangem Burgfrieden im Interesse des Kaiserreichs und des deutschen Großkapitals weigerten sich Rosa Luxemburg und ihre Mitstreiter:innen bis nach dem Ausbruch der Novemberrevolution in Deutschland, eine eigenständige, dezidiert revolutionäre Partei zu gründen. Selbst nach ihrem Ausschluss aus der SPD traten sie der neugegründeten USPD bei, in der zum Teil dieselben Revisionist:innen – wie Eduard Bernstein – organisiert waren, die Luxemburg in all den Jahren scharf bekämpft hatte. Erst wenige Tage nach dem Ausbruch der deutschen Revolution gründete sich der Spartakusbund mit Luxemburg und Liebknecht an der Spitze als unabhängige Organisation neu. Zum 1. Januar 1919 gründeten sie dann die Kommunistische Partei Deutschlands, die KPD. Doch das war viel zu spät, um die Ereignisse der Novemberrevolution noch entscheidend zu beeinflussen. Die Führung verblieb bei SPD und USPD, die sozialistische Revolution blieb aus. Wie Nathaniel Flakin resümiert:

Rosa führte den Kampf gegen die reformistische Wende der Sozialdemokratie an, in der das revolutionäre Programm und die marxistische Strategie revidiert wurde; dennoch zog sie nicht dieselben Schlussfolgerungen aus diesen Kämpfen, die Lenin in Bezug auf den Aufbau einer revolutionären Partei ziehen konnte. Eine revolutionäre Führung kann nicht improvisiert werden; sie muss sich im direkten Kampf der Strategien zwischen verschiedenen Schichten und Tendenzen der Arbeiter*innenklasse formen und Kader ausbilden, die „sich den Zusammenbruch der alten führenden Partei zunutze zu machen“ können, wie Trotzki in „Klasse, Partei und Führung“ synthetisierte. Wenn Luxemburg während des Ersten Weltkriegs und zu Beginn der Revolution nicht organisatorisch mit den Reformist*innen und Zentrist*innen gebrochen hatte, warum sollten es dann die Arbeiter*innen an der Basis tun?

Die turbulenten Ereignisse der Novemberrevolution beweisen, dass Zeit ein kritischer Faktor des Klassenkampfes ist. Rosa Luxemburgs letzte heroische politische Tat war die Gründung der KPD, denn sie erkannte, dass die Revolutionär:innen eine von allen reformistischen Varianten unabhängige Partei brauchen, um die Massen im Kampf für den Sozialismus anzuführen. Jedoch kam diese Erkenntnis zu spät, um den Verlauf der Ereignisse bedeutsam zu prägen. Im Ergebnis scheiterte die Revolution und die Avantgarde der Arbeiter:innenklasse wurde von rechten Freikorps im Auftrag der SPD massakriert. Auf ihrem Blut wurde die Weimarer Republik gegründet, als demokratische Fassade der Konterrevolution.

Die Gründung der KPD ist wohl die wichtigste Lehre Rosa Luxemburgs, die seither zu großen Teilen in Vergessenheit geraten ist – auch bei den linken Strömungen in der Linkspartei, die sich immer wieder auf sie beziehen. Dabei zeigt die Novemberrevolution unzweifelhaft, dass der Aufbau einer revolutionären Partei weit vor dem Ausbruch der Revolution beginnen muss, um gegen die Allianz des bürgerlichen Staates mit den reformistischen Bürokratien in Parteien und Gewerkschaften ankommen zu können.

Heute sind wir wieder in dieser Lage. In der tiefsten kapitalistischen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg ist absehbar, dass es in den nächsten Jahren weltweit zu ähnlichen revolutionären Situationen kommen kann wie im Herbst 1918. Einen Bruch mit den reformistischen Parteien erst dann zu begehen, wenn sie eintreten, würde bedeuten, Luxemburgs historischen Fehler zu wiederholen – und letztlich erneut von diesen Kräften verraten zu werden. Stattdessen ist es dringender denn je, schon jetzt eine revolutionäre Kraft aufzubauen. Das Szenario, das die Pandemie und die Wirtschaftskrise auf dem ganzen Planeten hinterlassen haben, erneuert die Merkmale unserer Epoche: Nicht mehr nur Krisen und Kriege bestimmen das politische Geschehen, sondern immer mehr auch Revolten – und damit auch die Möglichkeit von Revolutionen. Das heißt: Die Widersprüche spitzen sich zu und wir brauchen einen tiefgründigen Ausweg der Arbeiter:innenklasse. Ansonsten werden die Kapitalist:innen und die Reaktion uns ihren Ausweg aufzwingen.

Damit das möglich ist, braucht es einen Zusammenschluss der revolutionären Linken, der den Reformismus der Linkspartei überwindet. Wir wollen eine Linke aufbauen, die sich unabhängig vom Kapital, dem Staat und seinen Vermittlungen organisiert. Doch das heißt nicht, dass wir allein und isoliert bleiben wollen. Im Gegenteil wollen wir auf dem Weg einer revolutionären Umgruppierung voranschreiten mit allen Arbeiter:innen und Jugendlichen, die eine politische Stimme gegen die Auswirkungen der Krise suchen, und gegenüber allen Linken, die ebenso wie wir die Illusionen in einen allmählichen Wandel und in die Führung des kapitalistischen Staates nicht teilen. Dafür ist es notwendig, die Abhängigkeit von der Linkspartei zu überwinden und sich unabhängig von ihr aufzustellen, um die fortschrittlichsten Sektoren der Arbeiter:innenklasse und der sozialen Bewegungen für ein Übergangsprogramm in der Perspektive der sozialistischen Revolution zu gewinnen.

Eine Einheitsfront für den Kampf organisieren

Gleichzeitig sind wir der Meinung, dass wir all die Arbeiter:innen, die heute noch an die allmähliche Umgestaltung des bürgerlichen Staates glauben, für unsere Perspektive gewinnen müssen. Das können wir nur, wenn wir die reformistischen Führungen und die Gewerkschaftsbürokratie, die mit ihnen verbunden sind, politisch bekämpfen, und gleichzeitig zum gemeinsamen Kampf herausfordern. Denn die kommenden Kämpfe während und nach der Corona-Pandemie werden entscheidend dafür sein, ob es den Kapitalist:innen gelingt, der Arbeiter:innenklasse und den armen Massen die Rechnung für die Krise aufzuzwingen, oder ob sich eine materielle Kraft herausbildet, die die Interessen des Kapitals tatsächlich herausfordern kann.

Deshalb halten wir es für eine zentrale Aufgabe, gemeinsam mit allen linken und Arbeiter:innenorganisationen eine Einheitsfront gegen die Krisenpolitik der Regierung und die Angriffe der Bosse zu bilden. Wir brauchen einen Kampfplan mit Notfallmaßnahmen zum Schutz gegen die Pandemie und ihre sozialen Verwerfungen, der aber zugleich der Vorbereitung der Verteidigung gegen die kommenden Angriffe auch nach der Pandemie dient. Deshalb reicht es nicht, formelle Abkommen zwischen großen Apparaten mit leeren Phrasen abzuschließen, sondern es geht um die Entwicklung der Mobilisierung und Selbstorganisierung der Arbeiter:innen, der Jugend und der Massen. Denn die bürokratischen Führungen der Gewerkschaften und der Linkspartei haben bisher vermieden, ihre Kräfte zu mobilisieren. Um das zu ändern, braucht es den Aufbau von breiten Basisstrukturen in den Betrieben, Schulen und Universitäten, die den Gewerkschaftsführungen und der Linkspartei einen solchen Kampfplan gegen die Krise aufzwingen können.

Gleichzeitig ist uns bewusst, dass die reformistischen Führungen alles daran setzen werden, eben dies zu verhindern. Um Arbeiter:innen, die heute noch Illusionen in den Reformismus haben, zum Bruch zu bewegen, ist es notwendig, ihnen konkret vor Augen zu führen, dass weder Linkspartei und SPD, noch die Gewerkschaftsbürokratie tatsächlich dazu in der Lage sind, eine Politik im Interesse der Arbeiter:innenklasse durchzusetzen. Gerade dazu ist es umso notwendiger, selber nicht das linke Feigenblatt eben jener Organisationen zu sein, sondern eine revolutionäre Alternative anbieten zu können.

In diesem Sinne sind wir zusammen mit anderen Gruppen Teil der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und setzen uns dort für eine Ausrichtung ein, die den Kampf gegen die reformistischen Führungen der Gewerkschaften – nicht in irgendwelchen Gremien, sondern in den Betrieben, Schulen, Unis und auf der Straße – in den Mittelpunkt stellt und die Grundlage für eine Einheitsfront gegen die Krisenpolitik von Regierung und Kapital bildet.

In diesem Kampf wollen wir damit auch in der Klärung von Übereinstimmungen voranschreiten, um eine revolutionäre Umgruppierung zu ermöglichen. Als Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO) machen wir es uns zur Aufgabe, mit unserer Zeitung Klasse Gegen Klasse und unserem neuen Klasse Gegen Klasse Magazin für den Aufbau einer solchen Einheitsfront und einer revolutionären Partei in Deutschland zu kämpfen. Diese Perspektive ist notwendigerweise auch mit dem Aufbau einer internationalen Partei der Revolution verbunden, für die wir als Teil der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale (FT-CI) kämpfen.

Wir laden alle Organisationen ein, darüber zu diskutieren, welche Schritte es zu einer revolutionären Vereinigung der trotzkistischen Linken mit einem Programm der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse in Deutschland und international braucht. Wir nehmen uns vor, den Trotzkismus in Deutschland aufzubauen, im Kampf für revolutionäre Fraktionen in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, gegen den deutschen Imperialismus und in der Perspektive einer internationalen sozialistischen Revolution entgegen der Irrwege des Stalinismus.

Fußnote

1 Mit Sozialdemokratie ist hier – noch 1899 – der revolutionäre Marxismus gemeint. Die Trennung der Sozialdemokratie in getrennte reformistische Parteien und revolutionäre, kommunistische Parteien findet erst einige Jahre später statt: Zuerst in Russland zwischen Menschewiki und Bolschewiki, dann in anderen Ländern im Zuge beziehungsweise in Folge des Ersten Weltkriegs.

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