Zur Aktualität des Übergangs­programms

20.08.2020, Lesezeit 9 Min.
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Vor 80 Jahren wurde der russische Revolutionär Leo Trotzki von einem stalinistischen Agenten kaltblütig ermordet. Zwei Jahre zuvor schrieb er das "Übergangsprogramm", um das marxistische Erbe vor der stalinistischen Degeneration und dem herannnahenden Zweiten Weltkrieg zu retten. Warum kann uns dieses Programm heute noch strategische Antworten auf die kapitalistische Krise geben?

Der folgende Text erschien am 21. August 2012 als Vorwort zur Neuausgabe des „Übergangsprogramms“ von Leo Trotzki. Damals haben wir von RIO einige zentrale Texte von Leo Trotzki in Broschürenform neu veröffentlicht. Seit 2012 hat sich die Einschätzung, dass wir in einer Epoche von „Krisen, Kriegen und Revolutionen“ leben, immer wieder neu bestätigt. Die Schlussfolgerungen, die wir im folgenden Text ziehen, haben heute, 80 Jahre nach der Ermordung Leo Trotzkis und am Beginn der möglicherweise größten Krise des Kapitalismus in seiner Geschichte, volle Gültigkeit. Die Rebellionen der vergangenen Monate zeigen in aller Deutlichkeit die Notwendigkeit des Wiederaufbaus der IV. Internationale auf.

Warum bringen wir das programmatische Manifest der IV. Internationale, „Die Todesagonie des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale“, fast 75 Jahre nach seinem Erscheinen neu heraus? Welche Bedeutung hat dieses Dokument, besser bekannt unter seinem Kurznamen „Übergangsprogramm“, heute noch als Handlungsanleitung für revolutionäre MarxistInnen?

Das Übergangsprogramm steht – kurz vor dem Zweiten Weltkrieg – am Ende einer Periode der verschärften Klassenauseinandersetzungen, die die Zeit seit Beginn des Ersten Weltkrieges, und insbesondere seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929, geprägt haben. Die Erfahrungen, die die weltweite ArbeiterInnenklasse seit der Oktoberrevolution 1917 machen konnte – proletarische Revolution in Russland, stalinistische Degeneration der Sowjetunion, revolutionäre Erfahrungen in der kolonisierten Welt mit der Chinesischen Revolution ab 1925, der Kampf gegen den Faschismus in mehreren europäischen Ländern – ermöglichten die historische und programmatische Erweiterung des Marxismus, wie es keine andere historische Periode vorher vermochte.

Dieses revolutionäre Erbe drohte jedoch mit der vollständigen Durchsetzung des Stalinismus – die bürokratische Reaktion auf der Grundlage der Revolution – und seiner physischen Vernichtungskampagne gegen die “alte Garde” der RevolutionärInnen; mit dem Aufstieg des Faschismus und der kompletten Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung in verschiedenen Ländern; und mit der unmittelbar bevorstehenden Gefahr des Zweiten Weltkrieges, welche Dutzenden Millionen von ArbeiterInnen und den besten Köpfen des revolutionären Marxismus das Leben kosten sollte, im Sog der Geschichte verloren zu gehen.

Vor diesem Hintergrund entschied sich die Bewegung für die IV. Internationale unter Führung von Leo Trotzki, einem der letzten Bolschewiki der Oktoberrevolution, für die Gründung der IV. Internationale, um das programmatische Erbe der ArbeiterInnenklasse vor der Vernichtung zu retten. Der Trotzki-Biograph Isaac Deutscher belächelte den Versuch, eine im damaligen Vergleich mit kaum mehr als 5.000 Mitgliedern verschwindend kleine internationale Organisation aufzubauen, doch die heranrückende Katastrophe erforderte die erneute Kristallisierung der Erfahrungen des revolutionären Marxismus, damit diese nicht zwischen Konzentrationslagern, Schauprozessen und Auftragsmorden verloren gehen würden.

Die historische Situation, in der das Übergangsprogramm verfasst wurde, ist die Epoche des Imperialismus, in der die gesellschaftlichen Widersprüche in Form von „Krisen, Kriegen und Revolutionen“ (Lenin) immer wieder auf die Spitze getrieben werden. In dieser Epoche der verschärften Widersprüche sind plötzliche Wendungen der Situation auf der Basis der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen möglich. Für die imperialistische Epoche ist es charakteristisch, dass „Übergangssituationen“ entstehen, die weder reine konterrevolutionäre noch reine revolutionäre Situationen sind, sondern eben Übergänge zwischen beiden bilden. Nach 30 Jahren des Nachkriegs-Booms und weiteren 30 Jahren der ”Bürgerlichen Restauration” zeigt uns die aktuelle Weltwirtschaftskrise seit 2007/8, deren momentanes Epizentrum die Krise der Eurozone ist, dass die Epoche des Imperialismus noch nicht vorbei ist.

Gleichzeitig mit der Verschärfung der objektiven Situation ist klar, dass das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse – nach drei Jahrzehnten bürgerlicher Restauration und der Durchsetzung der neoliberalen Parole “Es gibt keine Alternative” – sich auf einem deutlich niedrigeren Stand befindet als zu den Zeiten des Übergangsprogramms. Die von Trotzki konstatierte „Krise der proletarischen Führung“, die verhinderte, dass sich die Massen in Richtung der Revolution entwickeln konnten, vertiefte sich zu einer Krise der proletarischen Subjektivität, die über Jahrzehnte hinweg die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit des Kampfes in Frage stellte. Dies führte zu einem unglaublichen Verlust der akkumulierten Kampferfahrungen der ArbeiterInnenklasse. Doch dieser Prozess beginnt sich durch die aktuelle Weltwirtschaftskrise wieder umzukehren.

Langsam entwickeln sich wieder Erfahrungen des Kampfes, Erfahrungen der eigenen Stärke. Die eindrucksvollsten Beispiele davon sind der Arabische Frühling und die europäische Krise, insbesondere in Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. Die anfänglichen Kampferfahrungen zeigen das große Potential der ArbeiterInnenklasse und die Abschwächung der Bindungen an die traditionellen reformistischen Parteien – doch dies hat noch nicht zur Herausbildung einer tatsächlichen revolutionären Alternative geführt.

So konnte der Arabische Frühling, dessen fortgeschrittenste Ausprägung sich in Ägypten entwickelte, trotz massenhafter Proteste und Zusammenstößen mit dem Staatsapparat keine grundlegende Umwälzung der Gesellschaft durchsetzen. Die „Demokratisierung“ Mubarak-Ägyptens ist so schnell stecken geblieben, wie sie begonnen hatte, weil die halbkolonialen Eigentumsverhältnisse nicht angetastet wurden. In Griechenland, Spanien, Portugal, Italien usw. werden die ArbeiterInnen, Jugendlichen und armen Massen zerquetscht von den Sparprogrammen der von Angela Merkel geführten Troika. Das bedeutet Elend und massive materielle Verschlechterungen für die Mehrheit der Bevölkerung. In dieser Situation reichen selbst linksreformistische Perspektiven der Umwandlung der EU in Richtung eines „solidarischen Europa“ viel zu kurz, denn sie lassen die Produktionsverhältnisse unangetastet: Die einzige Alternative zur weiteren Verelendung der Massen besteht in der Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, was nur als Teil des Kampfes für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa durchgesetzt werden kann.

So unterschiedlich die Situationen in Ägypten und Europa sein mögen, so ähnlich ist doch ihre grundlegende Schwäche: Es gibt keine revolutionäre Partei, die die beginnenden Kampferfahrungen der Massen in Richtung der sozialistischen Revolution lenken könnte. Und so besteht die Gefahr, dass der sich formierende Widerstand nicht über das Stadium von vereinzelten Aktionen oder von eindrucksvollen, aber angesichts einer fehlenden Strategie ungefährlichen Machtdemonstrationen hinaus gelangt, und diese Aktionen wieder zu Apathie, Demoralisierung und somit zu reformistischen oder gar reaktionären Illusionen führen, wie wir es heute in Griechenland – und nicht nur dort – beobachten können, wo die FaschistInnen zu einem Anziehungspol für enttäuschte Sektoren werden.

Hieraus ergibt sich für uns von der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI) die Aktualität und Notwendigkeit des Übergangsprogramms. Denn die Charakteristik der Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen besteht darin, dass die Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche das Programm der sozialistischen Revolution zu einer absoluten Notwendigkeit für das Überleben der ArbeiterInnenbewegung macht. Gleichzeitig kommt das Bewusstsein der Massen in der aktuellen Situation aber kaum über ein defätistisches Minimalprogramm hinaus. An diesem Punkt will das Übergangsprogramm ansetzen. Es ist keine Zauberformel, welche auf jede konkrete Situation die passende konkrete Antwort hat. Das Übergangsprogramm ist aber ein programmatisches Manifest, dessen inhaltlicher Kern aber die Methode zur Vorbereitung der Massen auf die Machteroberung ist. Entscheidend sind hierbei zwei Punkte: Die Herausbildung eines revolutionären Massenbewusstseins und die Selbstorganisation der ArbeiterInnen, gipfelnd in einer revolutionären Partei der Avantgarde der Klasse.

Um aber ein revolutionäres Bewusstsein entwickeln zu können, muss die ArbeiterInnenklasse praktische Erfahrungen sammeln. Diese Erfahrungen in Kämpfen um Minimalforderungen können aber – durch die objektive Situation der kapitalistischen Krise – von einer revolutionären Kraft über sich hinaus getrieben werden, in dem die ArbeiterInnen sich unabhängig von allen Flügeln der Bourgeoisie und ihren bürokratischen AgentInnen in der ArbeiterInnenbewegung organisieren.

Wichtig hierbei ist vor allem, dass das Bewusstsein – ähnlich wie die objektive Situation – Übergangserscheinungen und Möglichkeiten für Sprünge und Brüche aufweist. In der Tat, der Kampf für den Sozialismus, verstanden als die “revolutionäre Diktatur des Proletariats” (Marx) und nicht eines verwässerten „demokratischen Sozialismus“ auf der Grundlage des Privateigentums, wie etwa von der Linkspartei propagiert wird, erfordert einen Bruch mit der herrschenden Logik und den herrschenden Institutionen. Dieser Bruch kann nur durch die Verbindung des revolutionären Ziels mit den Erfahrungen der Selbstorganisierung in den tagtäglichen Kämpfen vor sich gehen. Dies ist die Essenz des Übergangsprogramms.

Das Übergangsprogramm will – basierend auf der Überzeugung, dass die sozialistische Revolution nur durch die Mobilisierung der bewussten Massen funktionieren kann – die Elemente der Selbstorganisation der ArbeiterInnenklasse entwickeln, die letztlich in einem System der Sowjets (zu deutsch: Räte) gipfeln, die die Basis der Entstehung von Doppelmacht zum Sturz des bürgerlichen Staates sind. Wir von RIO und der FT-CI halten diese Elemente der Selbstorganisation für die fundamentale Voraussetzung der Wiedererlangung der proletarischen Subjektivität. Daher nennen wir unsere Vorstellung eine „sowjetische Strategie“:

Allerdings reicht die Selbstorganisation der Massen an sich nicht aus, da sie sich nicht notwendigerweise eine vereinheitlichte Strategie und ein revolutionäres Programm stützt. Die demokratische Selbstorganisation der Massen ist ein Ansatz zur Bekämpfung der jetzigen reformistischen Führung der ArbeiterInnenklasse, aber nur der Aufbau einer revolutionären Partei mit einer kohärenten Strategie der Machteroberung kann die revolutionäre Klasse zum Sieg führen. Daher versucht das Übergangsprogramm, nicht nur die Massen für Übergangsforderungen zu mobilisieren, sondern mittels dieser Forderungen die strategische Frage der Revolution auf die Tagesordnung zu setzen und eine revolutionäre Partei aufzubauen, die die gemachten Erfahrungen synthetisieren und mit der akkumulierten Erfahrung der Geschichte der ArbeiterInnenklasse verbinden kann. Dieser Kampf ist letztlich ein Kampf für den Sturz der alten klassenversöhnlerischen Führungen der ArbeiterInnenklasse und der Etablierung einer neuen, die von allen Flügeln der herrschenden Klasse unabhängig ist. Für diese neue revolutionäre Führung der weltweiten ArbeiterInnenklasse kämpfen wir.

Für den Wiederaufbau der IV. Internationale!

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