5 Antworten, die der Marxismus Leo Trotzkis heute auf die Krise geben kann

09.08.2020, Lesezeit 20 Min.
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Wir stehen am Beginn der schärfsten Weltwirtschaftskrise seit den 1930er Jahren. Die Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen lebt wieder auf. Hier sind fünf Antworten, die der Marxismus Leo Trotzkis uns angesichts dieser Situation anbieten kann, auch 80 Jahre nach seiner Ermordung. #80JahreTrotzki #TrotzkismusHeute

Vor 80 Jahren, im August 1940, wurde Leo Trotzki in seinem mexikanischen Exil von einem stalinistischen Agenten ermordet. Zuvor hatte er sich mehr als 15 Jahre gegen den Prozess der Bürokratisierung in der Sowjetunion und gegen die Politik der stalinisierten Kommunistischen Parteien gewehrt. Er wollte das revolutionäre internationalistische Erbe der russischen Oktoberrevolution verteidigen und angesichts der großen Krisen der 1920er und 1930er Jahre, die schließlich in einen neuen Weltkrieg münden sollten, eine revolutionäre Alternative anbieten.

Heute, 80 Jahre nach seinem Tod, steht die Welt erneut am Beginn einer tiefgründigen Krise: Millionen neue Arbeitslose, hunderttausende Tote aufgrund der Covid19-Pandemie, drastische Einbrüche der Weltwirtschaft, verschärfte Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten und der Aufstieg rechter Krisenlösungen. Doch ebenso gewaltsame Rebellionen nicht nur in halbkolonialen Ländern von Ecuador bis Iran, sondern auch in imperialistischen Zentren wie den USA. Kurzum: Wir kommen wieder in eine Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen. Und der Marxismus Leo Trotzkis kann uns auch heute dringend benötigte Antworten geben, damit nicht erneut zig Millionen von Arbeiter*innnen weltweit die kapitalistische Krise mit ihrem Leben bezahlen müssen.

1. Die Arbeiter*innen halten die Welt am Laufen – und können sie auch lahmlegen

Die erste Antwort, die uns Leo Trotzki in der aktuellen Situation geben kann, ist vor allem ein Abbild der Realität selbst: Die Coronavirus-Pandemie hat aufgezeigt, welch zentrale – lebensnotwendige – Rolle die Arbeiter*innenklasse in der Aufrechterhaltung der gesamten Gesellschaft spielt: Ohne die Millionen Arbeiter*innen „an vorderster Front“ – viele von ihnen Frauen und Migrant*innen – in den Krankenhäusern, den Lieferketten, den essentiellen Produktionssektoren und Dienstleistungen kommt jede Gesellschaft zum Erliegen. Während bürgerliche und postmoderne Ideologien im Neoliberalismus vom „Ende der Arbeiter*innenklasse“ sprachen, hat die Krise diese neoliberale Mär objektiv zerstört.

Doch Leo Trotzki wusste, dass die objektiven Bedingungen allein nicht ausreichen. 1938 – am Vorabend des Zweiten Weltkriegs – formulierte er im Übergangsprogramm den Widerspruch zwischen der objektiven Krise und der Antwort derjenigen Klasse, die als einzige einen progressiven Ausweg aus der Krise anbieten könnte: dem Proletariat. Er schrieb: „Die weltpolitische Lage in ihrer Gesamtheit ist vor allem gekennzeichnet durch die historische Krise der Führung des Proletariats.“ Und weiter: „Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind nicht nur schon „reif“, sie haben sogar bereits zu verfaulen begonnen. Ohne sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht der ganzen menschlichen Kultur eine Katastrophe. Alles hängt vom Proletariat ab, d.h. in erster Linie von seiner revolutionären Vorhut. Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung.“

Auch wenn wir heute noch nicht unmittelbar vor einem neuen Weltkrieg stehen wie damals, als Trotzki diese Zeilen schrieb, könnten sie angesichts der sich verschlimmernden Klimakatastrophe, die schon jetzt jedes Jahr Millionen von Menschen ihre Lebensgrundlage entzieht, und der sich ausbreitenden kombinierten Krise aus Pandemie und Wirtschaftskrise, kaum aktueller sein. Die Bourgeoisie beweist in diesen Tagen ein ums andere Mal, dass ihr kurzfristige Profitinteressen unendlich viel wichtiger sind als Menschenleben: Arbeiter*innen werden wie bei Tönnies dazu gezwungen, für Hungerlöhne ihre Gesundheit in Kauf zu nehmen, andere werden wie bei Galeria Karstadt Kaufhof oder der Lufthansa entlassen, während die Bosse Millionen an Staatshilfen kassieren. Währenddessen läuft die Zerstörung unseres Planeten durch Bergbauunternehmen, Automobil- und Rüstungsindustrie ungestört weiter und zeigt, dass der Kapitalismus völlig unfähig dazu ist, selbst minimale Maßnahmen zum Umweltschutz durchzusetzen. Ob wir diese Krise überwinden, d.h. ob wir die Bourgeoisie bezwingen oder stattdessen zulassen, dass sie den Planeten zerstört, hängt von der Fähigkeit des Proletariats ab, diesen Kampf anzuführen. Die Grundzüge des dafür notwendigen Programms sind im „Übergangsprogramm“ angelegt.

Mehr als je zuvor stehen wir jedoch heute vor dem erwähnten Widerspruch: Während die Arbeiter*innenklasse zahlenmäßig größer ist als jemals in der Weltgeschichte und während die Krise ihre zentrale gesellschaftliche Rolle in Produktion und Reproduktion offenbart hat, ist sie heute noch mehr als zu Zeiten Trotzkis zersplittert. Selbst in den Aufständen der vergangenen Jahre von Chile bis Frankreich und auch heute in den USA sind viele Arbeiter*innen zwar auf der Straße – jedoch vereinzelt, als Individuen und „Staatsbürger*innen“, nicht als organisierte Klasse. Eine zentrale Aufgabe von Revolutionär*innen heute ist es deshalb, diese Vereinzelung, diese Zersplitterung zu überwinden und dazu beizutragen, dass die Arbeiter*innenklasse ihre Macht als Klasse zurückerobert. Denn vereint hält sie nicht nur die Welt am Laufen – sie kann sie auch vollständig lahmlegen.

2. Der Aufstieg der Rechten kann gestoppt werden

Wie in den 20er und 30er Jahren entstehen auch heute alte und neue rechte Phänomene, die mit ihren reaktionären Krisenlösungen Nationalismus, Rassismus, Sexismus und LGBTIQ-Feindlichkeit schüren. Damals wie heute sind sie keine Randerscheinungen, sondern in den schärfsten Krisenmomenten der bürgerlichen Regime stützt sich das Kapital – wenn auch zähneknirschend – auf diese Kräfte, um seine Macht zu erhalten. In „Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats“ von 1932 formulierte Trotzki: „Für die monopolistische Bourgeoisie stellen parlamentarisches und faschistisches System bloß verschiedene Werkzeuge ihrer Herrschaft dar: sie nimmt zu diesem oder jenem Zuflucht in Abhängigkeit von den historischen Bedingungen.“ Noch sind die Bedingungen nicht so weit, dass die Bourgeoisie offen faschistische Diktaturen tolerieren würde, doch rechte bonapartistische Regierungen wie Trump in den USA oder Bolsonaro in Brasilien, sowie die Blindheit der Regierung gegenüber dem rechten Terror in Hanau, dem NSU 2.0 etc. weisen den Weg.

Um den Aufstieg der Rechten zu stoppen, muss die Arbeiter*innenklasse den Kampf aufnehmen. Ein zentraler Kampf Trotzkis in den 1930er Jahren galt sich dieser Aufgabe: Der Faschismus hätte besiegt werden können, sowohl in Deutschland als auch in Spanien und vorher in Italien. Für Trotzki gab es dafür ein zentrales Rezept: „Man muß der Sozialdemokratie den Block gegen die Faschisten aufzwingen“. Nicht als Unterstützung eines „geringeren Übels“ im Parlament, sondern als militanten Kampf in den Betrieben und auf der Straße. Dazu schlug Trotzki die Taktik der Arbeiter*innen-Einheitsfront vor: „Getrennt marschieren, vereint schlagen!“ Die Selbstverteidigung der Arbeiter*innenorganisationen und der Massen organisieren, und im Kampf aufzeigen, dass nur das Programm der Revolution den Faschismus aufhalten kann, während parlamentarischer Reformismus im Kampf der Kräfte zum Scheitern verurteilt ist. Dies war eine unerlässliche Taktik, um den Einfluss der Revolutionär*innen in der Arbeiter*innenklasse zu vergrößern, in der die auf Reform des Kapitalismus abzielenden Sozialdemokratien die stärksten Kräfte darstellten.

Doch die stalinisierten Kommunistischen Parteien und die stalinisierte Kommunistische Internationale selbst erklärten die Sozialdemokratie für „sozialfaschistisch“ und verneinten jede mögliche Zusammenarbeit (wie in Deutschland bis 1933), bevor sie mit der Volksfront in der Spanischen Revolution einen Pakt mit der Bourgeoisie schlossen und selbst die revolutionären Kräfte im Bürger*innenkrieg gegen den Franco-Faschismus ermordeten.

Dass der bürgerliche Staat und die Bourgeoisie im Notfall auf faschistische Kräfte setzt, ist auch heute in Anzeichen sichtbar: Rechtsextreme Kräfte in Polizei, Verfassungsschutz und Bundeswehr haben weitgehende Narrenfreiheit, und faschistischer und rassistischer Terror auf der Straße flankiert die Verschärfung der Sicherheitsapparate. Währenddessen legitimieren reformistische Parteien an der Regierung ein ums andere Mal die Repression gegen Linke und Migrant*innen und sind das Feigenblatt für die antisoziale Politik der Regierungen und die Angriffe der Bosse.

Dass AfD, „Coronaleugner“ und Co. die Pandemie für ihren Aufstieg nutzen, ist vor allem die Verantwortung dieser reformistischen Führungen, die sich weigern, ein soziales Programm gegen die Krise aufzustellen. Sollten sich die Klassengegensätze im Zuge der Krise verschärfen, werden rechte Kräfte weiter Auftrieb bekommen. Nur der Kampf der Arbeiter*innenklasse – im Bündnis mit allen Ausgebeuteten und Unterdrückten – gegen die Auswirkungen der Krise und auf der Straße gegen Regierung, Kapital und rechte Kräfte kann einen Ausweg bieten – wenn wir ihn den reformistischen Organisationen aufzwingen.

3. Wir müssen den Kampf gegen die reformistische Bürokratie führen

Die Geschichte des Verrats sozialdemokratischer Parteien an den Interessen der Arbeiter*innenklasse ist zu lang für jede Aufzählung. Doch immer noch sind die organisierten Teile der Arbeiter*innenklasse unter sozialpartnerschaftlich-reformistischer Führung, in Deutschland auf der politischen Ebene in der Form von SPD und Linken und in den Gewerkschaften mit der Führung des DGB, die seit Jahren den Widerstand gegen Kürzungen und Entlassungen im Keim ersticken.

Ohne diese Führungen zu konfrontieren und im Kampf eine alternative Führung der Arbeiter*innenklasse und der Massen aufzubauen, ist eine Überwindung des Kapitalismus undenkbar. Die von Trotzki konstatierte „Krise der revolutionären Führung“ hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund immer neuer Verrate und Niederlagen zu einer Krise der Subjektivität des Proletariats als Klasse ausgeweitet. Dass die Coronavirus-Pandemie diese Krise herausfordert, haben wir oben schon beschrieben. Doch die Wiedereroberung der revolutionären Subjektivität der Arbeiter*innenklasse ist nicht nur eine ideologische Aufgabe, sondern bedeutet vor allem den Kampf gegen die bürokratischen und reformistischen Führungen. Denn es sind eben die Gewerkschaftsbürokratien und die reformistischen Parteien, die in dieser Krise die Illusion schüren, dass die sozialpartnerschaftliche Vermittlung zur Regierung und den Bossen den Ausweg anbietet. So macht die SPD in der Bundesregierung beispielsweise Milliarden für Unternehmen locker, während prekäre Arbeiter*innen leer ausgehen. Die Linkspartei macht, wo sie in der Regierung ist, fleißig mit, und die Gewerkschaften weigern sich, zu massiven Streiks aufzurufen. Die Bürokratie ist heute – vor allem in den imperialistischen Ländern, aber auch in den Halbkolonien – zu großen Teilen in den Staatsapparat integriert.

1940 schrieb Trotzki, kurz bevor er ermordet wurde: „Die Gewerkschaftsbürokratie sieht ihre Hauptaufgabe darin, den Staat aus der Umklammerung des Kapitalismus zu „befreien“, seine Abhängigkeit von den Trusts zu mildern und ihn auf ihre Seite zu ziehen. Diese Einstellung entspricht vollkommen der sozialen Lage der Arbeiteraristokratie und Arbeiterbürokratie, die beide um einen Abfallbrocken aus den Überprofiten des imperialistischen Kapitalismus kämpfen. Die Gewerkschaftsbürokraten leisten in Wort und Tat ihr Bestes, um dem „demokratischen“ Staat zu beweisen, wie verläßlich und unentbehrlich sie im Frieden und besonders im Kriege sind.“

Deshalb stellt Trotzki die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bürokratien in den Gewerkschaften und auf politischer Ebene gegen die reformistischen Parteien – mittels der Methode der Einheitsfront – in den Mittelpunkt. Demgegenüber erteilt er jeder Enthaltung aus diesem Kampf eine Absage:

„Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, aus dem eben Ausgeführten den Schluß zu ziehen, daß die Gewerkschaften in der imperialistischen Epoche aufhören, Gewerkschaften zu sein.

Sie lassen kaum Raum für Arbeiterdemokratie, welche in der „guten alten Zeit“, als in der Wirtschaft der freie Handel herrschte, den Inhalt des inneren Lebens der Arbeiterorganisationen darstellte. Wo keine Arbeiterdemokratie vorhanden ist, kann von einem freien Kampf um die Beeinflussung der Mitglieder keine Rede sein.“

Diese Aussage trifft auch heute noch zu: in den Gewerkschaften kann von Demokratie keine Rede sein, anstatt dass die Arbeiter*innen selbst über ihre Streiktage und Verhandlungen entscheiden bestimmt eine Kaste von hauptamtlichen Bürokrat*innen, die selbst keine Arbeiter*innen mehr sind (oder dies nie waren) über die Ausgänge der Arbeitskämpfe.

Man könne so zur Schlussfolgerung kommen, dass „ das Hauptarbeitsgebiet für Revolutionäre innerhalb der Gewerkschaften daher verschwindet“. Doch Trotzki wandte sich entschieden dagegen:

„Eine solche Stellungnahme wäre jedoch grundfalsch. Wir können weder das Feld, noch die Bedingungen für unsere Arbeit nach unseren Wünschen wählen. In einem totalitären oder halbtotalitären Staate ist es unendlich schwerer, um den Einfluß über die Arbeitermassen zu kämpfen, als in einer Demokratie. Dasselbe gilt für die Gewerkschaften, deren Entwicklung den Wechsel im Schicksal der kapitalistischen Staaten widerspiegelt. Wir können den Kampf um die Beeinflussung der Arbeiter in Deutschland nicht aufgeben, bloß weil das totalitäre Regime eine solche Arbeit ungeheuer erschwert. Wir können in genau der gleichen Weise nicht auf den Kampf innerhalb der vom Faschismus geschaffenen Zwangsorganisationen verzichten. Umso weniger können wir die systematische Arbeit innerhalb der Gewerkschaften totalitären oder halbtotalitären Charakters aufgeben, bloß weil sie direkt oder indirekt vom Staate abhängen oder weil die Bürokratie den Revolutionären die Möglichkeit freier Arbeit innerhalb der Gewerkschaften raubt. Es ist notwendig, den Kampf unter all den konkreten Bedingungen zu führen, die durch die vorhergehende Entwicklung geschaffen wurden, in sie eingeschlossen die Fehler der Arbeiter und die Verbrechen ihrer Führer.“

Die Alternative ist klar: „Die Gewerkschaften unserer Zeit können entweder als Hilfsinstrumente des imperialistischen Kapitalismus dienen, um die Arbeiter unterzuordnen, sie zu disziplinieren und die Revolution zu verhindern, oder sie können im Gegenteil die Instrumente der revolutionären Bewegung des Proletariats werden.“

Damit Zweiteres eintritt, kämpfen Trotzkist*innen innerhalb der Gewerkschaften für die Rückeroberung dieser aus den Händen der Bürokratie. Dies bedeutet jedoch mehr, als nur für Betriebsversammlungen bei Streiks einzutreten. Die bürokratisierten Gewerkschaften schaffen durch die Trennung von gewerkschaftlichen und sozialen Trennung eine künstliche Spaltung, die dazu führt, dass viele prekäre und unterdrückte Arbeiter*innen sich von den Gewerkschaften abwenden. Eine Rückeroberung der Gewerkschaften in die Hände der Arbeiter*innen bedeutet daher auch, dafür einzutreten, dass sie ein Programm für die untersten Schichten der Klasse aufstellen, wie Trotzki beispielsweise in seinem antirassistischen Programm für die südafrikanische Arbeiter*innenbewegung darstellte.

4. Gegen den Stalinismus müssen wir unsere Vision des Sozialismus zurückerobern

In seinem Testament schreibt Trotzki: „Dreiundvierzig Jahre meines bewußten Lebens bin ich Revolutionär gewesen; zweiundvierzig Jahre habe ich unter dem Banner des Marxismus gekämpft.“ Und in den letzten 17 Jahren seines Lebens bekämpfte er die Entartung der sozialistischen Revolution durch die stalinistische Bürokratie, die ihn schließlich 1940 ermordete. Mit 26 Jahren war Trotzki Vorsitzender des Petersburger Sowjets von 1905 und im selben Jahr forderte er die sozialdemokratische Führungen der internationalen Arbeiter*innenklasse heraus: „Muss die Diktatur des Proletariats zwangsläufig an den Schranken der bürgerlichen Revolution zerbrechen, oder kann sie unter den gegebenen weltgeschichtlichen Bedingungen die Perspektive eines Sieges entdecken, nachdem sie diesen beschränkten Rahmen gesprengt hat?“

Trotzki war eindeutig für die zweite Variante. Sein Verständnis von Sozialismus war weder bürokratisch noch nationalborniert. Die Einzigartigkeit an der Oktoberrevolution bestand an der Verwirklichung des revolutionären Grundsatzes, den kapitalistischen Staatsapparat mit Räten (Sowjets) zu zerschlagen und die Führung der Arbeiter*innenklasse als Motor der gesellschaftlichen Veränderung herzustellen. So nahm die Revolution von 1917 die Erfahrungen des Petersburger Sowjets von 1905 auf, den die Arbeiter*innenbewegung durch einen politischen Generalstreik konstituierte.

Der Stalinismus drehte in der Sowjetunion viele Errungenschaften der Oktoberrevolution zurück: Er entmachtete die Räte und die demokratischen Strukturen in den Betrieben, er nahm erkämpfte demokratische Rechte für Frauen und LGBTI-Personen zurück, er setzte die alten bürgerlichen Familiennormen wieder ein, er schuf sich enorme Privilegien und vergrößerte so die soziale Ungleichheit, die die Revolution einstampfen wollte. Und auf internationalem Parkett bremste er den Fortschritt proletarischer Revolutionen, ermöglichte den Aufstieg des Faschismus und paktierte mit der Bourgeoisie, theoretisch untermauert mit der reaktionären Vorstellung des „Sozialismus in einem Land“. All diejenigen, die sich als Revolutionär*innen oppositionell zur stalinistischen Bürokratie organisierten – sowohl zu Zeiten Stalins selbst als auch in den verschiedenen bürokratisch deformierten Arbeiter*innenstaaten des „real existierenden Sozialismus“ wie in der DDR –, wurden aus den Kommunistischen Parteien ausgeschlossen, verfolgt, verhaftet, exiliert und ermordet.

Dennoch kämpfte Trotzki – wie so viele andere Mitstreiter*innen – bis zu seinem Tode für die Überwindung der stalinistischen Bürokratie und den Sozialismus. Entgegen der bürgerlichen Propaganda, die bis heute Stalinismus und Sozialismus (oder gar Kommunismus) gleichsetzt, erheben wir mit Trotzki das Banner der proletarischen Demokratie und des internationalen Sozialismus. Entgegen der auch in der Linken vorherrschenden Einstellung, dass aus dem Bolschewismus automatisch der Stalinismus hervorgeht, verteidigen wir mit Trotzki die Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären Partei. In seiner Schrift „Bolschewismus und Stalinismus“ von 1937 erklärte er: „Natürlich ist der Stalinismus aus dem Bolschewismus „erwachsen“, aber nicht logisch erwachsen, sondern dialektisch: nicht als revolutionäre Bejahung, sondern als thermidorianische1 Verneinung. Das ist durchaus nicht ein und dasselbe.“

In den vergangenen Jahren haben neue Generationen von Jugendlichen weltweit den Sozialismus für sich wieder entdeckt, wenn auch ohne große Vorstellung davon, was genau sich dahinter verbirgt. Ihnen ist klar, dass der Kapitalismus für sie keine Zukunft bietet. Damit die Jugend diese Perspektive vollständig als ihr Banner aufnehmen kann, ist es notwendig, sie von ihrer „thermidorianischen Verneinung“ des Stalinismus zu befreien: Unser Sozialismus ist kein Sozialismus der nationalen Inseln, kein Sozialismus der bürokratischen Privilegien und der polizeilichen Diktatur, kein Sozialismus verknöcherter patriarchaler Moral, sondern ein Sozialismus der breitestmöglichen proletarischen Rätedemokratie und der revolutionären Überwindung aller Formen von Ausbeutung und Unterdrückung.

5. Die Revolution ist international – und die Zukunft ist der Kommunismus

In der „Kopenhagener Rede“ von 1932 erklärte Trotzki: „Die heutigen Produktionskräfte sind längst über die nationalen Schranken hinausgewachsen. Die sozialistische Gesellschaft ist in nationalen Grenzen undurchführbar. Wie bedeutend die Wirtschaftserfolge eines isolierten Arbeiterstaates auch sein mögen, das Programm des ‚Sozialismus in einem Lande‘ ist eine kleinbürgerliche Utopie. Nur eine europäische und sodann eine Weltföderation sozialistischer Republiken kann die wirkliche Arena für eine harmonische sozialistische Gesellschaft abgeben.“

Fast 90 Jahre später könnten diese Worte nicht wahrer sein: Die Coronavirus-Pandemie hat das wahre Ausmaß der Globalisierung der kapitalistischen Wertschöpfungsketten aufgezeigt. Unsere Antwort darauf kann nicht die reaktionäre Utopie der Rückkehr zum Nationalstaat sein, sondern nur die internationale Revolution. Die Arbeiter*innenklasse hat gezeigt, dass sie die gesamte Welt am Laufen hält – der proletarische Internationalismus ist der einzige Ausweg aus der kapitalistischen Barbarei.

Mit der „Theorie der permanenten Revolution“ hat Trotzki den Grundstein für diese strategische Vision gelegt: „Der Abschluß einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Eine grundlegende Ursache für die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, daß die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluß nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.“

Deshalb kämpfen wir für den Wiederaufbau der IV. Internationale, die Trotzki ursprünglich 1938 gegründet hat. Denn unsere Vision ist nicht, uns mit der utopischen Vorstellung eines „geringeren Übels“ zu begnügen. Der Kampf für den Aufbau einer Weltpartei der Revolution ist nur ein Schritt in unserem Kampf für die einzige Zukunft, die uns das Überleben auf diesem Planeten garantieren kann: den Kommunismus. Wir teilen dieselbe Vision, die Trotzki in seinem Testament niederschrieb: „Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen.“

1 Trotzki benutze den Begriff „Thermidor“ in Bezugnahme auf den Staatsstreich in Frankreich von 1794 und die Verfassung von 1795, um zu beschreiben, wie „die Reaktion auf dem gesellschaftlichen Fundament der Revolution“ entstand. So versuchte er die Bürokratisierung des Arbeiter*innenstaates unter Stalin und bürokratischer Kaste zu erklären.

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