Was ist Bonapartismus?

23.05.2012, Lesezeit 6 Min.
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Frage:

In eurer letzten Ausgabe war von „Bonapartismus“ die Rede. Was bedeutet das?

Antwort:

Die historisch-materialistische Theorie von Karl Marx geht davon aus, dass der Staat ein Instrument jener Klasse ist, die die Produktionsmittel besitzt, um andere Klassen niederzuhalten. Doch in bestimmten Ausnahmesituationen entstehen Gesellschaftsformationen, „wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält“[1], wie Marx’ Mitstreiter Friedrich Engels es formulierte. Das berühmteste Beispiel hierfür war das Kaiserreich von Napoleon III. zwischen 1852 und 1870.

Die Zweite Französische Republik entstand nach der Februarrevolution von 1848. Bereits im Dezember desselben Jahres wurde der Neffe von Napoleon Bonaparte, Louis Bonaparte, zum Präsidenten gewählt. 1851 ließ er sich mittels eines Staatsstreichs mit diktatorischen Vollmachten ausstatten und ein Jahr später krönte er sich zum Kaiser. Marx analysierte diese Bewegungen 1852 in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“. Er erklärte, wie es dazu kam, dass die französische Bourgeoisie ihre eigene parlamentarische Vertretung zugunsten eines Diktators auflösen ließ, über den sie keine unmittelbare Kontrolle ausüben konnte. In dieser Situation schien „sich der Staat völlig verselbständigt zu haben“[2]. Doch der Staat war nicht losgelöst von der Gesellschaft: Die Exekutive stützte sich auf einen starken Staatsapparat, der als Schiedsrichter zwischen den Klassen fungieren konnte, und auf die kleinbürgerlichen Parzellenbauern/-bäuerinnen, die trotz ihrer Vereinzelung und ihrer daraus resultierenden politischen Bedeutungslosigkeit die große Masse der französischen Nation ausmachten.

Das bonapartistische Regime konnte entstehen, weil sich die Bourgeoisie in einer kritischen und innerlich zerstritten Lage befand. Sie brauchte einen „starken Mann“, um ihre internen Konflikte zu schlichten und ihre wirtschaftliche Macht vor anderen Klassen zu schützen: Die Bourgeoisie sah ein, dass „um ihre gesellschaftliche Macht unversehrt zu erhalten, ihre politische Macht gebrochen werden müsse; (…) daß, um ihren Beutel zu retten, die Krone ihr abgeschlagen (…) werden müsse.“[3] Dabei verteidigte und förderte dieses Regime bürgerliche Besitz- und Produktionsverhältnisse, womit es weiterhin als ein bürgerlicher Staat zu betrachten war und die Etablierung eines „normalen“ bürgerlichen Regimes zu einem späteren Zeitpunkt vorbereitete[4]. Für Marx war auch der Bonapartismus Ausdruck der Unfähigkeit der ArbeiterInnenklasse, selbst die politische Macht zu übernehmen: Es gab eine Situation, „wo die Bourgeoisie die Fähigkeit, die Nation zu beherrschen, schon verloren und wo die Arbeiterklasse diese Fähigkeit noch nicht erworben hatte.“[5]

Leo Trotzki analysierte die Regierungen der Weimarer Republik, die dem Faschismus vorangingen (Brüning, von Papen und von Schleicher), als bonapartistisch, weil der sich zuspitzende Kampf zwischen den Klassen eine solche Spannung erreichte, dass diese mittels ihrer Notverordnungen „die Bedingungen für Herrschaft von Bürokratie, Polizei, Soldateska“[6] schufen und die Exekutive sich verselbständigte. Trotzki ergänzt aber auch, dass sich der Faschismus an der Macht zunehmend weniger auf seine soziale Basis im Kleinbürgertum und mehr auf den Staatsapparat stützt, was ihm ebenfalls einen bonapartistischen Charakter verleiht[7]. Schließlich verwendete er die Kategorie auch zur Analyse des Stalinismus, da die Sowjetbürokratie zwischen der ArbeiterInnenklasse, den Bauern/Bäuerinnen und dem Weltimperialismus balancierte[8].

Im mexikanischen Exil entwickelte er eine theoretische Analyse des dortigen Cárdenas-Regimes und besonders der Verstaatlichung des mexikanischen Öls im Jahr 1938 und die darauffolgenden Versuche der Regierung, die Gewerkschaften in die Verwaltung der staatlichen Unternehmen einzubinden[9]. Nach der Analyse von Trotzki balanciert ein bonapartistisches Regime in einem entwickelten kapitalistischen Land zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat als den beiden Hauptklassen. Doch in den kolonialen und halbkolonialen Ländern existiert ein weiterer gesellschaftlicher Pol: die imperialistische Bourgeoisie, die den Großteil der Produktionsmittel besitzt und damit die Entwicklung einer einheimischen KapitalistInnenklasse verhindert:

„In den industriell rückständigen Ländern spielt ausländisches Kapital eine entscheidende Rolle. Das ist der Grund für die relative Schwäche der nationalen Bourgeoisie im Verhältnis zum nationalen Proletariat. (…) Die Regierung schwankt zwischen ausländischem und einheimischem Kapital, zwischen der schwachen nationalen Bourgeoisie und dem relativ starken Proletariat. Dies gibt der Regierung einen bonapartistischen Charakter sui generis, einer besonderen Art. Sie erhebt sich, sozusagen, über die Klassen.“[10]

Aus dieser Lage heraus kann sich die Regierung zum Statthalter des imperialistischen Kapitals machen, etwa in Form einer repressiven Militärdiktatur, oder sie kann die ArbeiterInnenklasse mittels Zugeständnissen auf ihre Seite ziehen, um einen gewissen Spielraum gegenüber dem imperialistischen Kapital zu gewinnen. Trotzki sah im Cárdenas-Regime die zweite Variante, die ihre höchste Form in der Verstaatlichung der Eisenbahn und des Öls im Jahr 1938 erreichte. Die aktive Unterstützung der ArbeiterInnenklasse brauchte Cárdenas, um imperialistisches Kapital aus diesen Bereichen zurückzudrängen.

Trotzki verneinte die Möglichkeit, dass solche Verstaatlichungen durch einen kapitalistischen Staat zum Sozialismus führen könnten – das wäre nur durch eine Revolution der ArbeiterInnenklasse mit Unterstützung der Bauernschaft möglich. In den Verstaatlichungen sah er sowohl die Gefahr, dass die GewerkschaftsführerInnen als „administrative Agenten“ vom bürgerlichen Regime kooptiert werden könnten, wie auch die Möglichkeit, dass revolutionäre ArbeiterInnen diese „Aktivitätssphäre“ für einen Angriff gegen den bürgerlichen Staat verwenden könnten[11]. Für ihn war der einzige Schutz gegen eine Vereinnahmunsgefahr der Aufbau einer marxistischen ArbeiterInnenpartei.

Die Bonapartismustheorie ist nützlich, um verschiedenste politische Phänomene zu analysieren: vom stalinistischen System auf Kuba unter Castro über das „bolivarianische“ Regime in Venezuela unter Chávez bis hin zu den „technokratischen“ Regierungen in Griechenland und Italien unter Papademos und Monti[12].

[1]. Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. 1884. Kapitel 9.

[2]. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 1852. Vorwort zur Zweiten Ausgabe.

[3]. Ebd.: Kapitel 4.

[4]. „indem er [Louis Bonaparte] ihre materiale Macht beschützt, erzeugt er von neuem ihre politische Macht‘.“ In: Ebd.: Kapitel 7.

[5]. Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich. 1871. Kapitel 3.

[6]. Leo Trotzki: Der einzige Weg. 1932. Kapitel 1.

[7]. Leo Trotzki: Bonapartism and Fascism. 1934.

[8]. Leo Trotzki: The Workers’ State, Thermidor and Bonapartism. 1935.

[9]. Leo Trotzki: Nationalized Industry and Workers’ Management. 1939.

[10]. Ebd. Eigene Übersetzung.

[11]. Ebd.

[12]. Juan Chingo: Ein neuer bonapartistischer Kurs in Europa. In: Klasse Gegen Klasse Nr. 2.

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