Warum Linke keinen Wahlkampf für Wagenknecht und Bartsch machen sollten

05.08.2017, Lesezeit 10 Min.
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In zwei Monaten wird der Bundestag neu gewählt. Anstatt Wahlkampf für eine Linkspartei zu machen, die um jeden Preis regieren will, sollten revolutionäre Sozialist*innen unabhängig auftreten. (Dieser Debattenbeitrag erscheint gleichzeitig auf Klasse Gegen Klasse und Die Freiheitsliebe. Eine Antwort von Jules El-Khatib wird ebenfalls auf beiden Seiten veröffentlicht.)

„Friede! Freude! Eierkuchen!“ Es ist ein Wunder, dass die Linkspartei auf diesen einprägsamen Wahlspruch verzichtete. Dafür wählte sie ähnlich inhaltslose Schlagwörter für den Urnengang am 24. September: „Kinder! Zuhause! Respekt!“

Viele Mitglieder der Linkspartei werden sich bei der bemerkenswert langweiligen Präsentation der Wahlkampagne geärgert haben. Die Agentur DiG/Trialon kassierte eine Menge Geld für diese furchtbaren Motive – dabei könnte fast jedes beliebige Parteimitglied bessere Designs entwerfen. Tatsächlich kamen bei einem Plakatwettbewerb über 700 Vorschläge zusammen, doch die Parteispitze scherte sich nicht darum.

Wären die Plakate das einzige Problem mit diesem Wahlkampf… Aber dann gibt es noch die Spizenkandidat*innen Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch. Wagenknecht ist berüchtigt für ihre Hetze gegen Geflüchtete – und nun auch gegen Anti-G20-Demonstrant*innen. Bartsch dagegen sagt alles, was für seinen Eintritt in eine Regierung mit der SPD und den Grünen hilfreich sein könnte – andere politische Prinzipien hat er nicht. Auch wenn sie sich im Ton unterscheiden, so lassen beide keinen Zweifel daran, dass sie lieber gestern als heute an Minister*innensessel gelangen wollen.

Eine Regierungspartei auf Abruf

Sind diese Kandidat*innen repräsentativ für die Partei? Na klar. Nicht nur, dass sie von der Linkspartei als oberste Vertreter*innen der Bundestagsfraktion ausgesucht wurden. Die große Mehrheit der Linkspartei ist auf Regierungsbeteiligung ausgerichtet. Momentan sitzt die Linkspartei in Berlin, Brandenburg und Thüringen an Landesregierungen – und überall ist sie verantwortlich für Kürzungen, Privatisierungen, Repression und Abschiebungen.

Ein aktuelles Beispiel hierfür ist der Arbeitskampf der Service-Beschäftigten an den Berliner Krankenhäusern. Sie sind bei outgesourcten Tochterunternehmen CFM und VSG eingestellt und verdienen nur Niedriglöhne. Die Linkspartei war 2006 für das Outsourcing mitverantwortlich, und auch heute verteidigt der Berliner Linkspartei-Chef Klaus Lederer weiter diesen Sparwahn. Währenddessen werden die Arbeiter*innen trotz aller leerer Versprechen immer ungeduldiger.

Kurzum: Es gibt keinerlei Vorteile für die Ausgebeuteten und Unterdrückten, wenn die Linkspartei in der Regierung sitzt. Der Genosse Jules von der Freiheitsliebe hat dies in einer guten Übersicht über die „Errungenschaften“ derartiger Regierungen aufgezeigt.

Bei den kürzlichen Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg hatte die Linkspartei ebenfalls eine mehr als ambivalente Rolle: Während Jan van Aken die Großdemonstration am Samstag angemeldet hat und sicherlich tausende Parteimitglieder vor Ort waren, hat Wagenknecht die Polizeigewalt verteidigt. Die Linkspartei in Mecklenburg-Vorpommern stellte im Landesparlament sogar einen entsprechenden Dringlichkeitsantrag.

Aber ist das ein Problem der Landesverbände in Ostdeutschland? Leider nicht. Auch die Linkspartei in NRW – sicherlich der linkeste Landesverband – hat eine sozialdemokratische Minderheitsregierung zwischen 2010 und 2012 zwei Jahre lang im Amt gehalten. Dafür verlor sie die Hälfte ihrer Wähler*innen und ist bis heute nicht im Landtag vertreten.

In der Bundestagsfraktion der Linkspartei haben fünf Abgeordnete am 9. April 2013 für einen Kriegseinsatz der Bundeswehr gestimmt. Obwohl die Linkspartei formell eine Anti-Kriegs-Position einnimmt, konnten diese fünf ohne Konsequenzen das Parteiprogramm mit Füßen treten. Die Linkspartei ist damit keine Anti-Kriegs-Partei mehr, sondern – genauso wie die Grünen – eine mal pazifistische, mal militaristische Partei. Die Parteiführung sagt auch klar, dass sie gern ihre Opposition zur NATO aufgibt, wenn sie dafür in die Regierung kommt.

Was ist die Linkspartei?

Zehn Jahre nach ihrer Gründung hat die Linkspartei knapp 60.000 Mitglieder. Die Mehrheit besteht aus Rentner*innen. Dazu kommen Bürokrat*innen aus allen Ebenen des Staatsapparates und aus den niederen Rängen der Gewerkschaftsbürokratie. Und als dritte Gruppe noch Aktivist*innen – gar nicht so wenige mit einem revolutionär-sozialistischen Selbstverständnis.

Dazu gehören die Herausgeber*innen der Freiheitsliebe oder Gruppen aus trotzkistischer Tradition wie die SAV, Marx21 oder die ISO. Doch diese Gruppen machen nur eine kleine Minderheit der Partei aus. Es ist aber auch schwer, ihren tatsächlichen Einfluss statistisch zu erfassen, da die Strömungen mit revolutionärem Selbstverständnis nie eigene Leitanträge auf den Parteitagen zur Abstimmung stellen.

Uns ist klar, dass Revolutionär*innen durch die Linkspartei eine gewisse Sichtbarkeit gewinnen können, in dem sie sich zum Beispiel als Kandidat*innen aufstellen lassen. Dafür müssen sich jedoch unter einem gemeinsamen Label mit den Regierungssozialist*innen auftreten. Ein Label, das seit zehn Jahren das weit verbreitete Ressentiment stärkt, dass „die Linke“ (nicht nur die Partei dieses Namens) ein weiterer korrupter Teil des Establishments sei.

Es ist kein Wunder, dass Anhänger*innen der Linkspartei am skeptischsten in Bezug auf Wahlversprechen sind. Nur elf Prozent von ihnen glauben, dass „Angekündigtes auch eingehalten wird.“ Denn nirgendwo ist die Kluft zwischen Versprechen und Regierungspolitik größer als bei der Linkspartei.

Beispiel Berlin, Neukölln: Der Bezirksverband ist klar in der Hand vom linken Flügel. Mit einem kämpferischen Wahlkampf konnten die Genoss*innen sehr viele Stimmen bekommen – aber keine*n einzige*n Abgeordnete*n. Die Stimmen gingen alle an Klaus Lederer und andere Regierungssozialist*innen, die sofort in eine rot-rot-grüne Regierung eintraten. Die Neuköllner Genoss*innen müssen nun zusehen, wie „ihre“ Regierung Geflüchtete abschiebt und Kiezläden brutal räumen lässt. Nun: Warum sollten Revolutionär*innen Wahlkampf für ihre Gegner*innen machen?

Warum handeln Wagenknecht und Co. so?

Wagenknecht ist eine sehr kluge Politikerin. Ihre chauvinistischen Sprüche sind kalkuliert. Wenn sie über „marodierende Gewalttäter“ bei der G20 in Hamburg spricht – dabei meint sie nicht die Bullen, sondern Demonstrant*innen, darunter viele von ihrer eigenen Partei! – dann ist das eine Ansage an die herrschende Klasse, dass sie zu jeder noch so abscheulichen Lüge bereit ist, wenn man ihr nur ein Ministerium anbieten würde. Gleichzeitig ist das ein Versuch, AfD-Wähler*innen für die Linkspartei zu gewinnen, durch die Verbindung von sozialer Rhetorik und chauvinistischer Hetze.

Lenin nutze dafür den Begriff: Sozialchauvinist*innen, also „Sozialisten in Worten, Chauvinisten in Wirklichkeit“. Damit bezeichnete er die Mehrheit der Sozialdemokratie, die während des Ersten Weltkrieges die eigene Bourgeoisie unterstützte. Lenin forderte einen klaren Trennungsstrich zwischen Revolutionär*innen und Sozialchauvinist*innen – auf der Grundlage entstand die Dritte Internationale als Abspaltung von der Zweiten.

Wagenknecht kann damit rechnen, dass linke Mitglieder ihrer Partei sich über solche Sprüche ärgern – aber trotzdem weiter fleißig Wahlkampf für sie machen. Sie kann praktisch nicht verlieren. Denn niemand in der Linkspartei hat bisher ernsthaft irgendwelche Konsequenzen verlangt. Marx21 verstieg sich sogar zur äußert peinlichen Aufforderung, Wagenknecht müsse ihre rassistische Hetze einfach nur „besser machen“.

Die Linkspartei will unbedingt Teil einer rot-rot-grünen Regierung sein. Das ist bei diesem Wahlgang eher unwahrscheinlich, aber eine andere Perspektive hat die Parteiführung nicht. Besonders gegenüber der SPD muss die Linkspartei als zuverlässig gelten, was einen effektiven Wahlkampf gegen die SPD unmöglich macht.

Wie könnte eine Alternative aussehen?

Es gibt nicht wenige linke Mitglieder in der Linkspartei, die nicht auf Regierungsbeteiligung, sondern auf die sozialistische Revolution setzen – vielleicht sogar eine vierstellige Zahl? Anstatt einen Wahlkampf für Sozialchauvinist*innen und Regierungssozialist*innen zu machen, könnten sie unter einem eigenen Banner auftreten: Konsequent gegen Privatisierungen, Repression und Abschiebungen; gegen jede bürgerliche Regierung, für eine Regierung der Arbeiter*innen; gegen Kapitalismus und für Sozialismus. Ein wirklich linkes Programm dieser Art würde begeistern – und viele Menschen anziehen, die die Linkspartei zu Recht als Teil des Establishments ablehnen.

Aber könnte man mit einem solchen Programm auch einen nennenswerten Einfluss gewinnen? Internationale Beispiele sollten optimistisch stimmen. Die Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT) in Argentinien bekommt regelmäßig über eine Million Stimmen. Der antikapitalistische Arbeiter Philippe Poutou von der NPA in Frankreich bekam auch fast eine halbe Million Stimmen dieses Jahr – und das, obwohl etliche Revolutionär*innen leider für den Sozialchauvinisten Jean-Luc Mélenchon stimmten (der seinerseits nicht nur die französische Armee unterstützt, sondern noch ekligere Positionen vertritt).

Wir halten ein dauerhaftes Bündnis zwischen Revolutionär*innen und Reformist*innen für fatal. Das sind seit 100 Jahren direkt entgegengesetzte Strömungen: Sie wollen den Kapitalismus verwalten, wir wollen den Kapitalismus zerstören. Wir haben kein Problem damit, wenn Revolutionär*innen kurzfristig in einer reformistischen Massenpartei arbeiten – das ist Entrismus. Aber das Ziel dabei ist es doch, Menschen vom Reformismus zu brechen. Und nicht ein Jahrzehnt oder länger als loyale Opposition im Regierungslager zu fungieren.

Lehren aus der Geschichte

Das ist eine wichtige Lehre aus der Geschichte der revolutionären Bewegung in Deutschland. Rosa Luxemburg und ihre Freund*innen blieben viele Jahre in der SPD, dann in der USPD. Eine unabhängige revolutionäre Partei, die KPD, gründeten sie erst in der Hitze der Revolution – und diese neugeborene Partei war auf ihre Aufgaben nicht vorbereitet. Luxemburgs Anwalt und Nachfolger als KPD-Vorsitzender, Paul Levi, sagte 1920, dass der zentrale Fehler der Revolutionär*innen in Deutschland darin bestanden hatte, dass sie sich vor 1914 nicht als eigenständige politische Organisation konstituiert hätten, selbst wenn die so geschaffene Organisation eine Sekte geblieben wäre.*

Lasst uns daraus lernen. Revolutionär*innen in der Linkspartei sollten sich für den Aufbau einer revolutionären Partei aussprechen und den Rausschmiss der Regierungssozialist*innen fordern. Sie sollten keine Kandidat*innen unterstützen, die sich nicht klar von bürgerlichen Regierungen und rassistischer Politik distanzieren. Sie sollten Schritte unternehmen, damit antikapitalistische Aktivist*innen und kämpferische Arbeiter*innen eigenständig bei Wahlen antreten können.

Dabei hätten Revolutionär*innen in der Linkspartei unsere volle Unterstützung. Wir sind überzeugt, dass ein solches Projekt schon mal eine gewisse Unterstützung bekommen könnte – und bei einem Anstieg der Klassenkämpfe auf Begeisterung stoßen würde. Die Linkspartei war noch nie an einer Bundesregierung beteiligt, und wird das wahrscheinlich nach dieser Wahl auch nicht sein. Aber niemand zweifelt ernsthaft daran, dass die Linkspartei-Führung bei der allerersten Gelegenheit in eine Bundesregierung eintreten würde. Sollten wir diese Entwicklung einfach abwarten? Nein: Lasst uns jetzt am Aufbau einer Alternative arbeiten!

* Pierre Broué: The German Revolution, 1918-1923. Chicago 2006. S. 908. (Eigene Hervorhebung)

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