Libyen: Der Kampf um die Hegemonie im Mittelmeer und die Krise des Imperialismus

04.01.2020, Lesezeit 20 Min.
1

Während der neunjährige Bürger*innenkrieg sich verschärft, sendet die Türkei Bodentruppen nach Libyen. Eine Intervention des Imperialismus wie 2011 ist nicht auszuschließen – jedoch sind die Widersprüche in der EU und der NATO größer denn je. Was steckt hinter den neuen Entwicklungen?

Neun Jahre sind vergangen seit den fortschrittlichen Massenprotesten im Januar 2011 gegen den langjährigen Diktator Muammar al-Gaddafi, auf die die imperialistische UN-NATO-Militärintervention im März desselben Jahres folgte. Dem schloss sich ein reaktionärer Bürger*innenkrieg im ölreichsten Land Nordafrikas an, der seitdem andauert.

Libyen ist das perfekte Beispiel, wie die westlichen Imperialismen unter dem „humanitären“ Deckmantel der Vereinten Nationen (UN) eine Regime-Change-Operation durchführen, um ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen durchzusetzen – auf Kosten tausender Leben und eines zerstörten Landes.

Weit davon entfernt, dass die Auswirkungen der UN-NATO-Intervention nachließen, begann im April 2019 eine neue Etappe des Bürger*innenkrieg mit der Militäroffensive des Befehlshabers der Lybischen Nationalen Armee (LNA), General Haftar, in Richtung der Hauptstadt Tripolis, die unter der Kontrolle der Regierung der Nationalen Einheit (GNA) steht.

Während die LNA bis in die südlichen Provinz von Tripolis einmarschierte, griffen unterschiedliche Akteure in die Situation ein, die ohnehin durch die Einmischung mehrerer ausländischer Kräfte wie Frankreich, Italien, Russland, Ägypten usw. gesteuert wird.

Die Türkei bereitet sich auf eine Militärintervention mit Bodentruppen in Unterstützung der GNA-Regierung vor, während der italienische Regierungschef Giuseppe Conte die Errichtung einer „Flugverbotszone“ – déjà vu – vorschlägt.

Was bedeuten die neuen Entwicklungen für den seit neun Jahren andauernden Bürger*innenkrieg und für die Kräfteverhältnisse im Mittelmeer?

Imperialistische Militärintervention 2011 und Anfang des Bürger*innenkriegs

Im Januar 2011 gingen breite Massen in Libyen für den Sturz des Regimes von Muammar al-Gaddafi auf die Straße und reihten sich somit in die Proteste in Tunesien und Ägypten gegen die dortigen diktatorischen Regime ein.

Dieser Prozess, der als „Arabischer Frühling“ bezeichnet wurde, war eine direkte Folge der Weltwirtschaftskrise 2008, die in den ehemaligen Kolonien der europäischen Mächten eine Infragestellung ihrer langjährigen undemokratischen Regime hervorgerufen hatte.

Libyen besitzt mit 48,4 Milliiarden Barrel die höchsten Erdöl-Reserven im ganzen nordafrikanischen Raum. Ein Jahr vor dem Sturz des Gaddafi-Regimes, im Jahr 2010, wurden 83% (29,2 Milliarden US-Dollar) aller Erdölexporte unter Gaddafi in die EU-Staaten getätigt. Libyen war 2010 sogar der größte Exporteur mit jeweils 5,6 Milliarden und 11 Milliarden US-Dollar für Frankreich und Italien. Außerdem operieren insgesamt über 40 europäische Firmen in Libyen, die in der Förderung des Erdöls tätig sind, wie die deutsche BASF, Siemens; der französische Ölkonzern Total oder der italienische Eni.

So bedeuteten die Proteste in Libyen für die EU-Staaten eine große Gefahr für deren Zugang zu den Ölreserven des Landes, falls das Gaddafi-Regime durch eine andere Kraft ersetzt werden sollte, die nicht dazu bereit wäre, mit der EU zu kooperieren.

Außerdem diente Libyen schon ab 2004 als der Henker der EU-Staaten, um Menschen in Flucht an der Küste aufzuhalten; diese Rolle sollte musste beibehalten werden. Im Gegenzug lieferten die EU-Staaten dem Gaddafi-Regime von 2005 bis 2010 Waffen im Wert von 1,1 Milliarden US-Dollar, die ab 2011 im Bürger*innenkrieg von unterschiedlichen Milizen verwendet werden sollten. Die deutsche Bundesregierung selber lieferte allein im Jahr 2009 Waffen in Höhe von 53,2 Millionen US-Dollar.

Auch für andere Mächte wie die USA unter Obama oder Großbritannien bedeuteten die Massenaufstände in den nordafrikanischen Ländern für ihre geopolitische Hegemonie in der Region eine Gefahr, vor allem nach den de facto Niederlagen in Afghanistan und Irak. Eine mögliche revolutionäre Entwicklung der Proteste, die sowohl mit dem diktatorischen Gaddafi-Regime als auch mit allen Fraktionen der herrschenden Klassen und dem Imperialismus abrechnet und dadurch die Massen benachbarten Länder inspiriert, wäre eine große Herausforderung für die US-Hegemonie.

So fing die militärische Intervention der NATO-Kräfte im März 2011 anhand der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats an, der militärische Luftangriffe gegen Libyen anhand der Bildung einer „Flugverbotszone zum Schutze der Bevölkerung“ ermöglichte. Unter dem Vorwand „humanitärer“ Luftangriffe – bei denen etliche Zivilist*innen ums Leben kamen –, wollten die EU und USA ein neues ebenso pro-imperialistisches Regime installieren und eigene wirtschaftliche Interessen verteidigen.

Die Resolution ging durch die Zustimmung von USA, GB und Frankreich und die Enthaltung (d.h. schweigende Zustimmung) von Deutschland, Russland und China durch. Die schwarz-gelbe Bundesregierung stellte alle NATO-Militärbasen für die Luftangriffe bereit, leiste große logistische Unterstützung und wurde von Teilen der CDU und den Grünen wegen ihrer „passiven“ Haltung kritisiert. Schon damals traten die Grünen unter Joschka Fisher wie heute für einen aggressiveren deutschen Militarismus ein.

Kurz vor der UN-Resolution stellten sich ein Teil der Ex-Gaddafi-Offiziere, höhere Staatsbeamte und bürgerliche Kräfte gegen Gaddafi selbst und bildeten den sogenannten Nationalen Übergangsrat (NTC). Der NTC proklamierte sich als die „Führung“ der aufständischen Massen und versuchte, die Proteste weg von einem sozialen Umsturz des gesamten Regimes und der herrschenden Elite zu lenken. Dabei verhandelte er mit imperialistischen Kräfte über die Nachkriegsordnung in Libyen, und die Milizen unter seiner Kontrolle dienten als Bodentruppen des Imperialismus.

Durch die reaktionäre Kooptierung der Massenbewegung seitens des NTC und vor allem aufgrund des Fehlens einer revolutionär-sozialistischen Kraft und sowie einer organisierten Arbeiter*innenbewegung an strategischen Positionen konnten die libyschen Massen keine unabhängige Führung im Interesse der Arbeiter*innen und armen Bauern*Bäuerinnen bilden, die mit der gesamten herrschende Kaste und dem Imperialismus hätte abrechnen können.

Nach monatelangen Gefechten, mehreren Luftangriffe der NATO und dem Einsatz von US-amerikanischen und britischen Spezialkräften konnten die Milizen unter der Führung des NTC große Teile Libyens erobern und töteten Muammar al-Gaddafi im Oktober 2011. Jedoch war der Bürger*innenkrieg alles andere als beendet.

Post-Gaddafi-Periode

Libyen hat seit 2011 mehrere gegenseitig gegnerische Regierungen, Aufstieg und territoriale Kontrolle durch ISIS und al-Qaida, weitere Luftangriffe des Imperialismus mit dem angeblichen Ziel der „Terrorbekämpfung“, 15.000 – 65.000 Todesopfer und Flucht von Hunderttausenden in benachbarte Länder gesehen.

Dazu kommen die tausenden Geflüchteten aus anderen afrikanischen Ländern oder Libyen selbst, die aufgrund des EU-Libyschen Migrationsabkommens von 2017 entweder im Mittelmeer ertrunken sind oder in libyschen Internierungslagern in unmenschlichen Zuständen gefangen gehalten oder als Sklav*innen verkauft werden.

Aktuell befinden sich in Libyen über 100 bewaffneten Milizen, die sich nach Stämmen, Ex-Militärabteilungen, religiösen Sekten oder auf Söldnerbasis gruppieren. Diese Milizen unterstützen dann jeweils eine der beiden Kräfte, die die Macht in Libyen teilen.

Die eine Kraft ist die durch die UN international anerkannte Regierung der Nationalen Einheit (GNA) unter Fayiz as-Sarradsch, die aktuell nur die Hauptstadt Tripolis kontrolliert und sich als die legitime Regierung behauptet. Auf der anderen Seite stehen die Kräfte von Chalifa Haftar, die über 75% des Territoriums und die Ölfelder kontrollieren. General Haftar, der in 90ern für die CIA tätig war und 2011 beim Sturz von Gaddafi eine große Rolle gespielt hat, kommandiert im aktuellen Angriff auf Tripolis die Mehrheit der Milizen in Libyen unter der Libyschen Nationalen Armee (LNA).

Während die Tripolis-Regierung (GNA) hauptsächlich von Italien, Türkei, Katar unterstützt wird, stellen sich Frankreich, Russland, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien hinter General Haftar (LNA).

Aktueller Stellvertreter*innenkrieg um die Nachkriegsordnung

Macrons Bündnis zielt vor allem darauf ab, die Erdölförderung der französischen Firmen zu sichern und den Neuaufbau des libyschen Staates entlang der Interessen des französischen Imperialismus zu gestalten. Besonders wichtig für Macron ist das Ölfeld in der al-Sahara-Region, das von Total und anderen europäischen Firmen betrieben wird und wo knapp ein Drittel der gesamten libyschen Tagesproduktion stattfindet. Anfang 2019 wurde das Feld von Haftars Truppen mit Versprechen des Wiederaufnahme des Betriebs erobert. Seit 2016 ist bekannt, dass Frankreich General Haftar mit französischen Waffen und Spezialeinheiten vor Ort unterstützt.

Während die geopolitischen Verbündeten der USA – Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien – die Lybische Nationale Armee (LNA) unter Haftar mit Waffen, Panzern und eigenen Luftangriffen unterstützen, kritisiert das US-Außenministerium verbal den Angriff auf Tripolis. Gleichzeitig lobte Trump in einem Telefonat im April 2019 „die bedeutende Rolle“ von Haftars Armee in Libyen. Diese widersprüchliche Situation ist die Folge davon, dass einerseits US-Truppen entlang der innen- und außenpolitischen Strategie von Trump, die US-Truppen aus dem Mittelmeer-Raum zurückzuziehen, agieren, was ihnen eine gewisse „aktive Neutralität“ verleiht. Aber andererseits stört der russische Einfluss auf der Seite des siegenden Generals Haftar die US-Interessen in der Region.

Russland stellt sich politisch hinter General Haftar und unterstützt die Milizen mit Spezialeinheiten vor Ort beim Angriff auf die Hauptstadt. In Libyen ist das russische Erdölunternehmen Tatneft tätig, das durch den Pakt mit Haftar weiter operieren kann. Ein großer russischer Einfluss in der Nachkriegsordnung würde für Russland nach Syrien eine große Verstärkung bedeuten – vor allem in einem Land, das aktuell die größte Fluchtroute nach Europa ist.

Italien, das rund 25 Prozent seines Ölbedarfs aus Libyen deckt und in Libyen durch den Konzern Erdölkonzern ENI operiert, kooperiert mit der Regierung in Tripolis (GNA) und unterschiedlichen Milizen, um die Meeresgrenzen des nordafrikanischen Landes gegen Flucht zu schließen und die eingefangenen Geflüchteten im Mittelmeer zurück in den Bürger*innenkrieg zu schicken. Vor allem wegen des innenpolitischen Drucks und der chauvinistischen Hetze von Salvini will der Regierungschef Giuseppe Conte die Aufkündigung des Migrationsabkommens und de Kontrollverlust an der libyschen Küste verhindern. Es ist international bekannt, dass die versklavten Geflüchteten in Libyen von Soldat*innen misshandelt, vergewaltigt und getötet werden. Dafür wird die Küstenwache von Italien mit EU-Geldern finanziert und ausgebildet.

Die Regierung in Tripolis (GNA) wird außerdem von der Muslimbrüderbewegung und deren Unterstützerstaaten Türkei und Katar unterstützt. Die Türkei leistete bisher vor allem eine politische Unterstützung. Das ändert sich aber gerade, da der Ausgang des Bürger*innenkriegs in Libyen für die neo-osmanischen Ambitionen der Türkei von großer Bedeutung ist.

Die Türkei hatte ihren Einflusssphäre im Mittelmeer-Raum erst mit der Besatzung von Nordzypern in 1974 und dann durch die Invasion der letzten Jahre in Teilen Nordsyriens und Nordiraks (Teile West- und Südkurdistans) vergrößert. Die expansionistische Politik der letzten Jahre diente vor allem dazu, dass Erdogan sein bonapartistisches Regime zeitweise stabilisieren konnte, indem er alle Fraktionen der Bourgeoisie und die Opposition hinter dem Krieg nach Außen sammelte.

Der türkische Staatspräsident hat mit der Tripolis-Regierung Ende November ein Abkommen über die gemeinsame exklusive Wirtschaftszone im Mittelmeer unterschrieben. Dabei handelt es sich um einen Zug gegen das Pipeline-Projekt EastMed im Ost-Mittelmeer zwischen Griechenland, Zypern und Israel, das Erdgas aus dem östlichen Mittelmeer direkt nach Europa bringen soll – ohne eine türkische Beteiligung.

Durch das Abkommen mit der libyschen Tripolis-Regierung (GNA), zielt die Türkei darauf ab, den Bau der Pipeline zu verhindern, oder daran beteiligt zu werden. Die andere Seite der Medaille ist jedoch, dass die Tripolis-Regierung gar nicht über die Gebiete herrscht, von der die Türkei bei der Definierung der Wirtschaftszone ausgeht. Also kann das Abkommen zwischen der Türkei und Libyen de facto nur bei einem Sieg der Tripolis-Regierung über General Haftar eintreten. Dahingehend kriegt die Tripolis-Regierung im Gegenzug des Abkommens Panzerfahrzeuge, Waffen und militärische Beratung von seinem türkischen Verbündeten.

Die neuste Entwicklung ist jedoch, dass die türkische Regierung angekündigt hat, dass sie bereits eine Einladung der Regierung in Tripolis (GNA) für türkische Bodentruppen bekommen haben und mit der Militäroperation in kürzester Zeit anfangen werden. Falls der Einsatz zustande kommt, wird er eine konkrete Drohung für den Einfluss der EU in Libyen und dem gesamten Mittelmeerraum darstellen.

Nach der Ankündigung der Entsendung türkischer Truppen forderte der italienische Regierungschef Giuseppe Conte eine „Flugverbotszone“ in Libyen und machte somit den ersten Anstoß für eine offene imperialistische Militärintervention wie 2011 in Libyen.

Kampf um das Mittelmeer und Krise der EU/NATO

Der neoliberale Konsens zwischen den imperialistischen Mächte zerfällt, was Rivalitäten zwischen den alten engen Verbündeten hervorruft, wie im Konflikt zwischen französischen und italienischen Interessen in Libyen auch zu beobachten ist.

Die USA definiert ihre geopolitische Strategie anhand eines aggressiven Protektionismus neu und geht nach den kostspieligen Niederlagen weg vom „War on Terror“ hin zu einer Politik der „America First“, die vor allem China, Russland, aber auch die EU als die Gefahr für die US-Hegemonie sieht. Die US-amerikanische Bourgeoisie versucht diese Wende seit einigen Jahren durchzuziehen und fand in Trump einen Führungskörper dieser Politik. Die ersten Auswirkungen dieser Wende sind längst da, wie die US-Sanktionen gegen die Nord-Stream-2 Pipeline zwischen EU-Russland, der Zollkrieg mit China oder der Teilrückzug der US-Truppen aus Syrien, aber auch aus Libyen zeigen, der in einer Neuverteilung der Kräfteverhältnisse resultiert.

Der Grund für diese Wende in der US-Politik war eine Stärkung der imperialistischen Züge Chinas, die sich in riesigen Investitionen in Afrika und Lateinamerika, in Projekten wie der neuen „Seidenstraße“, die Europa und Asia unter chinesischer Führung mit dem Ausschluss von USA durch Land und Seewege verbinden soll, sowie in einer selbstbewussteren und offenen Zielsetzung unter Xi Jinping ausdrückt, China zu einer hegemonialen Weltmacht zu machen, also seine imperialistische Entwicklung zu vollenden – ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.

In diesem Konflikt ist die EU innen- und außenpolitisch in einer Sackgasse. Der Versuch einer kapitalistischen Vereinigung nationalstaatlicher Interessen, der in einer Periode des vorherrschenden Multilateralismus für Frankreich und Deutschland günstigere Bedingungen für Akkumulation und politische Hegemonie gebildet hat, wird nun selbst zu einem hemmenden Faktor in einer Welt der nationalstaatlichen imperialistischen Rivalitäten.

Einerseits versucht die EU durch den Rückzug der USA aus dem Mittelmeerraum, eine eigenständigere Rolle einzunehmen, indem Pläne für eine EU-Armee sich konkretisieren oder imperialistische Militärinterventionen ohne US-Beteiligung wie in Mali getätigt werden. In diesem Kontext wird auch die Funktionalität der NATO – größte multilaterale Militärallianz der Welt – seitens Macron stärker in Frage gestellt. Tatsächlich findet die NATO in der aktuellen Lage in Libyen im Kontrast zu 2011 kaum Erwähnung. Eigentlich ganz intuitiv, wenn man bedenkt, dass die zwei NATO-Partner*innen Türkei und Italien auf der einen, der andere Partner Frankreich auf der anderen Seite stehen.

Diese relative Eigenständigkeit ist jedoch widersprüchlich, denn die EU ist durch den Brexit, die Konflikte mit Italien wegen der Grenzpolitik, sowie durch die Schuldenpolitik in Osteuropa alles andere als stabil. Deutschland braucht mehr Zeit, um sich auf einen protektionistischen und militärisch aggressiveren Kurs umzustellen. Dafür bieten sich bereits die Grünen für die deutsche Bourgeoisie an, um die Wirtschaft, vor allem die Automobilindustrie durch Elektromobilität zu modernisieren und zugleich die Bundeswehr durch massive Investitionen in eine eigenständige kolonisations- und invasionsfähige Macht zu verwandeln.

Die Grünen kritisieren die Bundesregierung außerdem für die bisherige Passivität und fordern die Bildung einer europäischen Strategie, um eigene Interessen zu verteidigen. Entlang dieser Position waren sie im Juli 2019 offen für einen Bundeswehreinsatz am Persischen Golf gegen Iran. So unterstützen sie auch den Kolonialkrieg von Deutschland und Frankreich in Mali.

Die von ihren Grünen Kolleg*innen herausgeforderte Verteidigungsministerin Anne Kramp-Karrenbauer (CDU) fordert ein „robusteres Mandat“ in der Sahel-Zone in Afrika und meint, dass Deutschland nicht „weggucken“ dürfe. Wovor sie Angst hat, ist dass der deutsche Imperialismus wegen seiner militärischen Schwäche gegenüber dem Rivalen China bei der Ausbeutung der Afrikanischen Kontinents (der sogenannte „Marshall-Plan für Afrika“) nicht konkurrieren kann und somit von der Richtung der Bodenschätze und imperialistischen Profite in Afrika „wegguckt“.

Deutschland versucht aktuell in Libyen, auf diplomatischer Ebene unterschiedliche Kräfte unter anderem anhand einer Libyen-Konferenz in Europa zu versöhnen. Aus dieser Vermittlungsrolle leitet die Bundesregierung den Anspruch ab, in der Nachkriegsordnung mitzureden und sich als Stimme der EU zu präsentieren. Inwiefern das klappen wird, ist anhand der neuen Kräfteverhältnisse mehr als fraglich.

Eine Militärintervention an der Seite Frankreichs ist auf keiner Weise durch diese Vermittlungsrolle auszuschließen. Zumal Italien bereits eine Flugverbotszone vorschlägt und die Stimmen für einen EU-Militäreinsatz in den Zeitungen des deutschen Kapitals laut werden. Die ehemalige Verteidigungsministerin von der Leyen, die heute an der Spitze der EU-Kommission sitzt, brachte bereits 2016 eine mögliche Libyen-Intervention der Bundeswehr ins Spiel.

Analog zur Politik Frankreichs bei Muammar al-Gaddafi, wäre eine militärische Intervention für Frankreich kein neues Spiel, jedoch wäre es ein viel Gefährlicheres. Einerseits wäre es eine Chance für Macron, die „nationale Einheit“ – à la Sarkozy 2011 – gegen einen ausländischen Feind herzustellen, um die Krise des französischen Regimes mit einer imperialistischen Offensive einzudämmen. Andererseits wäre es eine große Gefahr für das französische Regime selbst, falls der Aufstand und der Generalstreik der Arbeiter*innen, Jugend und Gelben Westen sich auch gegen die imperialistische Heuchlerei der Regierung stellen sollte.

Klassenkampf und Revolutionäre Strategie

Die erste Welle des Klassenkampfes nach der Weltwirtschaftskrise 2008/9 traf Libyen in Form eines Massenaufstandes, der jedoch vom Imperialismus und seinen Agenten in kürzeste Zeit in einen reaktionären Bürger*innenkrieg verwandelt wurde. Die aktuelle zweite Welle des Klassenkampfes nach der Krise trifft Libyen in Form einer Schärfung des reaktionären Krieges und der Gefahr einer erneuten imperialistischen Intervention, die seitens der weltweiten Massenaufstände zurückgeschlagen werden muss.

Die Aufgabe der bevorstehenden „zwanziger Jahre“ ist, die sozialen Mobilisierungen der Massen gegen die repressiven Regime in Frankreich, Libanon, Iran, Sudan, Algerien und überall mit der Perspektive des vollständigen Rauswurfs des Imperialismus und einer sozialistischen Revolution zu verbinden.

Gegen eine mögliche Intervention des Imperialismus und regionaler Mächte in Libyen brauchen wir besonders in der imperialistischen EU eine Perspektive, die heute den Generalstreik in Frankreich der Arbeiter*innen, Jugend und Gilets Jaunes gegen das Macron-Regime mit einem Aktionsprogramm gegen die imperialistische Aggression in ganz Europa verbindet. Die Massen, die gegen Macron und die Rentenreform auf die Straße gehen und streiken, müssen erkennen, dass die drohende imperialistische Intervention gegen ihre eigenen Interessen gerichtet ist.

Eine antiimperialistische Positionierung und Mobilisierung des französischen Proletariats entgegen der Versuche der chauvinistischen Bürokratien hätte das Potenzial, die Arbeiter*innenklasse in Deutschland, Italien, aber auch in Iran, Libanon, Tunesien, Algerien und Ägypten zu elektrifizieren.

Die Arbeiter*innen und Massen haben ihre Schulden bei den gleichen französischen, italienischen und deutschen Banken und Konzernen, die die Stellvertreter*innenkriege veranlassen und an ihnen profitieren. Die Gelder, die in den Sozialsystemen dieser Länder fehlen, werden in diejenige Luftwaffe gesteckt, die stellvertretend für die jeweiligen Kapitalblöcke die Bevölkerung Nordafrikas und Westasiens bombardiert. Sie sagen uns, dass wir kürzer treten müssen, aber die Militärapparate zur Durchsetzung ihrer Profite verschlingen völlig maßlose Summen.

Und auch die rassistische Unterdrückung von Millionen Menschen in den imperialistischen Zentren basiert materiell auf den neokolonialen Stellungen Frankreichs, Italiens und Deutschlands, die nichts mehr fürchten als die grenzenlose Solidarität derer, die sie mit Bomben auf der einen und Grenzkontrollen auf der anderen Seite der Ozeane unterwerfen. Wenn sich das Proletariat weigert, für die Kriegsprofiteur*innen weiter zu produzieren, wird dieses Verhältnis konfrontiert. Wenn die Arbeiter*innen in den imperialistischen Ländern wie Italien, Frankreich, Deutschland gegen den Krieg protestieren und streiken, werden sie schnell viele Millionen Verbündete über die Grenzen hinweg finden, um gegen ihre gemeinsamen Ausbeuter*innen und Unterdrücker*innen in den Banken, Konzernen und Regierungen zu kämpfen.

Die Erfahrungen in Libyen 2011 haben gezeigt, dass Revolten alleine nicht ausreichen, um eine Revolution durchzuführen. Wenn die Arbeiter*innenklasse sich nicht an die Spitze dieser Revolten setzt und ihre Hegemonie, also das politische Vertrauen der ausgebeuteten und unterdrückten Volksmassen gewinnt, den Aufstand mit Generalstreiks begründet, sich an den „strategischen Positionen“ der Wirtschaft in eigenen Organen organisiert, ist ein vollständiger Bruch mit allen Fraktionen der einheimischen und imperialistischen Bourgeoisie nicht möglich.

Denn die Aufgabe ist nicht nur, die Regierung zu stürzen, sondern auch eine alternative Macht zu bilden und zu erhalten, die in der Lage ist die objektiven Interessen aller Arbeiter*innen und Unterdrückten kompromisslos zu verteidigen. Für diese Aufgabe brauchen wir revolutionär-sozialistische Parteien, die in der Lage sind, die internationalen Erfahrungen der Arbeiter*innenklasse und des Klassenkampfes mit den richtigen Lehren zu bündeln, durch die eigene Erfahrung im Klassenkampf anzuführen zu lernen und sich auf Massenaufstände vorzubereiten.

Mehr zum Thema