Frankreich: Die gelben Westen und die vorrevolutionären Elemente der Situation

02.12.2018, Lesezeit 25 Min.
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Seit dem 17. November hat sich die Situation in Frankreich abrupt geändert. Am Anfang stand der spontane Aufstand eines beträchtlichen Teils der Massen, wie er bisher selten zu beobachten war.

Der Aufstand der „Gelben Westen“ erschüttert nicht nur die Herrschenden, sondern auch alle politischen und gewerkschaftlichen Vermittlungsinstanzen. Wie der sehr liberale Nicolas Beytout in den Kommentarspalten von L’Opinion betont, „tanzt Frankreich auf einem Vulkan. Wir werden in einigen Tagen, nach den Mobilisierungen am Samstag und den ersten Verhandlungen mit den Gelben Westen, wissen, ob die Explosion vermieden werden kann. Vorläufig gibt es Grund zur Sorge. Emmanuel Macrons Ansprache zur Umweltfrage hat die Ziele nicht erreicht, die Unterstützung der Franzos*innen für die Gelben Westen hat nicht nachgelassen, und nichts von dem Zorn, der sich in wenigen Wochen angesammelt hat, wurde gelindert.“ Aber diese plötzliche Veränderung der Situation ist alles andere als ein Donnerschlag in ruhigem Wetter. Sie ist vielmehr das Ergebnis tiefer Widersprüche, die sich in den letzten Jahren angesammelt haben und die die Umsetzung hypothetischer Lösungen für diese Probleme erschweren.

Eine tiefe Krise der staatlichen Autorität

Im Gegensatz zu den am weitesten verbreiteten Analysen in der Linken haben wir zu Beginn der Präsidentschaft Macrons zunächst festgestellt, dass der Macronismus vor allem ein schwacher Bonapartismus ist. Das Bild der „jupiterianischen“ Macht, das er von sich abgab, war nicht das Ergebnis einer inneren Stärke, sondern paradoxerweise ein Spiegelbild der organischen Krise des französischen Kapitalismus. Um die vollständige Anpassung an die neoliberale Globalisierung abzuschließen, hatte derselbe französische Kapitalismus nicht gezögert, das alte politische System vollständig zu demontieren, was eine große Lücke hinterließ, die der Macronismus füllen konnte. Vor der Sommerpause und trotz der Niederlage der Eisenbahner*innen in ihrem Kampf – die trotz allem eine sehr große Entschlossenheit gezeigt hatten, die durch die schädliche Ausrichtung der Gewerkschaftsführung verschwendet wurde – haben wir die vorzeitige Abnutzung der Macron-Regierung und einen beschleunigten Glaubwürdigkeitsverlust auch in den Sektoren hervorgehoben, die die Regierung bisher tolerierten, ohne Teil des harten Kerns ihrer sozialen Basis zu sein. Dieser fortschreitende, aber kontinuierliche Legitimationsverlust hat sich mit der Benalla-Affäre verschärft und im September eine Katastrophe ausgelöst, symbolisiert durch das Ausscheiden von zwei Ministern der Staats- und Zentralregierung: Nicolas Hulot, Feigenblatt der Linken und der „Zivilgesellschaft“ in der Regierung, sowie Gérard Collomb, der vorher Bürgermeister von Lyon und wichtigster Unterstützer Macrons war. Sein Rücktritt ist zudem symptomatisch für die Art und Weise, wie die Bourgeoisie der „Provinz“ Macron verlässt. Zur Zeit der Wahlen war das Ausmaß der Wähler*innenstimmen für die Front National in bestimmten Gebieten und ebenso die Zunahme der Stimmenthaltung noch weitgehend auf den Zusammenbruch dieser Bourgeoisie zurückzuführen, die es nicht mehr schafft, die Bevölkerung zu „halten“. Heute ist der Übergang der Gelben Westen zur direkten Aktion der eloquenteste Beweis dieser Entwicklung.

Angesichts dieser Schwächung der Macht, die sich einer zunehmend kleineren sozialen Basis gegenüber sieht, bekräftigten wir, dass sich zu Beginn des Herbstes „eine neue Situation eröffnete, die sich von der nicht-revolutionären Situation unterschied, die den ersten Teil [von Macrons Mandat] kennzeichnete (….). Eine Übergangssituation, in der sich die Brüche, die sich „von oben“ öffnen, erlauben könnten, die Wut der Massenbewegung mit mehr Kraft auszudrücken und so eine vorrevolutionäre Situation zu schaffen“. Der politische und soziale Tsunami, der durch den spontanen Aufstand der Gelben Westen repräsentiert wird, bestätigt diese Hypothese.

Gramscianisch ausgedrückt könnten wir sagen, dass wir am Anfang eines Prozesses der Verschärfung der organischen Krise stehen, ausgelöst durch den plötzlichen Übergang ganzer Sektoren der Massen „von der politischen Passivität zu einer gewissen Aktivität (…) und (die) Forderungen aufstellen, die in ihrer unorganischen Komplexität eine Revolution darstellen“ (A. Gramsci, Gefängnishefte, H. 13, §23). Für Gramsci ist diese Art von Prozess in einer Krise der Hegemonie verwurzelt, die insbesondere dadurch gekennzeichnet ist, dass die ehemaligen intellektuellen und moralischen Anführer*innen das Gefühl haben, dass der Boden unter ihnen wegrutscht und dass ihre Predigten eben gerade in Predigten umgewandelt wurden, d.h. in Reden, die völlig außerhalb der Realität liegen. Genau das erleben wir heute, nicht nur in den leeren Predigten der Medien und ihrer „Meinungsmacher*innen“, sondern auch durch das Macron’sche Gleichnis als solches: Der vor knapp anderthalb Jahren gewählte Präsident wird von 80 Prozent der Bevölkerung abgelehnt. Dies ist ein ziemlicher Kraftakt für einen Mann, dessen einzige „Legitimität“ gerade darin bestand, die Frage der Krise der Repräsentativität traditioneller Parteien lösen zu wollen. Ein erschwerender Faktor liegt darin, dass unter den 80 Prozent, die Macron ablehnen, die überwiegende Mehrheit die Gelben Westen unterstützt – diese spontane Bewegung, deren Hauptslogan „Macron muss zurücktreten!“ ist und deren wöchentliches Schlachtfeld seit dem 24. November die Barrikaden auf den Champs Elysées sind.

Die Krise der Hegemonie drückt sich auch dadurch aus, dass eine gewisse Reihe von Klassensektoren mehr in das Leben des Staates eingreifen, sich völlig von ihren Führungen trennen, sich aber noch nicht als neue hegemoniale Klassen durchsetzen können. Dies ist der allgemeinere Rahmen, in dem sich die Bewegung der Gelben Westen entwickelt hat.

Das revolutionäre Erwachen der „kleinen Leute“

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war die Erhöhung der Kraftstoffsteuern. Dennoch stehen wir jetzt vor einer breiteren Bewegung, die sich trotz ihrer Heterogenität im Prozess der Radikalisierung befindet und nun nicht nur die gesamte Regierung, sondern auch einige Aspekte des Regimes der Fünften Republik herausfordert. Das subversivste Element des gegenwärtigen Aufstands sind seine radikalen Methoden und die Tatsache, dass der Protest ein Ausdruck des Leidens ist, der weit über den mobilisierten Sektor der Gelben Westen hinaus Anklang findet. Dies zeigt sich an der sehr breiten Unterstützung, die in der öffentlichen Meinung für die Bewegung herrscht, auch nach den „Gewaltszenen“ vom Samstag, den 24. November, auf die die Regierung zählte, um die Bevölkerung gegen die Bewegung zu wenden.

Zum ersten Mal seit Langem erleben wir in Frankreich die Entscheidung zur Blockade von „unten“, ohne jegliche Kontrolle durch die Regierung oder die Gewerkschaften, linke oder rechtsextreme Parteien. Diese Blockade war wirksam, und zwar ohne Koordinierung auf territorialer Ebene mit Autoritäten oder Gewerkschaften. Diese absolut subversive Haltung – im Gegensatz zu den zahmen Demonstrationen, die für die routinemäßigen Aktionen der Gewerkschaftszentralen oder der Linken charakteristisch sind – spiegelte sich in der Entscheidung wider, die Demonstration am 24. November auf den Champs Elysées beizubehalten, obwohl die Regierung sie verboten hatte. Ein neuer Meilenstein wurde mit dem „revolutionären Tag“ am 1. Dezember erreicht, der Paris und viele Städte in der Region erschütterte, während die Exekutive mit der Aufrechterhaltung der Ordnung völlig überfordert war.

Sowohl die Mobilisierung auf der „schönsten Allee der Welt“ als auch die Barrikaden sind für das rechte Seine-Ufer [das Zentrum von Paris, A.d.Ü.] im 20. Jahrhundert absolut beispiellos – mit Ausnahme der von rechtsradikalen Ligen angeführten Straßenschlachten vom 6. Februar 1934, die sich aber auf den Place de la Concorde beschränkten. Die breite Unterstützung für die Gelben Westen gibt weiterhin eine gute Vorstellung davon, wie große Teile der Massen sich mit der Wut identifizieren, die auf den Champs Elysées ausgedrückt wurde. Kommunikationsspezialist Arnaud Benedetti weist in einer Kolumne im Figaro darauf hin: „Sobald die Bilder im Umlauf sind, ist es das Gefühl einer gefährlichen Sackgasse, das sich einstellen kann. Die Gelben Westen haben es bereits geschafft, zum Symbol zu werden. Eine Mehrheit der Französ*innen glaubt, sich mit diesem Symbol gegenüber Herrn Macron besser Gehör verschaffen zu können.“

Der Grad der Politisierung und die Ausdrucksfähigkeit der überwiegenden Mehrheit der Gelben Westen, die von der Presse interviewt wurden, die oft als randständig oder ländlich, frustriert oder rustikal dargestellt werden, ist ebenfalls überraschend. Wie der Historiker der Arbeiter*innenklasse Gérard Noiriel betont: „Was mir in der Bewegung der Gelben Westen auffällt, ist die Vielfalt ihrer Profile, insbesondere die große Anzahl von Frauen, während die Funktion der Sprecher bisher meist Männern vorbehalten war. Die Leichtigkeit, mit der sich diese populären Anführer*innen jetzt vor den Kameras ausdrücken können, ist eine Folge einer doppelten Demokratisierung: die Anhebung des Schulniveaus und die Verbreitung audiovisueller Kommunikationstechniken in allen Bereichen der Gesellschaft. Diese Kompetenz wird heute von den Eliten völlig abgelehnt; dies verstärkt das Gefühl der Verachtung unter den Menschen.“

Wie wir bereits in verschiedenen Artikeln hervorgehoben haben, besteht die Bewegung in ihrer überwiegenden Mehrheit aus einer weißen Arbeiter*innenklasse, die durch die relative Deindustrialisierung des Landes seit den 1980er Jahren verarmt ist. Sie besteht auch aus selbständigen Kleinunternehmer*innen, untergeordneten freien Berufen sowie Kleinkapitalist*innen, wobei die letzten beiden Kategorien mit der so genannten verarmten Mittelschicht verbunden sind. Die Krise 2008/9 spielte eine wichtige Rolle bei der Beschleunigung dieser Phänomene der Verarmung und „Deklassierung“, um den Titel des Essays des Soziologen Eric Maurin zu verwenden, Die Angst vor der Deklassierung, d.h. dieser „tauben Qual, die eine wachsende Zahl von Franzosen heimsucht und die auf der Überzeugung beruht, dass niemand ’sicher‘ ist, dass jeder Gefahr läuft, seinen Arbeitsplatz, sein Gehalt, seine Rechte, kurz gesagt seinen Status zu verlieren. Indem sie die Bedrohung greifbarer machen, bringen Krisen diese Angst auf ihren Höhepunkt.“

Zu dieser Realität kommt die völlige Unsichtbarkeit der Arbeiter*innenklasse und der Massen in den meisten politischen Bereichen hinzu. Der bürgerliche Block, den Macron geschaffen hat, hat das zu seinem Markenzeichen gemacht, im Gegensatz zu der Linken und der klassischen Rechten, die in den letzten Jahrzehnten die Macht in Frankreich geteilt haben. Le Monde wies darauf hin, wie Macron diese Verachtung der herrschenden Klassen für die Arbeiter*innenklasse zu ihrem Höhepunkt führte, indem er sich über aktuelle Bewegung der Gelben Westen erhob: „Der andere große Missstand ist der Eindruck, nicht zu zählen, von politischen Anführer*innen für ‚Scheiße‘ gehalten zu werden. In dieser Hinsicht ist Marie Pedrabissi unerschöpflich. Die 40-jährige Frau, die ‚im selben Jahr wie Macron‘ geboren wurde, konnte es nicht ertragen, dass der Präsident der Republik Menschen wie sie ‚beleidigte‘, eine Ärztin, die sich nach zwei Burn-Outs im Wiedereinstieg in den Beruf befindet. ‚Er sagt uns, ihr seid aufmüpfige, faule Franzosen. Aber was glaubt er, wer er ist? Mein Vater? Zu jung. Wir brauchen einen De Gaulle.‘ Ihrer Meinung nach sind ‚Worte noch wichtiger als Taten‘, und die des Staatsoberhauptes verraten seine Arroganz. Für wen hat sie gestimmt? Sie versteckt ihr Gesicht in ihrem Schal, zur Hälfte lachen. ‚Ich hatte keine Wahl….‘ Marine Le Pen? ‚Oh, nein, nein, nein! Ich verbrachte neun Monate in einer arabischen Gebärmutter: Meine Mutter war syrisch-libanesisch‘.

Ausgehend von dieser klassenübergreifenden sozialen Basis – die in der überwiegenden Mehrheit der Arbeiter*innenklasse angehört (welche sich aber infolge des Rückgangs der Organisation und des Bewusstseins der Arbeiter*innenbewegung in Verbindung mit der versöhnlerischen Haltung der Gewerkschaftsbürokratie nicht als Proletariat versteht) und bis hin zu den Sektoren der deklassierten Mittelschicht mit kleinbürgerlichen Merkmalen reicht, über die Zwischenschichten der Selbständigen – entsteht der uneinheitliche Charakter der sozialen und wirtschaftlichen Forderungen, die die Bewegung trägt. Einige sind eindeutig progressiv, wie die Erhöhung des Mindestlohns oder die Streichung einiger indirekter Steuern, während andere viel unklarer sind, wie beispielsweise Forderungen nach einer Senkung der „Arbeitgebergebühren“.

Die demokratischen Bestrebungen der Gelben Westen sind ihrerseits absolut fortschrittlich und drücken eine radikale Kritik an der Machtausübung und ihrer Praxis aus. Das zeigt die Tatsache, dass die beiden Delegationen der Gelben Westen, die vom Umweltminister und vom Premierminister Edouard Philippe empfangen wurden, fordern konnten, dass die Diskussionen live auf Facebook übertragen werden. Zu den „Missständen“, die die Gelben Westen anprangern, gehören auch andere Forderungen wie die Abschaffung des Senats oder die Forderung, dass gewählte Amtsträger*innen einen durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn erhalten sollen. Dies ist Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber den Verfassungsinstitutionen und eines Bestrebens, dass das Gesetz für alle gleich sein sollte. Noiriel weist darauf hin, dass „das populäre Misstrauen gegenüber der parlamentarischen Politik eine Konstante in unserer Zeitgeschichte war. Der Wunsch der Gelben Westen, eine politische Vereinnahmung ihrer Bewegung zu vermeiden, steht im Einklang mit einer immer wiederkehrenden Kritik an der dominanten Konzeption der Staatsbürger*innenschaft. Die Bourgeoisie hat sich immer für die Delegation der Macht ausgesprochen: ‚Wählt uns und wir kümmern uns um alles‘. Dennoch lehnten schon die Sans-Culottes seit Beginn der Französischen Revolution diese Enteignung des Volkes ab und befürworteten eine populäre Konzeption der Staatsbürger*innenschaft, die auf direktem Handeln beruht. Eine der positiven Folgen der neuen Technologien, die durch das Internet gefördert werden, ist, dass sie es ermöglichen, diese Praxis der Bürger*innenschaft zu reaktivieren, indem sie das direkte Handeln der Bürger*innen erleichtern. Die Gelben Westen, die die Straßen blockieren und jede Form der politischen Vereinnahmung ablehnen, sind eine verwirrende Fortsetzung des Kampfes der Sans-Culottes in den Jahren 1792-1794, der kämpfenden Bürger*innen vom Februar 1848, der Kommunard*innen von 1870-1871 und der Anarchosyndikalist*innen der Belle Epoque“. Dies ist ein radikaldemokratischer Aspekt, der dem Präsidentialismus der Fünften Republik und seinen Mechanismen zuwiderläuft. Diese werden offen von der Rechten verteidigt, von François Mitterrand und den Sozialist*innen seit 1981 akzeptiert und legitimiert und von der Rassemblement National (ex-Front National) von Marine Le Pen offen beansprucht. Auch in diesem Punkt verteidigen die Gelben Westen eine viel weitergehende Konzeption als alle bürgerlichen Politiker*innen des imperialistischen Regimes, aber leider auch als die radikale Linke. Sei es aufgrund von Arbeitertümlerei oder aufgrund von Syndikalismus, die Linke versteht im Endeffekt nicht die revolutionäre Bedeutung dieser Forderungen, um im Kampf um die Macht der Arbeiter*innen voranzukommen.

Bildet sich ein antibürgerlicher Block? Die skandalöse Orientierung der Führung der Arbeiter*innenbewegung

Die Kombination aus der Schwäche der Gewerkschaften bei der Kanalisierung von Wut einerseits und andererseits dem Vorhandensein einer entschlossenen Macht auf den Straßen, wie 1968, lässt die intelligentesten Sektoren des Kapitals befürchten, dass eine für die Bourgeoisie extrem schwierige Zeit bevorsteht. Die vergossenen Tränen über die „Vermittlungsinstanzen“ sind der Ausdruck dieser wahrgenommenen Gefahr – insbesondere im Zusammenhang mit der ersten landesweiten Mobilisierung der Gelben Westen, die sich fortsetzen wird –, während das Machtzentrum, auf dem das gesamte Regime der Fünften Republik basiert, nämlich die Präsidentschaft Macrons, sehr geschwächt und isoliert ist. Alexis de Toqueville hatte sich bereits in seinem Werk Der Alte Staat und die Revolution für eine solche Situation interessiert, wo die Zentralregierung während einer Krise „vor ihrer Isolation und Schwäche Angst hat; sie möchte dafür die individuellen Einflüsse oder politischen Vereinigungen, die sie zerstört hat, wiederbeleben; sie ruft um ihre Hilfe; niemand kommt, und sie ist gemeinhin überrascht, die Menschen tot zu finden, die sie selbst getötet hat“.

Darüber hinaus ist die ultrakonservative Reaktion und Feindseligkeit aller Gewerkschaftsführungen gegenüber der Bewegung der Gelben Westen hervorzuheben. Das gilt für die Kollaborateur*innen der CFDT und ihren Chef Laurent Berger ebenso wie für die „Kämpfer*innen“ der CGT und hinter ihr die „Solidaires“. Dies ist ein ziemlich sprechendes Zeugnis für die Angst der Gewerkschaftsführungen, von ihrer Basis überholt zu werden, und für ihre Weigerung, zu einer großen politische Mobilisierung aufzurufen, die die Frage der Macht aufwirft. Die Befürchtung, dass der Zorn von Millionen von Arbeiter*innen in kleinen Unternehmen, die oft von den Gewerkschaften alleine gelassen werden, die organisierten Arbeiter*innen mit mehr Erfahrung – die aber unabhängig von ihrer Kampfbereitschaft nicht in der Lage sind, über ihre Gewerkschaftsführung hinauszugehen, weil ihnen eine alternative Strategie fehlt – anstecken könnte, erklärt die offen spalterische Haltung von Philippe Martinez und der CGT gegenüber der Bewegung.

Die absolut kriminelle Ausrichtung der Gewerkschaftsführungen besteht gerade darin, die Weigerung zum Eingriff in die Situation damit zu rechtfertigen, dass bestimmte Ambivalenzen und Widersprüche, die von den Gelben Westen auf sozioökonomischer Ebene zum Ausdruck gebracht werden, als Sprungbrett für die Rechte oder die extreme Rechte dienen könnten. Aber es wäre übereilt, einen Vergleich zwischen der aktuellen Bewegung und der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung zu ziehen, d.h. zwischen einer spontanen Bewegung und einer von Beginn an sehr stark von oben strukturierten Bewegung, oder sogar zwischen der aktuellen Bewegung und der rechtsradikalen Aktion vom 6. Februar 1934. Darauf weist der Ökonom und Essayist Bruno Amable in einem in der Libération veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Hin zu einem antibürgerlichen Block“ hin: „Und wenn der Zorn der Gelben Westen vor allem die von der Regierung auferlegte radikale neoliberale Transformation untergräbt? (….) Würde die Bewegung der Gelben Westen den ersten Schritt zur Schaffung eines solchen Blocks darstellen? Vorbehaltlich weiterer Studien scheint die Zusammensetzung der Bewegung, der Arbeiter*innenklasse und der „niederen“ Mittelschicht, dafür angemessen zu sein. Aber die Bildung eines sozialen Blocks erfordert eine politische Strategie, insbesondere in seiner wirtschaftlichen Dimension. Es ist die Antwort auf diese Frage, die den wahren Charakter der Bewegung der Gelben Westen bestimmen wird: ein reaktionärer Ausdruck, wie sie die Tea Party in den Vereinigten Staaten oder Pegida in Deutschland sein kann, oder der Beginn der Zusammenführung der Kämpfe, die seit ‚Nuit Debout‘ so lange erwartet wurde“ [1].

Gegen den objektivistischen Defätismus, der heute die meisten radikalen Linken in Frankreich kennzeichnet und der den Ursprung ihrer abstentionistischen Orientierung bildet, weist Amable zu Recht darauf hin, dass das Ergebnis der Gelben Westen-Bewegung offen bleibt und dass sie sich nach links oder rechts entwickeln könnte. Aber die Heterogenität und Verwirrung der Gelbe Westen-Bewegung ist keine Ausnahme, sondern eine Regel, wenn es um die Momente geht, in denen Massensektoren nach langen Zeiten des ideologischen Niedergangs handeln. Revolutionär*innen werden mit Sicherheit in ähnliche Prozesse eingreifen müssen. Das Schlimmste wäre, Angst vor diesen Elementen der Verwirrung, der Unreife, ja sogar reaktionären Vorurteilen dieser Massen zu haben. Wie Leo Trotzki in einem Text über einen offenen revolutionären Prozess wie den spanischen Bürger*innenkrieg hervorhob, in dem er eine Reihe von Parallelen und Gegensätzen mit der russischen Situation 1917 aufzeigt: „Ein Sieg ist keineswegs die reife Frucht der „Reife“ des Proletariats. Der Sieg ist eine strategische Aufgabe. Die günstigen Umstände einer revolutionären Krise müssen dazu genutzt werden, die Massen zu mobilisieren; der gegebene Stand ihrer „Reife“ muss als Ausgangspunkt genommen werden, um sie weiter vorwärts zu treiben (…) Genau so abstrakt, pedantisch und falsch ist der Hinweis auf die „Rückständigkeit“ der Bauernschaft. Wann und wo hat unser Weiser in der kapitalistischen Gesellschaft je eine Bauernschaft mit einem unabhängigen revolutionären Programm oder mit der Fähigkeit zu unabhängiger revolutionärer Initiative beobachtet? (…) Um aber die gesamte Bauernschaft aufzuwiegeln, hätte das Proletariat mit einer entschiedenen Erhebung gegen die Bourgeoisie ein Beispiel geben und unter den Bauern den Glauben an die Möglichkeit des Sieges schüren müssen. Währenddessen wurde die revolutionäre Initiative des Proletariats selbst bei jedem Schritt durch seine eigenen Organisationen gelähmt.“

Für eine hegemoniale Politik der Arbeiter*innenklasse und für ein Bündnis der Arbeiter*innen und der Massen gegen Macron und seine Welt

Eine Orientierung auf den Aufbau lokaler Aktionskomitees, welche gewerkschaftlich organisierte und nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen, Gelbe Westen, kämpferische Studierende und Jugendliche aus der Nachbarschaft zusammenfasst, könnte ein Instrument dafür sein, um die konservative Blockade der Mobilisierung zu überwinden, die die Gewerkschaftsapparate in den Händen der Bürokratie darstellen.

Angesichts der gegenwärtigen Bewegung und gegen jede normative Steifheit geht es darum, die propagandistischen oder belehrenden Tendenzen zu vermeiden, die einer Reihe von linksradikalen Sektoren gemeinsam sind, die sich ein abstraktes und ideales Bild des Klassenkampfes machen und verlangen, dass die Klasse absolut rein ist und sich von anderen Sektoren löst, die für sie als notwendigerweise reaktionär gelten. Wenn die radikale Linke nicht nur am Rande stehen will, muss sie sich auf die strategische Kühnheit eines Trotzkis stützen, der seine Strategie der Arbeiter*innen auf eine Taktik anwandte, die 1935 die Bildung von Aktionskomitees der Volksfront forderte, einige Monate bevor diese an die Macht kam. „Jede Bevölkerungsgruppe, die sich wirklich am Kampf in der augenblicklichen Etappe beteiligt und bereit ist, sich der gemeinsamen Disziplin zu unterwerfen“, schrieb Trotzki im November 1935, „soll gleichberechtigt auf die Führung der Volksfront einwirken können. Je zweihundert, fünfhundert oder tausend Bürger, die sich in einer bestimmten Stadt, einem Stadtteil, einer Fabrik, einer Kaserne, in einem bestimmten Dorf der Volksfront anschließen, müssen während der Kampfhandlungen ihren Vertreter in ein lokales Aktionskomitee wählen. Alle Teilnehmer des Kampfes verpflichten sich, die Disziplin dieses Komitees anzuerkennen.“

Trotzki sah in diesen Komitees ein wertvolles Instrument der revolutionären Allianz mit der Kleinbourgeoisie und betonte: „Allerdings können an den Wahlen zu den Aktionskomitees nicht nur Arbeiter, sondern auch Angestellte, Beamte, Kriegsteilnehmer, Handwerker, Kleinhändler und Kleinbauern teilnehmen. Auf diese Weise entsprechen die Aktionskomitees vortrefflich den Aufgaben des Kampfes des Proletariats um den Einfluss auf das Kleinbürgertum. Dafür aber erschweren sie ungemein die Zusammenarbeit der Arbeiterbürokratie mit der Bourgeoisie.“ [2].

Dies war in der Tat das zentrale Ziel von Trotzkis Taktik, insofern als „die erste Vorbedingung dafür ist: klar selber die Bedeutung der Aktionskomitees begreifen als das einzige Mittel, den antirevolutionären Widerstand der Partei- und Gewerkschaftsapparate zu brechen.“

Eine solche strategische Ausrichtung kann es ermöglichen, das Haupthindernis dafür zu überwinden, dass sich der Kampf der Gelben Westen auf andere Sektoren der Arbeiter*innenklasse ausweitet – nämlich die Politik der Gewerkschaftsführungen – , aber auch auf die Studierenden und die Jugendlichen in den Nachbarschaften und vor allem auf die konzentriertesten Bataillone des Proletariats, die durch ihre Stellung innerhalb des Systems die Produktion behindern und Macron und die Bourgeoisie niederwerfen können. Wir stellen uns gegen jede Abkürzung, die darin bestehen würde, die strategische Bedeutung des Proletariats der großen Fabriken und Dienstleistungen zu umgehen, oder die sich auf die Konzeption eines einfachen antibürgerlichen, linken oder populistischen Blocks auf Wahlebene beschränken würde. Denn diese sind absolut unfähig, Macron und seine Welt zu schlagen. Dies kann nur eine solche Strategie, die es ermöglichen wird, eine progressive Lösung für die tiefe Krise, die wir erleben, anzubieten.

Fußnoten

1. Amable weist darauf hin, dass „die Frage des Widerstandes gegen die Besteuerung (unter anderem von Diesel) komplexer ist, als es scheint. Die Ablehnung der Steuer ist ein klassisches rechtsgerichtetes Thema, und einige Regierungsmitglieder haben versucht, die Forderung nach „weniger Steuern“ als Bestätigung der Gültigkeit der Macron’schen Wirtschaftsagenda zu nutzen. Einige verwandte Themen (wir tun nichts für uns selbst, wenn wir zu viel für Migrant*innen, die „Vandalen“, die Arbeitslosen…. ausgeben) zeugen auch von der Existenz rechter Erwartungen innerhalb bestimmter Gruppen der Arbeiter*innenklasse. Aber eine solche Entwicklung ist nicht unvermeidlich. Das Thema der Kaufkraft einkommensschwacher Haushalte, das allen Ansprüchen der Gelben Westen zugrunde liegt, ist ein linkes Thema. Die Ablehnung der Steuer ist auch untrennbar mit der Beobachtung einer Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen (der Eindruck, für nichts zu bezahlen) verbunden. Die Verteidigung dieser Dienste ist ein linkes Thema par excellence. Die Erhöhung bestimmter Steuern, die die Kaufkraft der Arbeiter*innen- und Mittelschicht belasten, die Kürzung von Wohngeldern und anderen Transfers, kann nicht von der Abschaffung der Vermögenssteuer oder der Senkung der Sozialversicherungsbeiträge getrennt werden“.

2. Er fügte hinzu: „Es handelt sich nicht um die formell-demokratische Vertretung aller und jeder Massen, sondern um die revolutionäre Vertretung der kämpfenden Massen. Das Aktionskomitee ist der Apparat des Kampfes. Es ist nicht nötig, im voraus zu erraten, welche Schichten der Werktätigen nun gerade an der Schaffung der Aktionskomitees beteiligt sein werden: die Grenzen der kämpfenden Massen werden sich im Kampf von selbst ergehen.“

Dieser Artikel bei Révolution Permanente.

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