Die nationale Befreiung der Palästinenser:innen und die Unvollständigkeit der arabischen Revolutionen

23.12.2023, Lesezeit 25 Min.
Übersetzung:
1
Foto: ymphotos / Shutterstock.com

Die revolutionären Wellen in arabischen Staaten wie Ägypten, Syrien, Jemen und Libyen konnten nicht zu Ende geführt werden. Ein kritischer Rückblick ermöglicht neue Perspektiven auf die Befreiung Palästinas.

Die extreme Gewalt des israelisch-palästinensischen Konflikts und die Verwüstung, die der israelische Einmarsch in den Gazastreifen nach dem Angriff vom 7. Oktober angerichtet hat, sind in jeder Hinsicht erschütternd. Angesichts der scheinbar unüberwindbaren Sackgasse, die sich aus 75 Jahren teils verstecktem, teils offenem Krieg und der ständigen Ausweitung des kolonialen Einflusses Israels ergibt, ist ein analytischer Schritt zurück notwendig. So wie es unmöglich ist, die aktuelle Situation zu verstehen, ohne weit vor Oktober 2023 zurückzublicken, wird auch keine politische Lösung ersichtlich, wenn man den Fokus nicht erweitert. Wie die palästinensischen Trotzkist:innen stets betont haben, ist die palästinensische Sache untrennbar mit der arabischen Revolution verbunden. Die historische Anomalie, die das Fortbestehen der Kolonialherrschaft in Palästina darstellt, ist auch eine der Folgen der Unvollständigkeit der revolutionären Wellen, welche die arabische Welt durchzogen haben. Angesichts des Schwankens und des Versagens der historischen Führungen der palästinensischen Bewegung ist ein dauerhafter und vollständiger Ausgang des palästinensischen und arabischen Befreiungskampfes nur möglich, wenn das Proletariat in Palästina und im Nahen Osten seine Aktionsmethoden und sein Programm – im Bündnis mit den entschieden antikolonialistischen Sektoren in Israel und dem Rest der Welt – durchsetzt. Über die Zukunft nachzudenken bedeutet, sich durch einen kritischen Rückblick in die Vergangenheit von der ausschließlichen Betrachtung der aktuellen Nachrichten zu lösen.

Der Staat Israel – eine historische Anomalie

Der Staat Israel in seiner heutigen Form – und nicht nur die von Benjamin Netanjahu angeführte rechte bis extrem rechte Koalitionsregierung – ist eine historische Anomalie. Die Entstehung des Staates Israel geht nicht auf den Holocaust zurück, obgleich der unsägliche Völkermord, der auf dem „alten Kontinent“ von europäischen Staaten verübt wurde, und der anhaltende Antisemitismus im Nachkriegseuropa viele jüdische Überlebende dazu veranlasste, ihr Heil in der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina und später in der Auswanderung nach Israel zu suchen. Wie die USA oder Südafrika entstand auch der Staat Israel aus einem kolonialen Projekt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass verfolgte Bevölkerungsgruppen außerhalb des Landes, in dem sie geboren wurden, Zuflucht suchen, zu Siedler:innen werden und in Konflikt mit der einheimischen Bevölkerung geraten. In gewissem Sinne war dies auch der Fall für die britischen Puritaner:innen auf ihrem Weg an die Ostküste der heutigen Vereinigten Staaten, für die französischen Hugenott:innen, die nach der Annullierung des Edikts von Nantes zur Kolonisierung des späteren Südafrika beitrugen, oder auch für die europäischen Jüd:innen, die sich ab Ende des 19. Jahrhunderts in Palästina niederließen. Die Kolonialfrage ist in den USA, einem Staat, der sich auf der Grundlage des transatlantischen Handels gebildet hat und dessen territoriale Ausdehnung mit einem langen Völkermord an den indigenen Völkern einherging, noch lange nicht gelöst. Ebenso wenig ist die Frage in Südafrika gelöst, dessen Konstituierung als Staat durch eine  lange Reihe von Kriegen und Massakern geprägt wurde. Dies zeigen insbesondere die Bewegung Black Lives Matter und die Mobilisierungen gegen die soziale Apartheid in Südafrika.

Als Folge der Bürgerrechtsbewegung und der Anti-Apartheid-Bewegung wurde die Segregation in den USA und Südafrika (sowie in dortigen sogenannten „Homelands“) in den 1960er Jahren beziehungsweise im Jahr 1991 abgeschafft. Sie besteht jedoch im Staat Israel fort, dessen Kolonial- und Apartheidspolitik in den letzten drei Jahrzehnten, beginnend mit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens zwischen der damaligen Regierung und der historischen Führung der palästinensischen Bewegung unter Jassir Arafat, nur noch verstärkt wurde. Diese Situation ist das Ergebnis der Sackgasse und der Illusion in die Zwei-Staaten-Lösung, welche die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) verfolgte – eine „Lösung“, die nie eine war. Ganz im Gegenteil blockierte sie das Rückkehrrecht der Palästinenser:innen nachträglich und garantierte weder die „territoriale Lebensfähigkeit“ Palästinas, noch sah sie Ostjerusalem als Hauptstadt vor. Stattdessen festigte sie die Zersplitterung in mehrere Einheiten zwischen dem Westjordanland und Gaza – demselben Landstreifen, den Netanjahu heute wieder militärisch besetzen will. Dieser Umstand ist auch Konsequenz der Unvollständigkeit der arabischen revolutionären Prozesse, die in der Zwischenkriegszeit begannen, während der Entkolonialisierung weitergeführt und in den 1960er und 1970er Jahren sowie in jüngerer Zeit mit der fälschlicherweise als „Arabischer Frühling“ bezeichneten revolutionären Bewegung fortgesetzt wurden. Letztere wurde unter aktiver Beteiligung der imperialistischen Mächte, im Falle Syriens und des Jemens zusammen mit anderen regionalen Akteuren, die die Speerspitze der bewaffneten Konterrevolution im Nahen und Mittleren Osten bilden (Türkei, Iran und Saudi-Arabien), im Keim erstickt.

Auch wenn der Staat Israel in mancher Hinsicht an die USA und Südafrika erinnern mag, so unterscheidet er sich doch grundlegend von ihnen, da er auf eine Entkolonialisierungsbewegung gestoßen ist, die weit über die Grenzen des Mandatsgebiets Palästina hinausging: die Befreiungsbewegung der arabischen Völker. Die heutigen arabischen Staaten sind das Ergebnis der Zerschlagung des ehemaligen Osmanischen Reiches durch die imperialistischen Siegermächte des Ersten Weltkriegs, für die das Sykes-Picot-Abkommen zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich ein wichtiger Meilenstein war. Im konkreten Fall des Mandatsgebiets Palästina wurde das koloniale Projekt, das der Zionismus darstellt, vom britischen Imperialismus unterstützt und gefördert, der zuvor die arabischen Unabhängigkeitsbestrebungen gegen das Osmanische Reich unterstützt hatte. Von Anfang an also, sowohl während des Großen Arabischen Aufstands von 1936 bis 1939 im Mandatsgebiet Palästina gegen den Kolonialismus und die zionistische Einwanderung als auch während des UN-Teilungsplans von 1947 und dann während aller nachfolgenden israelisch-palästinensischen Konflikte (insbesondere 1948, 1967 und 1973), ging die Palästinafrage weit über die strikten Grenzen dessen, was ein palästinensischer Staat hätte sein sollen oder können, hinaus. Sie wurde zu einem Banner für die gesamte arabische Welt, insbesondere innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Dies ist nicht nur auf eine Frage der kulturellen und sprachlichen Einheit zurückzuführen, sondern vielmehr darauf, dass die Palästinafrage, noch bevor sie mit dem Zionismus konfrontiert wird, eine grundlegende Frage des antikolonialen Befreiungskampfes in einer Region ist, die auf dem Altar der imperialistischen Interessen und nebenbei auch der Interessen der angloamerikanischen Ölkonzerne zerstückelt wurde.

Die Unvollständigkeit der arabischen Revolutionen

Wie in Afrika stellten die Grenzen, die durch die koloniale Kontrolle im Nahen und Mittleren Osten entstanden, ein Hindernis für die Vereinigung des Proletariats und der Volksmassen der arabischen Welt dar: Diese fühlen sich noch immer durch nationale Grenzen gespalten, die sie nicht gewählt haben, die aber bestehen bleiben und deren Hüter die heutigen arabischen Staaten sind. Nach Erlangen der Unabhängigkeit haben die reaktionären Regime der ehemaligen Kolonialmächte – einschließlich der Monarchien Jordaniens, des Irak, der Golfmonarchien und -fürstentümer –, aber auch die bürgerlichen nationalen Parteien, die in den arabischen Staaten an der Macht waren oder später an die Macht kamen, aktiv daran gearbeitet, die nationalen Grenzen, die das Proletariat in den arabischen Ländern spalten, aufrecht zu halten. Dies gelang ihnen trotz der Hoffnungen, die der Panarabismus und die gescheiterten Vereinigungsversuche unter Gamal Abdel Nasser zwischen 1958 und 1961 geweckt hatten. Im konkreten Fall der Palästinenser:innen war das Handeln der arabischen Staaten, ob sie nun von konservativen und reaktionären Regimen oder von sich selbst als „sozialistisch“ bezeichnenden Regierungen geführt wurden, bestenfalls eine angeblich solidarische Haltung, in der Regel aber eine verbrecherische Politik. Davon zeugen die Zerstückelung Palästinas in die Gebiete Gaza und Westjordanland durch Jordanien und Ägypten nach der Teilung und bis 1967, die rassistische und diskriminierende Politik gegenüber den Millionen Flüchtlingen von 1948, 1967 und 1973 in Jordanien, Syrien und dem Libanon, die Komplizenschaft mit den imperialistischen Mächten, um jede linke Äußerung der palästinensischen Nationalbewegung einem starren Zwang zu unterwerfen oder sie sogar zu zerschlagen, das Massaker vom Schwarzen September, welches Hussein von Jordanien 1970 verübte, das Massaker von Sabra und Shatila 1982 durch die mit der IDF verbündeten libanesischen Phalangisten oder die Politik der Spaltung und Unterdrückung der palästinensischen Bewegung durch Syrien unter den al-Assads. Wie Trotzki in seinen Thesen zwei und drei über die permanente Revolution nachdrücklich betonte, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution

[i]n [B]ezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, […] daß die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgaben und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als Führer der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen. Nicht nur die Agrarfrage, sondern auch die nationale Frage weist der Bauernschaft, die in den zurückgebliebenen Ländern die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bildet, einen außerordentlichen Platz in der demokratischen Revolution an. Ohne ein Bündnis des Proletariats mit der Bauernschaft können die Aufgaben der demokratischen Revolution nicht nur nicht gelöst, sondern auch nicht ernstlich gestellt werden. Das Bündnis dieser zwei Klassen ist aber nicht anders zu verwirklichen als im unversöhnlichen Kampf gegen den Einfluß der national-liberalen Bourgeoisie.1

Auch wenn die Bauernschaft in den heutigen stark urbanisierten arabischen Staaten nicht mehr ihre frühere Stellung hat, stellt sich immer noch die Frage nach der Vereinigung des Proletariats mit anderen untergeordneten sozialen Schichten, angefangen bei den Armen und der großen Masse der Ausgegrenzten in den Städten. Dasselbe gilt für die notwendige Abgrenzung zu den Kräften der nationalen Bourgeoisie, die im Laufe des letzten Jahrhunderts und in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ihre Unfähigkeit bewiesen hat, konsequent für ein einheitliches und antiimperialistisches Projekt für die arabische Welt einzutreten. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Entkolonialisierungsbewegungen in der arabischen Welt, die eine echte Basis im Volk hatten, von neuen kleptokratischen nationalen Bourgeoisien vereinnahmt wurden, sodass sich die arabischen Staaten immer noch in einer Lage der Abhängigkeit und unter autoritären Regimen befinden, in denen das Militär und die Sicherheitskräfte weiterhin eine sehr wichtige Rolle spielen. Dies geschieht oft mit der Unterstützung der ehemaligen Kolonialmächte, unter dem Deckmantel der „militärischen Zusammenarbeit“ insbesondere Frankreichs in Marokko, Tunesien und Algerien oder den USA in Ägypten.

Im weiteren Sinne bleibt die Palästinafrage, die im Zentrum des Prozesses der Zersplitterung des postosmanisch-arabischen Raums in eine Vielzahl unabhängiger Staaten steht, die mehr oder weniger Marionetten imperialistischer Interessen sind, untrennbar mit der Unvollständigkeit der arabischen Revolutionen verbunden. Das palästinensische Volk ist ein Produkt des Kolonialismus, ebenso wie das jordanische, syrische, irakische oder libanesische Volk. Doch während sie wirtschaftlich und in gewissem Maße weiterhin von den Halbkolonien abhängig sind, haben alle arabischen Völker mit Ausnahme der Palästinenser:innen eine formale Unabhängigkeit von den ehemaligen Kolonialmächten erlangt. Dies geschah zwischen dem Zeitpunkt der Entkolonialisierung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, der auch als zweite revolutionäre Welle nach derjenigen der späten 1930er Jahre bezeichnet wird, und spätestens zwischen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre für die letzten britischen Kolonialenklaven auf der arabischen Halbinsel. Eine streng genommen koloniale Situation besteht nur noch in Palästina. Dies ist eine Anomalie, die sich größtenteils auf die anhaltende Unterstützung des Staates Israel durch die Westmächte und das Fortbestehen halbkolonialer Verhältnisse in der übrigen arabischen Welt zurückführen lässt. Aus diesem Grund wurde die Palästinafrage in allen revolutionären Prozessen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in jüngster Zeit in den 2010er Jahren gleichzeitig in allen Bewegungen, die die autoritären oder reaktionären arabischen Regime in Frage stellten, aufgeworfen.

Wäre die revolutionäre Welle von 2010 bis 2011 bis zum Ende fortgeschritten, hätte sie die Karten im Nahen Osten neu mischen und eine Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt herbeiführen müssen. Das Fehlen einer revolutionären Massenorganisation und die imperialistische Einmischung erleichterten den Triumph der Konterrevolution erheblich. Sie nahm verschiedene Formen an, darunter die Rückkehr des Militärregimes in Ägypten sowie Bürgerkriege in Syrien, Jemen und Libyen.

Das Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung, der Aufstieg islamistischer Gruppen und der 7. Oktober

Die Enklaven Gaza und Westjordanland sind weit davon entfernt, einen echten Staat zu bilden, und befinden sich seit Jahren in einer untragbaren Situation, sowohl in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die elementarsten Menschenrechte. Ihre Bevölkerung ist Geisel des kolonialen Apartheidregimes Israels, das von den westlichen Mächten sowohl offen als auch verdeckt unterstützt wird – den endlosen und wirkungslosen Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zum Trotz.

Islamistische Organisationen wie die Hamas und der Islamische Dschihad gewannen nach der Kapitulation der PLO im Osloer Abkommen von 1993, dem Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung und der Verschärfung des israelischen Siedlungsbaus, der sogar vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angeprangert wurde, an Popularität und erlangten in Gaza eine echte Basis im Volk. Das Wachstum der palästinensischen islamistischen Bewegungen seit den 1990er Jahren lässt sich einerseits durch das Scheitern der historischen nationalen Führung der palästinensischen Bewegung erklären, der sie einen kompromisslosen Nationalismus entgegensetzten. Andererseits aber auch teilweise damit, dass sie ein politisches Projekt vorschlugen, das über den strengen nationalen Rahmen hinausging und die gesamte muslimische Welt umfasste, während die „große arabische Sache“ von ihren historischen nationalistischen politischen Führungen aufgegeben wurde; entweder weil sie sich aufgelöst oder aber sich der neoliberalen Kleptokratie zugewandt haben und generell dem Diktat der imperialistischen Mächte unterworfen waren.

In diesem Sinne füllten die islamistischen Führungen in Palästina wie auch anderswo in der arabisch-muslimischen Welt ein Vakuum und wurden von bestimmten Teilen der Arbeiter:innenklasse als Weiterträger eines Bestreben wahrgenommen, das zuvor von den Nationalisten oder der arabischen Linken verkörpert worden war. Die Hamas, die in den 1980er Jahren unter der Führung der Muslimbruderschaft entstand und zunächst als streng quietistische Bewegung konzipiert war, die sich für die Re-Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft in einer rigorosen Form einsetzte – und als solche lange Zeit von Israel unterstützt und finanziert wurde –, wurde erst während der ersten Intifada 1988 wirklich gegründet, ebenso wie ihr militärischer Arm und die anderen palästinensischen Organisationen. Die Hamas profitierte von den Rückschlägen der Fatah beziehungsweise PLO, stellte sich, insbesondere durch die Zunahme von Selbstmordattentaten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, als Verteidigerin einer harten Linie dar und stützte sich auf das Gefühl des Scheiterns, resultierend aus dem Oslo-Abkommen und der Unterwerfung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) unter die zionistische Agenda. Insbesondere in ihrer Hochburg Gaza war die Hamas damit erfolgreich und gewann 2006 die Kommunalwahlen. In einer teilweise widersprüchlichen Bewegung, die Druck auf ihre regionalen Unterstützer (allen voran Iran und Katar) ausübte, um entweder die Konfrontation mit Israel zu verschärfen oder die Spannungen mit dem Ziel abzubauen, als politische Vertreterin des Mikro-Protostaates im Gazastreifen anerkannt zu werden und möglicherweise die Fatah in der PNA zu ersetzen, war die Hamas immer von mehreren Linien durchzogen. Eine vollständig kapitalistische Regierung in Gaza, die internationale, UN- und arabische Hilfe mitverwaltet und das Überleben der Bevölkerung organisiert, aber gleichzeitig eine Widerstandsbewegung, die in der nationalen Frage absolut kompromisslos war, während die PNA und die Fatah nur Zugeständnisse und Rückschritte machten. Die Hamas war in den letzten Jahren mit einer komplexeren Situation konfrontiert, auch im Hinblick auf die Jugend im Gazastreifen und im Westjordanland, die nach dem Scheitern des „Marsches der Rückkehr“ im Frühjahr 2018 weniger überwacht wird als zuvor.

Angesichts der Verschärfung der israelischen Kolonialherrschaft entschied sich der israelische Militärapparat nach dem 7. Oktober für eine beispiellose Offensive, bei der militärische Ziele – im Sinne dessen, was historisch gesehen den Widerstand gegen die Besatzer ausmacht – mit absolut nicht-militärischen Zielen vermischt wurden. Was auch immer die israelische Propaganda und die Erklärungen der westlichen Regierungen aufgrund der Methoden und Vorgehensweisen während der Offensive vom 7. Oktober behaupten mögen, die abwechselnd mit dem 11. September oder den Anschlägen vom 15. November 2015 in Paris verglichen wird: Hamas, Daesh und al-Qaida sind grundverschiedene Organisationen, obwohl sie alle drei islamistisch sind. Daesh und al-Qaida haben keine Basis in der Bevölkerung, auch wenn es das Fehlen von Wahlen und jeglichem demokratischen Rahmen aufgrund des kolonialen Kontextes unmöglich macht, den Grad der Unterstützung für die Hamas in Gaza und anderswo in den Gebieten genau zu messen. Darüber hinaus stützen sich Daesh und al-Qaida auf keine abgegrenzte nationale Sache, obschon Daesh sich im Rahmen einer religiös und sektiererisch motivierten Bürgerkriegspolitik zum Sprachrohr der sunnitischen Araber:innen im Irak und in Syrien machen wollte, was jeder nationalistischen Logik der Vereinigung der unterdrückten Nation gegen die Besatzer und ihre lokalen Ableger zuwiderläuft. Das politische Projekt der Hamas ist Teil einer nationalen Befreiungsbewegung angesichts der fortdauernden kolonialen Situation, deren Fortbestand und zeitliche Verschärfung sie ebenfalls widerspiegelt. Während die PLO als historische Führung der palästinensischen Nationalbewegung versagt hat, offenbaren die Offensive vom 7. Oktober und ihre Nachwirkungen auch die politischen Ziele der Hamas, ihre Widersprüche und Sackgassen.

Die Organisation, oder zumindest ihr militärischer Arm, welcher diejenigen in Gaza überrumpelt hätte, die 2017 die Möglichkeit eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 in Betracht zogen, plante diese Operation, um 50 Jahre nach dem Krieg von 1973 ihre Offensivfähigkeit zu demonstrieren und ihre Fähigkeit unter Beweis zu stellen, einen übermächtigen militärisch-industriellen Komplex, der von den USA in kaum vorstellbarem Ausmaß subventioniert wird, in die Krise zu stürzen. Die Operation überraschte den israelischen Staat, umging seine hochentwickelten Verteidigungssysteme und erinnerte daran, dass die Sicherheit der Israelis im Rahmen einer kolonialen Situation nicht gewährleistet werden kann. Sie hat jedoch nichts an der strategischen Situation, in der sich die palästinensische nationale Befreiungsbewegung befindet, geändert und ist somit in gewissem Maße ein Eingeständnis der Ohnmacht. Trotz langer militärischer Vorbereitung hat die Hamas keinen wirklichen politischen Plan, um aus dem Status quo und dem Teufelskreis, in dem sie seit mindestens 2008 gefangen ist, auszubrechen. In den letzten Jahren reagierte die Hamas auf die Intensivierung des israelischen Siedlungsbaus und die Fortdauer des Apartheidregimes samt all seinen Demütigungen mit zyklischen Raketenangriffen, die von der israelischen Armee mit intensiven Bombardements beantwortet wurden. Die Hamas ist heute in einer Spirale gefangen, aus der sie mit einer rein kriegerischen und dschihadistischen Abkürzung herauszukommen versucht, die ihrerseits Ergebnis ihrer Misserfolge auf diplomatischer und politischer Ebene ist. Auch wenn der 7. Oktober eine weitaus komplexere Operation als ein Selbstmordattentat war, bleibt er dennoch eine extrem abenteuerliche Offensive, eine Niederlage auf militärischer und politischer Ebene, die eine Partei offenbart, die in Bedrängnis ist und keine Lösung zu bieten hat.

Die bewaffneten Aktionen der Hamas, die von jeder revolutionären Bewegung der Massen in Gaza, im besetzten Westjordanland, im Staat Israel, in der arabischen Welt und in der Diaspora isoliert sind, haben wenig Chancen, die palästinensische Sache qualitativ voranzubringen. Das Abenteurertum, die Übergriffe und die Massaker der Hamas an Zivilist:innen sind Ausdruck der Sackgasse, die die Hamas für die palästinensische Sache darstellt. Die Hamas ist unfähig, die Probleme, vor denen die Palästinenser:innen stehen, zu lösen, weil sie sich nicht auf das arabische Proletariat in Israel und der Region stützt, weil sie jene Teile des Staates Israel abschreckt, die sich dem Siedlungsbau widersetzen könnten, weil sie kein echtes soziales und demokratisches Programm hat und weil sie rein auf den bewaffneten Kampf setzt. Dazu kommen ihre dschihadistische Rhetorik und die Suche nach Unterstützung durch andere, ebenfalls zutiefst konterrevolutionäre Staaten im Nahen Osten wie die Türkei oder der Iran. Kurz gesagt, weil die Hamas eine kleinbürgerliche radikal-islamistische Nationalbewegung ist, ist sie unfähig, die Probleme der sozialen, demokratischen und nationalen Befreiung zu lösen und verzögert sie sogar erheblich. Eine andere politische Führung, die weder die der kapitulierenden und kleptokratischen PLO noch die der Hamas ist, sondern sich auf die arabischen und regionalen proletarischen Massen stützen und die Methoden der Arbeiter:innenbewegung weitertragen kann, ist notwendiger denn je.

Mobilisierungen und revolutionärer Horizont

Auch wenn die palästinensische Sache heute in einer Sackgasse steckt, könnte eine Wiederaufnahme der eingefrorenen arabischen Revolutionsprozesse die Lage ändern. Im Gegensatz zur Einmischung offen konterrevolutionärer Nachbarstaaten wie Abd al-Fattah as-Sisis Ägypten oder Ali Chameneis Iran, die im Übrigen keinen Fuß in den israelisch-palästinensischen Sumpf setzen wollen und mehr als alles andere fürchten, dass sie sich mit den USA auseinandersetzen müssen, die Kriegsschiffe vor der Küste Israels stationiert haben, um ihrem besten Verbündeten in der Region zu Hilfe zu eilen. Die israelischen Bombenangriffe auf den Gazastreifen, die Zwangsumsiedlung der Bevölkerung, die laufende Bodenoperation und das, was der hochrangige UN-Beamte Craig Mokhiber und viele Experten als Völkermord bezeichnen, haben weltweit zu Massenprotesten geführt, die den Palästinenser:innen echte Hoffnung geben. Diese Solidaritätsbekundungen für Palästina  heben sich in ihrer Anzahl von den Demonstrationen der letzten Jahre ab. Es handelt sich wahrscheinlich um die größte Antikriegsbewegung seit der Invasion des Irak im Jahr 2003. Die Zahl von zwei Millionen Demonstrant:innen in Jakarta wurde von zahlreichen Medien verbreitet, der israelische Sender I24 News berichtete von einer Million Teilnehmer:innen an der Kundgebung am 28. Oktober in Istanbul. Die Presse sprach auch von „Monsterdemonstrationen“ in Marokko und von 300.000 bis 800.000 Demonstrant:innen am 11. November in London. In Amman in Jordanien kam es ebenfalls zu massiven und häufigen Demonstrationen. Selbst in Ägypten, wo das Demonstrieren verboten ist, fanden Protestkundgebungen statt – zum ersten Mal seit dem Massaker auf dem Rabia-Platz am 13. und 14. August 2013, das kurz nach dem Putsch von as-Sisi am 3. Juli 2013 stattgefunden hatte.

Diese Mobilisierungen sind noch weit von einer im eigentlichen Sinne revolutionären Perspektive entfernt und das Scheitern der revolutionären Welle von 2011 hat sicherlich zu einer großen Skepsis hinsichtlich der Fähigkeit von Revolutionen geführt, demokratische und soziale sowie Fragen der nationalen Befreiung zu lösen. Darüber hinaus ist es heute schwierig, die Stimmung der Bevölkerung im Nahen Osten richtig einzuschätzen, da in vielen Ländern und insbesondere in Ägypten, dem bevölkerungsreichsten arabischen Land, Forschung verhindert wird. Dies zeigte die Ermordung des italienischen Doktoranden Giulio Regeni am 25. Januar 2016, für die die ägyptischen Geheimdienste verdächtigt werden. Dennoch steht fest, dass in den arabischen Ländern eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Inflation, den autoritären Regimen und den zunehmend umstrittenen imperialistischen Ländern herrscht. Auch wenn sie aufgrund des Triumphs der militärisch-sicherheitspolitischen Konterrevolution in weiter Ferne oder gar undenkbar erscheint, bleibt die proletarische Revolution für die Menschen in der arabischen Welt und im Nahen Osten im Allgemeinen auf lange Sicht der einzige Weg, um aus dem Teufelskreis auszubrechen, in dem sie seit so vielen Jahren gefangen sind. Sie ist der unüberwindbare Horizont eines jeden emanzipatorischen Projekts. In diesem Sinne dürfen die Mobilisierungen gegen den Krieg, der Kampf für die nationale Befreiung Palästinas und die Perspektive der proletarischen Revolution nicht als getrennte Wege betrachtet werden. Sie können und müssen sich vielmehr gegenseitig stützen. Das Proletariat in der arabischen Welt und in der Diaspora kann im Bündnis mit allen Sektoren, die bereit sind, es international zu unterstützen, eine Lösung herbeiführen, und es muss die Führung der arabischen Sache insgesamt übernehmen. Die historische Anomalie des israelisch-palästinensischen Konflikts ist das Ergebnis der Unvollständigkeit der arabischen Revolutionen und des Fehlens einer revolutionären internationalen Führung der Arbeiter:innenbewegung. Mehr denn je brauchen die Massen in der arabischen Welt politische Arbeiter:innenorganisationen, die in der Lage sind, ein revolutionäres soziales und demokratisches Programm zu verteidigen – für alle arabischen Völker, die durch koloniale Grenzen geteilt sind, wie auch für das eingemauerte palästinensische Volk, das sich danach sehnt, der Hölle, in der es sich befindet, zu entkommen. Es gibt eine Lösung für den aktuellen Konflikt: einen säkularen Staat in Palästina, in dem Jüd:innen und Araber:innen unabhängig von ihrer Konfession in Frieden leben können, als Teil einer sozialistischen Föderation im Nahen Osten.

Dieser Artikel erschien erstmals am 25. November 2023 bei RP Dimanche.

Fußnoten

1. Leo Trotzki: Die permanente Revolution, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1969, S. 149.

Mehr zum Thema