SPD klammert sich trotz neuer Spitze an die GroKo, oder: Die Agonie der deutschen Sozialdemokratie

06.12.2019, Lesezeit 9 Min.
1

Der SPD-Parteitag hat den Mitgliederentscheid bestätigt und Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zur neuen Spitze gewählt. Obwohl sie als Erneuerung der SPD angetreten sind, wird die Partei beim Bundesparteitag an diesem Wochenende mit großer Wahrscheinlichkeit trotzdem die Weichen für einen Verbleib in der GroKo stellen. Über den endlosen Todeskampf der SPD.

Bild: © Thomas Peter/​Reuters

Vorab: Auch nach dem Bundesparteitag vom 6. bis 8. Dezember in Berlin wird die SPD weiter existieren. Häufig schon wurde der SPD der langsame Tod bescheinigt. Es ist immer wieder erstaunlich, wie die Partei es schafft, eine „Erneuerung“ zu versprechen und dann doch so weiter zu machen wie bisher. Doch genauso erstaunlich könnte erscheinen, dass die Partei trotz konstant niedriger Umfragewerte nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwindet – warum das so ist, schauen wir uns an dieser Stelle an.

Zunächst aber ein Update zur aktuellen Situation. Nach monatelangen Führungskämpfen und dutzenden Regionalkonferenzen haben 54 Prozent aller SPD-Mitglieder in einer Stichwahl über eine neue Parteispitze abgestimmt (bei der Entscheidung über den Eintritt in die Große Koalition hatten noch 78 Prozent der Mitglieder abgestimmt). Im Ergebnis haben sich die bundesweit bisher eher unbekannte Saskia Esken und der ehemalige NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans mit 53 Prozent der Stimmen durchgesetzt – gegen 45 Prozent, die auf den aktuellen Bundesfinanzminister Olaf Scholz und die ehemalige brandenburgische Landtagsabgeordnete Klara Geywitz entfielen. Auf dem Bundesparteitag am Freitag wurde das Duo erwartungsgemäß mit 75,9 Prozent für Esken und 89,2 Prozent für Walter-Borjans von den Delegierten als neue Parteispitze bestätigt.

In der Öffentlichkeit wurde die Stichwahl als pro oder contra GroKo dargestellt, und tatsächlich war das Duo um Scholz-Geywitz ganz klar Verfechter der Fortführung der Großen Koalition. Insofern ist die Niederlage von Scholz-Geywitz ein explizites Misstrauensvotum gegen den aktuellen Kurs der SPD. Esken und Walter-Borjans gaben sich GroKo-kritisch, doch eine klare Aussage, ob sie den Austritt der SPD aus der Großen Koalition organisieren werden, vermieden auch sie im Wahlkampf um die Parteispitze.

Dass sie am Ende des Tages auch nicht für eine alternative SPD stehen – selbst wenn viele Mitglieder ihre Stimme für das Duo sicher als Stimme gegen die GroKo verstanden haben wollen –, zeigte sich schon in den letzten Tagen. Der Leitantrag für den Parteitag, den die Parteispitze am Donnerstag Mittag der Presse vorstellt, stellt die Frage der Weiterführung der GroKo nicht – anders als noch beim Abschluss der Koalitionsverhandlungen angekündigt, wo die SPD-Spitze ihre Zustimmung zur Koalition mit dem Versprechen verband, zur „Halbzeit“ der GroKo auf einem Parteitag über die Fortführung der Regierung abzustimmen. Das soll nun nach den Plänen der neuen Parteispitze nicht geschehen. Allenfalls wollen sie sich Rückendeckung für eine Art „Nachverhandlung“ des Koalitionsvertrags abholen – was die CDU schon abgelehnt hat –, und dann die Entscheidung über den GroKo-Verbleib wieder der Parteispitze überlassen.

Die FAZ kommentiert genüsslich: „Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans waren als Tiger gesprungen. Jetzt liegen sie als Bettvorleger im Willy-Brandt-Haus.“ Der SPIEGEL konstatiert den beiden einen „Realitätsschock“:

Das designierte Führungsduo steckt in einer schwierigen Lage. Esken und Walter-Borjans erleben gerade den Realitätsschock. Die beiden haben hohe Erwartungen geweckt, müssen ihren Kurs jetzt aber anpassen. Denn hinter den Kulissen ringen die unterschiedlichen Lager weiter um Einfluss. Knallharte Forderungen oder gar Ultimaten gegenüber der Union aufzustellen, hätten weite Teile der Parteiführung, der Bundestagsfraktion und die Bundesminister kaum mitgemacht. Die beiden Neuen müssen auf die Verlierer der Stichwahl zugehen, um eine Spaltung der Partei zu verhindern.

Auf der anderen Seite – könnte man meinen –, stehen die linkeren Teile der SPD, allen voran die Jusos, die seit Längerem gegen die Fortführung der Koalition mit den Unionsparteien sind. Insofern könnte es beim Parteitag am Wochenende durchaus zu einer Art Revolte der Basis kommen. Dagegen spricht jedoch, dass der bisher prominenteste GroKo-Kritiker innerhalb der SPD, der Juso-Chef Kevin Kühnert, vor dem Parteitag nun vor einem „vorschnellen Ausstieg“ aus der Koalition warnte und der Düsseldorfer „Rheinischen Post“ sagte: „Wer eine Koalition verlässt, gibt einen Teil der Kontrolle aus der Hand, das ist doch eine ganz nüchterne Feststellung.“ Auch behauptete er, das niemand je gefordert habe, den Koalitionsvertrag neu verhandeln zu wollen. Hinzu kommt noch die Drohung der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, die vereinbarte mickrige Grundrente wieder zu streichen, falls die SPD neue Bedingungen stellen sollte.

Und so zeichnet sich vor dem Parteitag ab: Die Vision des „linken Flügels“ in der SPD ist keine, die der GroKo-Politik grundsätzlich entgegengesetzt ist, es handelt sich höchstens um ein machtpolitisches Kalkül. Es lässt sich natürlich nicht ausschließen, dass die Parteibasis an diesem Wochenende auf einen Bruch mit der bisherigen Parteiführung zusteuert. Doch am Ende könnten sich Esken und Walter-Borjans noch als die „besseren“ Retter*innen der GroKo erweisen, weil sie die SPD weniger polarisieren als Olaf Scholz, der für Harz IV und die Verteidigung der „Schwarzen Null“ steht.

Die Sozialpartnerschaft will nicht sterben

Versinkt die SPD nun also weiter in der Bedeutungslosigkeit? Ganz so einfach ist das nicht. Denn zum Einen ist die Rolle der SPD als Vermittlungsinstanz zwischen Großkapital und Arbeiter*innenklasse trotz aller sinkenden Umfragewerte und bröckelnder Bindungsfähigkeit der Sozialdemokratie nicht passé. Das erkennt man allein schon daran, mit welchem Aufruhr die bürgerlichen Medien seit dem Mitgliedervotum am vergangenen Wochenende die SPD davor warnen, die GroKo zu verlassen. Sie bleibt weiterhin für das Großkapital eine wichtige Partei, um soziale Ansprüche zu regulieren. Das erklärt auch, warum die SPD immer wieder Mini-Reformen wie die Grundrente, die Erhöhung des unzureichenden Mindestlohns oder ähnliches als große Erfolge verkauft. Oder warum sie sich so extrem an Hartz IV klammert und selbst Urteile des Bundesverfassungsgerichtes gegen die Hartz-IV-Sanktionspolitik zu umgehen versucht, wie es Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kürzlich ankündigte, nur um nach einer Welle der Empörung schnell wieder zurückzurudern.

Die materielle Grundlage für diese Vermittlungsrolle liegt in der Verankerung, die die SPD weiterhin in den Gewerkschaften und vor allem in ihren bürokratischen Apparaten besitzt. Es ist so auch nicht verwunderlich, dass der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, die SPD nach dem Mitgliederentscheid postwendend zur Fortsetzung der Großen Koalition aufgefordert hat.

Das heißt natürlich nicht, dass die Sozialpartnerschaft nicht zunehmend in Frage gestellt würde. Im Gegenteil: Von Seiten des Kapitals wird sie mit schamloser Privatisierung und Prekarisierung immer weiter ausgehöhlt. Selbst in den strategisch wichtigsten Sektoren der deutschen Industrie werden aktuell immer wieder Massenentlassungen und Schließungen angekündigt, die als Versuche zu werten sind, das Kräfteverhältnis der Klassen hierzulande weiter zugunsten des Kapitals zu verschieben. Doch auch an der Basis der Gewerkschaften steht die Sozialpartnerschaft in Frage, zumindest an den Rändern und den prekären Bereichen, wo die Bindungswirkung der Sozialdemokratie extrem nachgelassen hat.

Dennoch wird die Sozialpartnerschaft – und damit die SPD – solange weiter überleben, bis nicht ein breiter Aufschwung der Kämpfe der Arbeiter*innenbewegung, der Jugend und sozialen Bewegungen die Frage nach einer alternativen Führung der Massen aufwirft. Das kündigt sich auf weltweiter Ebene schon an, wie der massive Generalstreik in Frankreich erneut gezeigt hat, der über 1,5 Millionen Arbeiter*innen auf die Straßen gebracht hat. Und auch in Deutschland wird der Klassenkampf nicht ewig auf sich warten lassen. Schon jetzt hat die SPD den kämpferischsten Sektoren nichts anzubieten. Angesichts der Berliner Mietenbewegung versucht die Hauptstadt-SPD seit Monaten, wirkliche Einschnitte in die Gewinne der Immobilienhaie zugunsten der Mieter*innen zu verhindern. Und gemeinsam mit der CDU sichert sie die Profite der Automobil- und Energiekonzerne auf Kosten des Klimas, was viele Jugendliche dazu bringt, Hoffnungen in die Grünen zu setzen. Diese verfestigen jedoch unter dem Führungsduo Habeck-Baerbock nur ihren Rechtsschwenk und beweisen in zahlreichen Landesregierungen mit CDU oder SPD, dass sie für eine bürgerliche und massenfeindliche Erneuerung des Regimes stehen.

Doch die Sozialpartnerschaft mit ihrer materiellen Basis in den politischen und gewerkschaftlichen Apparaten des Reformismus, die in den zentralen Sektoren der Industrie von den Überschussprofiten des deutschen Imperialismus leben, ist ein zentraler Stützpfeiler dieses Regimes, und wird nur untergehen, wenn wir ihr die konsequente Organisierung der Basis von unten entgegensetzten. Das zeigt gerade auch die aktuelle Erfahrung in Chile, wo trotz radikaler Massenaufstände und Generalstreiks die Regierung weiterhin an der Macht ist, aufgrund der verräterischen Rolle der reformistischen Parteien und gewerkschaftlichen Bürokratien, die mit all ihrer Kraft das Überleben des Regimes zu sichern versuchen.

Die Machtkämpfe innerhalb der SPD basieren letztlich auf der Frage, wie die deutsche Sozialdemokratie weiterhin ihre Vermittlungsrolle mit dem deutschen Großkapital aufrechterhalten kann. Das bedeutet nicht, dass die Mitgliederbasis der SPD diese Vision vollständig teilt, und es kann durchaus auf dem Bundesparteitag und in den kommenden Monaten zum Bruch von linkeren Sektoren mit der SPD kommen. Doch ob die SPD in ihrer aktuellen oder einer neu zusammengesetzten Form überlebt, wird nicht hauptsächlich davon abhängen, sondern davon, ob die zukünftigen Kämpfe der Massen die Sozialpartnerschaft materiell konfrontieren. Das ist die Aufgabe, auf die wir uns gemeinsam mit den fortgeschrittensten Sektoren der Arbeiter*innenklasse, der Jugend und der sozialen Bewegungen vorbereiten müssen.

Mehr zum Thema