Wie verhindern wir die Vereinnahmung der Palästina-Solidarität von antisemitischen Rechten?

17.05.2021, Lesezeit 9 Min.
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Shutterstock/ Karl Nesh

Im Zuge der aktuellen Erhebung von Palästinenser:innen gegen die Siedlungspolitik des israelischen Staates nimmt die Polarisierung in Deutschland zu. Faschist:innen kooptieren Demonstrationen und üben antisemitische Angriffe auf jüdisches Leben aus. Gleichzeitig geht die Bundesregierung in die rassistische Offensive gegen die Palästinenser:innen. Für eine Palästina-Solidarität, die die Perspektive des Zusammenlebens aufstellt.

In der vergangenen Woche überschlugen sich die Berichte über antisemitische Angriffe in Deutschland. Als revolutionäre Linke ist es unsere Aufgabe, uns gegen den Antisemitismus zu stellen. Gleichzeitig distanzieren wir uns von jedem Versuch, unter dem Vorwand der Bekämpfung des Antisemitismus dem zionistischen Staat den Rücken zu decken und die palästinensischen Organisationen hierzulande zu verbieten. Weder darf die Palästina-Solidarität antisemitisch sein, noch darf der Kampf gegen den Antisemitismus die muslimische und palästinensische Bevölkerung rassistisch schikanieren.

Das Problem der Gleichsetzung

Die Angriffe auf Synagogen mehren sich. In Bonn und Münster wurden sie mit Steinen beworfen und beschädigt. Auch in Düsseldorf kam es zu Ausschreitungen, vor dem Gedenkstein einer Synagoge wurde Feuer gelegt. Bei der Vernehmung zu den Motiven kam heraus, dass der aktuelle Konflikt in Israel Anlass zur Tat war.. Auf den jüngsten Demonstrationen kam es zu antisemitischen Vorfällen, die wir als solche benennen und kritisieren müssen. Bei den Protesten gegen die israelische Siedlungspolitik in Dortmund und Gelsenkirchen reihten sich auch Faschist:innen und Antisemit:innen ein. So nahmen Berichten zufolge auch Graue Wölfe (türkische Faschist:innen) an den Demonstrationen teil. Juden:Jüdinnen wurde gedroht und zu antisemitischen Verschwörungen der “Judenpresse” wurde Bezug genommen.

Die Angriffe reihen sich ein in eine besorgniserregende Entwicklung, die wir weltweit, aber auch in Deutschland beobachten. Es gibt einen zunehmenden Antisemitismus in der Gesellschaft, der immer häufiger in gewaltvollen Anschlägen gipfelt – wie etwa beim rechtsterroristischen Anschlag in Halle.

Obwohl die deutsche Presse hauptsächlich die Positionen von türkischen Faschist:innen hervorhebt, um die Palästina-Solidarität zu diskreditieren, möchten wir auf das Statement von “Palästina Spricht” aufmerksam machen, das schon vor den Demonstrationen am Wochenende als eine eindeutige Distanzierung von diesen Gruppen veröffentlicht wurde. Darin positionieren sie sich bewusst gegen die Faschist:innen und grenzen sie von der Teilnahme an den Protesten aus:

“Genauso wenig, wie wir die Solidarität von denjenigen brauchen, die Palästina für ihren Antisemitismus missbrauchen, so wenig brauchen wir die Solidarität von türkischen Faschist:innen, die unseren Kampf vergiften wollen.”

Die reaktionären Kräfte, die jetzt jüdisches Leben, jüdische Einrichtungen und Symbole angreifen, sind keine Verbündeten – sie sind Antisemit:innen. Sie begehen den fatalen Fehler, Jüd:innen mit der Politik Israels gleichzusetzen. Ihre Anschläge deklarieren sie als antizionistischen Akt. Der Staat Israel und der Zionismus müssen differenziert vom Jüd:innentum betrachtet werden. Die Demonstrationen dürfen nicht vor Synagogen stattfinden, weil sie keine Einrichtungen des zionistischen Staates sind, sondern Teil des jüdischen Lebens in Deutschland. Solche Aktionen schüren nur Hass auf die jüdische Bevölkerung und verunmöglichen den gemeinsamen, internationalen Kampf. Wir brauchen eher Aktionen an Orten wie vor der israelischen Botschaften, dem Auswärtigen Amt, deutschen Waffenfabriken, dem deutschen Verteidigungsministerium sowie vor EU-Institutionen.

Wir verurteilen die Doppelmoral jener türkischen Faschist:innen und salafistischen Kräfte, die die #freepalestine Bewegung zu kooptieren versuchen. Die Grauen Wölfe vertreten einen großtürkischen Chauvinismus: Sie behandeln die Palästinenser:innen herablassend, da sie selbst über die Region zu herrschen versuchen. Für sie ist Israel nur ein Vorwand, um ihren Judenhass zu artikulieren. Der türkische Nationalismus unterdrückt bekanntlich kurdische, armenische, syrische und ezidische Völker. Er praktiziert selber einen Siedlungskolonialismus. So konnten die jihadistischen Milizen nach der Invasion von Afrin, einem Kanton in Rojava, mit Unterstützung der türkischen Armee die Region besiedeln, nachdem 200.000 Menschen zur Flucht gedrängt wurden. Wir sind gegen diese reaktionären Kräfte, die Solidaritätsdemos für ihren eigene Agenda missbrauchen.

So fundamental es ist, sich gegen den zionistischen Siedlungskolonialismus und für die Befreiung des palästinensischen Volkes einzusetzen, genauso zentral ist es, dem Antisemitismus nicht mal den kleinen Finger zu geben. Der konsequente Kampf gegen den Antisemitismus steht in untrennbarer Beziehung zum Kampf um ein freies Palästina. Die Demonstrationen von linken palästinensischen und jüdischen Communities folgten diesem Ansatz.

Die gefährliche Agenda der Bundesregierung

Die antisemitische Vorfälle dienten der Bundesregierung als Vorlage, um ihren anti-palästinensischen und pro-zionistischen Kurs zu verschärfen. Der Thüringer Verfassungsschutz-Chef Stephan Kramer will ein Verbot von palästinensischer Organisation (konkret der PFLP) verhängen, weil sie linksextremistisch sei. Es geht so weit, dass die Stimmen lauter werden, die sogenannten Anti-Israel-Demonstrationen generell verbieten wollen. Der Grüne-Politiker Cem-“Wir sind hier in Deutschland”-Özdemir stellt die Anerkennung des Existenzrecht Israels als Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft.

Die Lage wird für die palästinensische Bevölkerung und die palästinasolidarischen Aktivist:innen besonders restriktiv. Die Palästinenser:innen sind hierzulande einer besonderen Unterdrückung ausgesetzt (kein Rückkehrrecht und Verbot von politischer Betätigung). Darüber hinaus müssen sie sogar mit Kriminalisierungen rechnen, wenn sie berechtigterweise dem Apartheidstaat seine Legitimität absprechen wollen.

Der deutsche Diskurs ist dermaßen chauvinistisch, dass die siedlerkolonialistischen Zwangsräumungen, Bombardements israelischer Kampfflugzeuge in Gaza, über 200 Tote auf palästinensischer Seite und die geplante Bodenoffensive der israelischen Armee im Schatten bleiben. Obwohl die antisemitischen Angriffe seit Jahrzehnten überwiegend von deutschen rechten Strukturen ausgehen, bleibt die Bundesregierung nach wie vor auf dem rechten Auge blind. Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein sieht den Antisemitismus hauptsächlich in der migrantischen Bevölkerung. Der Antisemitismus ist aber, anders als die Medien und bürgerlichen Parteien behaupten, kein importiertes Problem. Er ist ein deutsches Problem.

Der Staat und die Polizei sind im Kampf gegen den Antisemitismus keine Verbündeten, da sie die Unterdrückung nicht bekämpfen, sondern Antisemit:innen in den eigenen Reihen, sowohl im Parlament, in staatlichen Institutionen und auch innerhalb der Polizei, fördern. Gleichzeitig loben sie den zionistischen Staat als Repräsentant der jüdischen Diaspora. Mithilfe von zionistischen Arbeitsdefinitionen wurde dem Begriff „Antisemitismus“ der Inhalt dermaßen entleert, dass inzwischen die deutsche Bundesregierung selber die Definitionsmacht darüber beansprucht, wer antisemitisch ist und wer nicht. So wird den anti-zionistischen jüdischen Linken unterstellt, Antisemitismus zu reproduzieren, weil sie betonen, dass der israelische Staat sie nicht repräsentiert.

Die Auffassung, Nationalstaaten als Repräsentanten der Völker zu betrachten, ist banal. Der Denkfehler besteht darin, dass die Bevölkerung sich aus antagonistischen Klassen zusammensetzt und der Staat als Produkt dieser Gegensätzlichkeit als eine besondere Formation zur Unterdrückung einer Klasse hervorgeht. Regierungen drücken nicht die wachsende “Zivilisation” der Bevölkerungen aus, sondern den Grad des Klassenkampfes. So falsch es ist, an der Regierung Netanjahus die “Reife” der jüdischen Bevölkerung zu messen, genauso problematisch ist es, die palästinensische Bevölkerung auf den Islamismus zu reduzieren.

Religion wurde in Palästina zur Grundsäule der nationalen Unterdrückung und somit zur nationalen Identität gemacht. Dadurch kristallisiert sich die Religion in politischer Form heraus. Auch in Deutschland werden Muslime aufgrund ihres Glaubens unterdrückt. Die Religion durch Dekret, Verbot oder Kriminalisierungen zu bekämpfen heißt, hierzulande die Muslim:innen aus der Gesellschaft auszugrenzen. Weil anti-muslimische Unterdrückung eine Realität ist, kommen viele Muslim:innen auf die Idee, dass die einzige Gemeinschaft, in der sie Solidarität finden können, die muslimische Gemeinde sei.

Perspektiven der internationalistischen Einheit

Die chauvinistischen Israel-Anhänger:innen nutzen allerdings die Hamas nur als einen Vorwand, um die Widerstandsbewegung zu delegitimieren. Sie würden auch ohne Hamas von ihrer pro-zionistischen Position nicht abweichen, weshalb es sinnlos wäre, ihnen Zugeständnisse zu machen. Sie reduzieren den Befreiungskampf gerne auf den Religionskonflikt, um den Kolonialismus unsichtbar zu machen. Während sie alle Palästinenser:innen als reaktionär beschimpfen, schweigen sie selbst über den faschistoiden Mobs von zionistischen Rechten, die in israelischen Städten Jagd auf Palästinenser:innen machen.

Umso wichtiger ist die Bedeutung der Teilnahme von jüdischen, kurdischen, armenischen Aktivist:innen an den Solidaritätsdemonstrationen, um die Kooptierung der Palästina-Solidarität durch die antisemitischen und chauvinistischen Kräfte zu verhindern. Dabei müssen die Demonstrationen von solchen Kräften selbst geschützt werden, weil wir uns auf die Polizei nicht verlassen können und wir dem staatlichen Repressionsapparat diametral gegenüber stehen. Die kurdischen politischen Organisationen und Aktivist:innen sind selbst einer systematischen Polizeirepression ausgesetzt und die PKK steht auf der Terrorliste. In Berlin haben Palästina Spricht gemeinsam mit dem Verein Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, sowie Gruppen wie der Jewish Antifa und dem Jewish Bund eine Kundgebung organisiert, die von der Polizei aufgelöst wurde. Wenn wir nicht wollen, dass die salafistischen Kräfte oder die türkischen Nationalist:innen die Palästina-Solidarität vereinnahmen oder die Polizei sie auflöst, müssen wir unsere Demonstrationen selbst schützen.

Aber wie kann dieser Schutz konkret aussehen? Wegweisend sind die Erfahrungen der Gelbwesten in Frankreich. Zu Beginn der Demonstrationen hatten sich rechte Gruppen eingereiht, wurden jedoch bloßgestellt und aus den Protesten ausgeschlossen. Viele verwirrte Aktivist:innen aus der Mittelschicht konnten aufgrund der konfrontativen Erfahrungen mit der Regierung und der Polizei ihre chauvinistischen Tendenzen ablegen, weil sie desillusioniert wurden. Die Gelbwesten hatten sich hinter die sozialen Forderungen aufgestellt und antirassistische Organisationen wie das Komitee Gerechtigkeit und Wahrheit für Adama Traoré schlossen sich den Samstagsdemonstrationen an.

Wir können an diesen Lehren anknüpfen, um in Deutschland eine multiethnische und anti-imperialistische Palästina-Solidaritätsbewegung aufzubauen. Stellen wir uns gegen die rassistische Hetze der Medien, die den Aufstand diskreditieren. Für einen gleichzeitigen Kampf gegen Antisemitismus, gegen antimuslimischen Rassismus und gegen die Unterdrückung Palästinas!

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