Erst Berlin, jetzt NRW: Welches Potential haben die Krankenhaus­bewegungen?

19.02.2022, Lesezeit 10 Min.
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Foto: simon zinnstein

Einige Lehren der Berliner Krankenhausbewegung für die kommenden Kämpfe im Gesundheitswesen.

40 Prozent der Pflegekräfte erwägen, ihren Beruf zu verlassen. Was eine im Januar breit veröffentlichte Studie der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) in Berlin herausfand, sollte bestürzend sein. Doch der Aufschrei blieb weitestgehend aus. Zu sehr hat sich die breitere Öffentlichkeit an Meldungen über die Krise im Gesundheitswesen gewöhnt. Die kaum mehr nachzuverfolgenden Corona-Fallzahlen bedeuten aber trotz häufig milderer Krankheitsverläufe mit Omikron eine enorme Belastung der Beschäftigten. Die Regierung setzt auf Durchseuchung, was diese Belastung nicht nur für den Moment verschärft.

Selbst der Übergang in die Endemie wird nicht das Ende der Überlastung bedeuten: ein kaputtgespartes Gesundheitswesen mit fehlendem Personal wird auch auf den kommenden Winter nicht ausreichend vorbereitet sein, wenn zu einem endemisch gewordenen Coronaviraus auch wieder eine reguläre Grippewelle hinzukommt. Einer der für die Studie der ASH verantwortlichen Professor:innen, Johannes Gräske, sagt: „Wenn die Pflegenden ihre Ausstiegsabsichten realisieren, besteht für das deutsche Gesundheitssystem akute Gefahr für einen Zusammenbruch.“ Wie kann der Kampf für mehr Personal diesen Zusammenbruch verhindern? Und wie wird aus dieser Bewegung eine bundesweite Opposition gegen die Regierung?

Gewerkschaften auf Kuschelkurs mit der Regierung?

„Mehr Personal“ ist eine der zentralen Forderungen, die die Kämpfe in den Kliniken Deutschlands in den letzten Jahren zusammenfasst. Besonders die Pandemie zeigt wie unter einem Brennglas, wie fatal sich die Privatisierungswelle der letzten 20 Jahren ausgewirkt hat. Wo es geht, konkurrieren Krankenhäuser durch das Anfang der 2000er Jahre eingeführte DRG-System darum, Behandlungen noch kosteneffizienter durchzuführen und sparen dabei vor allem am Personal: Pfleger:innen werden schlecht bezahlt, Unterbesetzung der Stationen ist die Regel und andere Bereiche des Krankenhauses wie die Reinigung, Krankentransporte oder ähnliches wurden zu noch schlechteren Bedingungen vielerorts ausgegliedert. Vor allem weibliche Beschäftigte sind davon betroffen.

Die Quittung bekommen wir jetzt: Viele Pfleger:innen haben ihren Job aufgegeben oder drohen zumindest damit, wenn sich nichts Grundlegendes ändert. Der Tenor bei vielen ist dabei ähnlich. Sie wollen nicht aufhören, weil sie ihre Jobs nicht mögen, sondern weil sie ihre Jobs überhaupt nicht adäquat machen können. Gegenüber dem RBB fasste das der erst 24-jährige Intensivpfleger Arin so zusammen : „Man wurde der Arbeit in keiner Weise gerecht, die man hätte machen müssen. Du hast teilweise Patienten wochenlang begleitet und du hast alles getan. Und manchmal hast du sie betreut und betreut, kamst nach einer Woche wieder, weil du in einem anderen Zimmer warst oder auf einer anderen Ebene – und dann sind sie dir weggestorben, reihenweise.“ Nicht nur im Krankenhaus, auch in der Altenpflege erwägen 40 Prozent der Beschäftigten ihren Job aufzugeben. Auch hier ist der Personalmangel der wichtigste Faktor.

Nun ist es nicht so, dass das Thema an der Ampel-Koalition vollständig vorbeigeht. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP werden unter anderem neue gesetzliche Regeln zur Personalbemessung versprochen – Vorschläge, die von ver.di und dem Pflegerat erarbeitet wurden. Mit einem Pflegebonus sollen darüber hinaus vor allem die am stärksten belasteten Intensivpfleger:innen belohnt werden. Doch das steigert bei vielen eher die Wut. Denn für die allgemeine Entlohnung aller Beschäftigten hat die Koalition keine konkreten Pläne gemacht. So wird der Pflegebonus von vielen Kolleg:innen nur als „Schweigegeld“ bezeichnet.

Schon mit der alten Regierung haben besonders die Gewerkschaftsführungen gerne paktiert und ihr mit Beginn der Pandemie sogar den Burgfrieden geschenkt – sie haben also die Interessen der eigenen Basis im Interesse der nationalen Einheit mit der Regierung und den Unternehme zurückgestellt. In vielen zentralen Sektoren hat diese Politik für Beschäftigte zu Nullrunden geführt. Massenhafte Kündigungen in prekären Sektoren blieben weitgehend unbeantwortet. Dass die neue Regierung die Vorschläge von ver.di nun mehr oder weniger eins zu eins in den Koalitionsvertrag aufnimmt, kann sicherlich als Zeichen einer noch engeren Zusammenarbeit der Bürokratien mit der Regierungen verstanden werden. Auch dass mit Yasmin Fahimi eine SPD-Führungskraft neue DGB-Vorsitzende werden soll, weist in diese Richtung.

Und doch sind es in erster Linie die kämpferischen Kolleg:innen im Gesundheitswesen, die die Regierungen unter Druck setzen. Die Berliner Krankenhausbewegung hat im letzten Jahr den Anfang gemacht, Ende Januar hat ver.di angekündigt, dass solch eine Bewegung auch an den sechs großen Uni-Kliniken in Nordrhein-Westfalen gestartet werden soll. 700 Pflegekräfte aus sechs Unikliniken haben der Landesregierung ein hundertägiges Ultimatum gestellt, das am 1. Mai 2022 endet. Sind die Forderungen bis dahin nicht erfüllt, werde man sie „mit allen betrieblichen, gewerkschaftlichen und politischen Aktionsformen durchzusetzen“, heißt es in der Ankündigung der Gewerkschaft. Das einwohnerreichste Bundesland Deutschlands wird aktuell von CDU und FDP regiert.

Einen Schritt weitergehen

Die Bilanz der Krankenhausbewegung in Berlin kann sich durchaus sehen lassen. Sie hat einen Tarifvertrag Entlastung erkämpft, der viele der Forderungen der Kolleg:innen beinhaltet – auch wenn letztlich wieder einmal die Beschäftigten der Tochterunternehmen mit einem Kompromiss von den Krankenhäusern und dem Berliner Senat abgewatscht wurden. Doch besonders die Führung des Kampfes im sogenannten Delegiertensystem kann ein wichtiger Sprung im Ausbau von Streikdemokratie und demokratischer Kontrolle von Beschäftigten sein. Denn die Streikenden haben es damit geschafft, dass keine Entscheidung über ihre Köpfe hinweg getroffen wurde. Zwischenstände der Verhandlung, Streiks oder Ergebnisse – über alles wurde auf den Delegiertenversammlungen abgestimmt. Die Einbeziehung möglichst vieler Kolleg:innen war sicher ein Schlüssel für den Erfolg. Zumal sich viele Beschäftigte überhaupt erst in diesem Kampf ver.di angeschlossen haben.

Für Marx21 zieht David Wetzel einige Lehren aus dem Kampf der Krankenhausbewegung in Berlin. Er erklärt, wie ein Streik im Krankenhaus überhaupt möglich war, und betont ebenso, welche zentrale Rolle die Teamdelegierten für den Erfolg des Streiks gespielt haben. Er hebt auch auf die Wichtigkeit der Solidarität aus der Bevölkerung und der Verbindung mit anderen Kämpfen, wie der Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“ oder dem Arbeitskampf der Beschäftigten des Lieferdienstes „Gorillas“ ab. Es stimmt: „Gesundheitskämpfe werden mit einer breiten Öffentlichkeit gewonnen.“

Doch es gibt keinen Grund hier stehen zu bleiben. Denn demokratische Strukturen und eine starkes Bündnis mit anderen Kämpfen sind nicht nur die Voraussetzung für einen lokal begrenzten siegreichen Arbeitskampf. Und so wichtig es ist, Entlastungstarifverträge zu erkämpfen, muss auch die Grundlage der Personalnot in der Profitorientierung des Gesundheitswesens bekämpft werden. Die Errungenschaften der Krankenhausbewegung können hierfür das Sprungbrett sein.

Während die Forderung nach einer Abschaffung des DRG-Systems etwa auf den Demonstrationen der Krankenhausbewegung in Berlin im Grunde allgegenwärtig war, spielte sie in den konkreten Verhandlungen keine Rolle. Vielmehr ging es darum, die schlimmsten Auswüchse dieses System zu bekämpfen. Doch die Konkurrenz zwischen den Kliniken und der Kostendruck durch die Fallpauschalen werden immer ein Hindernis sein, um mehr Personal einzustellen oder ausgegliederte Bereiche wieder einzugliedern. Die Ampel-Koalition schweigt sich zu dem Thema größtenteils aus. Obwohl sowohl SPD als Grüne zumindest Reformen am DRG-System angekündigt haben. Davon ist nichts zu sehen. Der Koalitionsvertrag spricht sogar von einer Ausweitung des Systems. Mit dem Personalmangel wird das DRG-System gar nicht erst in Verbindung gebracht.

Darin offenbart sich letztlich auch die größte Grenze der bisherigen Kämpfe. Die reine Organisierung für den gewerkschaftlichen Kampf selbst wird nicht ausreichen, um das Gesundheitssystem grundsätzlich umzugestalten. Vielmehr ist es notwendig darüber hinauszugehen und den politischen Kampf aufzunehmen – die demokratischen Strukturen bieten dafür den Ausgangspunkt. Einerseits um nicht nur auf den Abschluss von Tarifverträgen hinzuwirken, sondern auch die Durchsetzung zu überwachen und entsprechende Sanktionen einleiten zu können, wenn die Arbeitgeber:innen Tarifverträge unterlaufen. So könnten die Delegiertenstrukturen beispielsweise auch als permanente Kontrollorgane der Kolleg:innen fungieren, die über Verstöße der Arbeitgeber:innen diskutieren und befugt sind, wieder zu Streiks zu aufrufen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden – unabhängig von tarifvertraglichen Friedenspflichten. Oder wieso sollten Beschäftigte stillhalten, während Geschäftsführungen immer wieder Tarifverträge unterlaufen oder gesetzliche Vorschriften ignorieren? So könnten die Delegiertenstrukturen zu noch weitergehenden Formen der Selbstorganisierung der Kolleg:innen werden.

Andererseits müssen die Kämpfe in diesem Sinne auch bundesweit ausgeweitet. Die Ausstrahlung und der Erfolg der Berliner Krankenhausbewegung sind wichtige Signale an die gesamte Arbeiter:innenklasse in Deutschland, dass Kämpfe gewonnen werden können. Die nun gestartete Bewegung in NRW kann ein wichtiger weiterer Schritt in diese Richtung sein. Denn nur ein bundesweiter Kampf in den Kliniken und darüber hinaus wird in der Lage sein, die Forderungen nach einer vollständigen Abschaffung des DRG-Systems zu erreichen. Hierfür könnte es gemeinsame (Online-)-Versammlungen, Veranstaltung oder Aktionen geben – vor allem von Beschäftigten aus Berlin und NRW, aber natürlich auch darüber hinaus, wo darüber diskutiert werden kann, wie man das DRG-System effektiv bekämpft und ein Gesundheitssystem aufbaut, in dem nur nach den Bedürfnissen von Beschäftigten und Patient:innen gearbeitet wird. Die Ampel-Koalition hat sich trotz einiger Reformvorschläge in ihrem Koalitionsvertrag auf der anderen Seite positioniert.

Deshalb ist es nicht nur notwendig, sich in den Kliniken bundesweit zu vernetzen, sondern sich auch dagegen zu stellen, dass unsere Gewerkschaftsführungen mit der Regierung Kompromisse auf unseren Rücken aushandeln. Die Situation in den Kliniken ist viel zu prekär, um der Privatisierungspolitik weiter freien Lauf zu lassen.

Das Bündnis Krankenhaus statt Fabrik, das unter anderem auch von der Interventionistischen Linken (IL) getragen wird, leistet dabei wichtige Arbeit, um die Auswüchse dieser Privatisierungspolitik aufzuzeigen. Dennoch bleibt der Kampf beschränkt, wenn wir keine eigene Perspektive unabhängig von der Regierung aufwerfen. So schreibt das Bündnis beispielsweise: „Vor diesem Hintergrund muss festgehalten werden, dass tarifliche Regelungen eine wichtige Katalysatorfunktion haben in einem Kampf, der letztlich auf eine gesetzliche Personalbemessung zielt.“ Der Koalitionsvertrag sieht nun eine solche Personalbemessung vor. Doch selbst wenn die Ampelregierung eine solche Regelung tatsächlich einführt, wer sorgt für die Durchsetzung, wenn nicht die Gewerkschaften? Eine reine Fokussierung auf betriebliche Kämpfe überlässt die politische Durchsetzung grundlegender Forderung nach mehr Personal und einem Ende der DRGs letztlich genau denen, die klarmachen, dass sie das nicht tun werden – der Bundesregierung.

Letztlich bedeutet diese Forderung nach einer gesetzlichen Personalbemessung gerade für eine dem Anspruch nach linksradikale Organisation wie die IL eine drastische Selbstbeschränkung, um ihr Bündnis mit einem Teil des ver.di-Apparats nicht zu gefährden. Das mag auf kurze Frist hilfreich sein, um der eigenen Organisation nach außen Legitimität zu verleihen. Um „ein anderes Gesundheitssystem, eines das nach menschlichen Bedürfnissen ausgerichtet ist und nicht nach marktwirtschaftlichen Prinzipien“ zu erkämpfen, wie es auch die IL tun möchte, ist das jedoch der grundfalsche Weg.

Der gewerkschaftliche Kampf für Tarifabschlüsse und einzelne Reformen ist hierfür natürlich unerlässlich. Ebenso unerlässlich ist es, diese Kämpfe zu nutzen, um den Organisationsgrad unter den Beschäftigten zu heben und viele Beschäftigte zum ersten Mal oder wieder in die Gewerkschaften zu holen. Doch das darf nicht als stillschweigendes Einverständnis mit der Politik der Gewerkschaftsbürokratie missverstanden werden.

Um die Bewegung tatsächlich zu verallgemeinern und den Einsatz für mehr Personal mit dem Kampf gegen das Fallpauschalensystem, die Privatisierungen und letztlich für ein Gesundheitswesen ohne Profite zu stellen, braucht es einen Akteur in den Gewerkschaften, der sich das bewusst zum Ziel setzt. Das kann nur eine Strömung an der Basis sein, die es nicht auf Posten im Apparat abgesehen hat, sondern für die größtmögliche Demokratie in den Gewerkschaften, für Selbstorganisierung und für eine klassenkämpferische Alternative eintritt – eine antibürokratische Strömung.

Eine solche Kraft ist nötig, um die Krankenhausbewegung in NRW nicht nur lokal beschränkt auf die sechs großen Unikliniken zu betrachten, sondern zu einer bundesweiten Kampagne zu machen, die sich gegen die Politik der Ampel-Koalition stellt. Dafür braucht es eine Verbindung aller Kämpfe in den nächsten Monaten und Jahren. Denn nicht nur die Krankenhäuser in NRW stehen vor einer großen Auseinandersetzung. Auch die Tarifrunde im öffentlichen Dienst steht 2022 wieder an, von der ebenfalls viele Kliniken betroffen sind – unter anderem auch in Berlin.

Letztlich sind es die Beschäftigten selbst, die am besten wissen, wie viele Intensivbetten zur Verfügung stehen müssen, was für eine gute Behandlung ihrer Patient:innen notwendig ist und wie viel Personal auf den Stationen dafür nötig wäre. Der Kampf für eine solche demokratische Kontrolle gehört mit dem Kampf für ein Gesundheitssystem ohne Profite unmittelbar zusammen: Für eine bedarfsgerechte Finanzierung der Krankenhäuser durch drastische Vermögens- und Reichensteuern statt des profitorientierten DRG-Systems. Für eine Wiederverstaatlichung aller privatisierten Kliniken. Für eine demokratische Selbstverwaltung aller Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient:innen.

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