Der historische Streik in Frankreich und die Intervention der revolutionären Sozialist*innen

20.01.2020, Lesezeit 6 Min.
1

[DOSSIER ZU STREIKS IN FRANKREICH] Seit über 45 Tagen befinden sich große Teile der französischen Eisenbahn (SNCF) und des Pariser Nahverkehrs (RATP) im Streik. Zusätzlich gab es mehrere Massenmobilisierungen mit jeweils über einer Million Menschen auf der Straße und zahlreichen weiteren Sektoren im Streik. Wie hat sich diese historische Bewegung bisher entwickelt und was fehlt noch zur Durchsetzung ihrer Forderungen? Wir geben eine Übersicht und verweisen auf weiterführende Artikel, die wir in den vergangenen Wochen veröffentlicht haben.

Die Gelbwesten-Bewegung, die Ende 2018 und für mehrere Monate in 2019 die Regierung herausforderte, verlor mit der Zeit an Kraft, ohne Macrons Macht tatsächlich zu brechen. Zwar konnte sie Zugeständnisse bei der Krafstoffsteuer und minimale Verbesserungen beim Mindestlohn erkämpfen, ohne eine Verschmelzung mit der Arbeiter*innenbewegung fehlte den Gelbwesten jedoch eine der stärksten Waffen: der Streik. Dennoch hinterließ sie Spuren im Bewusstsein der französischen Massen. Als dann im Spätsommer ein eintägiger Streik der Pariser Nahverkehrs-Beschäftigten gegen die Rentenreform mit enormer Beteiligung stattfand, wurde die Perspektive eines Generalstreiks Anfang Dezember konkreter. Das Ziel war klar: Rücknahme der angekündigten Rentenreform von Macron.

Für die Durchsetzung dieser Forderung wurde ein großer Aktionstag für den 5. Dezember vorbereitet, den zumindest einige Gewerkschaften auch als Generalstreik ankündigten. Und tatsächlich war die Resonanz sehr groß: Nach Angaben der zweitgrößten Gewerkschaft CGT nahmen 1,5 Millionen Menschen an Demonstrationen und Aktionen teil. Neben Nah- und Fernverkehr war vor allem der öffentliche Sektor betroffen: Unis, Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser. Ein naheliegender Grund dafür: die angekündigten Reformpläne zielen vor allem darauf ab, die Rentenregelungen im öffentlichen Dienst zu verschlechtern. Trotzdem wurden auch Fluggesellschaften oder die strategisch wichtigen Öl-Raffinerien bestreikt.

In allen großen Städten gab es an diesem Tag große Demonstrationen: 250.000 Menschen in Paris, 150.000 in Marseille, 100.000 in Toulouse, selbst in Bordeaux noch mehrere Zehntausend. Gleichzeitig fanden vielerorts auch Versammlungen der Streikenden statt, in denen über die notwendigen Schritte im Kampf gegen die Rentenreform diskutiert wurde.

Allerdings hatten viele Gewerkschaften nur zu einem eintägigen Streik aufgerufen und nicht zu einem unbefristeten Ausstand. Lediglich in einigen zentralen Bereichen, vor allem bei SNCF und RATP, erzwang die Basis einen „verlängerbaren“ Streik, über dessen Fortgang regelmäßig in Streikversammlungen entschieden wird.

Die Streikbewegung wurde deutlich von der Bewegung der Gelbwesten beeinflusst – sie übernahm ein Stück weit den Geist der Radikalität, der sich angesichts massiver Repression unter den Gelbwesten gebildet hatte. Ebenso gibt es in der aktuellen Bewegung ein stärkeres Vertrauen auf die Methoden der Basis und eine Skepsis gegenüber der Führung der Gewerkschaften. Das bedeutet nicht nur ein großes Potential, den bremsenden Einfluss der bürokratischen Führungen zu überwinden, sondern auch zunehmende Verantwortung für die revolutionäre Linke Frankreichs, die eine solch massive Bewegung aktiv nutzen muss, wenn sie den Aufbau einer revolutionären Partei der Arbeiter*innen zum Ziel hat.

Ein wichtiges Element der Selbstorganisation der Streikenden, sind neben den Streikversammlungen einzelner Betriebe die branchenübergreifenden „Interpro“-Versammlungen, die Beschäftigte verschiedener Bereiche zusammenbringen, wie zum Beispiel Bahnarbeiter*innen und Lehrer*innen am 11. Dezember in Paris.

Am Dienstag, den 17. Dezember, gab es dann die größte Mobilisierung des Dezembers. Bis zu 1,7 Millionen Streikende und Protestierende waren auf der Straße.

Obwohl die Regierung weiterhin an ihren Plänen festhielt, wurde von mehreren Gewerkschaftsführungen ein „Waffenstillstand“ über Weihnachten angestrebt. Manche von ihnen machten vordergründig Zugeständnisse an die Radikalität ihrer Basis und mobilisierten auch über die Feiertage – allerdings in geringerem Umfang. Bei der Gewerkschaft UNSA – die an einer Mobilisierungspause festhielt – gab es verstärkten Widerstand der Basis, die sich gegen diesen Plan ihrer Führung stellte. So fanden auch über die Feiertage Streiks und Aktionen statt. Insbesondere der verlängerbare Streik bei RATP und SNCF wurde fortgeführt.

Am 24. Dezember fand sogar eine Sondervorstellung der Tänzerinnen der Pariser Oper im Freien statt.

Während der Winterferien drohte die Passivität der Gewerkschaften, unter anderem der „kämpferischen“ CGT, die lediglich zu einer Demonstration am 09. Januar aufriefen, die Bewegung zu bremsen. Zum Jahresabschluss beschlossen die Arbeiter*innen der RATP eine Jahresabschlussfeier zu veranstalten, zu der auch die anderen kämpfenden Sektoren, angefangen bei den Eisenbahnbeschäftigten der SNCF, eingeladen wurden. Anasse Kazib, Eisenbahnarbeiter und Anführer der Revolutionar-Kommunistischen Strömung CCR innerhalb der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) konfrontierte hier den Generalsekretär der CGT Philippe Martinez.

Bürgerliche Medien in Deutschland berichten nur spärlich über die Streiks und geben für gewöhnlich die Sichtweise der französischen Regierung wieder. Und auch die deutschen Gewerkschaftsführungen schweigen angesichts der massiven und beispielhaften Streikbewegung, während auch hierzulande über Verschlechterungen der Rente diskutiert wird. U-Bahn-Fahrer Aimo Tügel von der Basisgewerkschaftsgruppe ver.di-aktiv sandte den Streikenden des Pariser Nah- und Fernverkehrs zu Beginn des Monats eine Solidaritätsbotschaft, in der er sie weiter zum Kampf gegen den Ex-Banker Macron anspornte.

Anfang Januar hat der Streik bei der SNCF und RATP die 28-Tage-Grenze überschritten, womit es sich bereits um den längsten Streik dieser Größe seit 1968 handelte.

Das Koordinations-Komitee der Streikenden von SNCF und RATP ist wahrscheinlich das wichtigste Organ der demokratischen Streikkoordination, das sich bisher in diesem Kampf entwickelt hat. Es vertritt die fortgeschrittensten Sektoren der Bahn- und Metro-Beschäftigten, die sich nicht der bürokratischen Führung unterordnen wollen. Eine treibende Kraft für die Koordinationsinstanz ist die Intervention der revolutionären Sozialist*innen der CCR.

Auch die Streikkassen, deren Organisierung und Bewerbung maßgeblich von der Basis getragen werden (da es in Frankreich kein Streikgeld wie in Deutschland gibt), sind ein Erfolg. Bis Anfang Januar wurden allein von Mitgliedern der CGT über 1 Million Euro gesammelt, um die ausbleibenden Lohnzahlungen auszugleichen.

Am Donnerstag, den 9. Januar fand dann die erste große Mobilisierung diesen Jahres statt. Sie brachte erneut mehr als 1,5 Millionen Menschen auf die Straße.

Am vergangenen Freitag, dem 44. Tag des Streiks, besetzten mehrere Dutzend Mitglieder der RATP-SNCF-Koordination den Sitz der Gewerkschaft CFDT. Sie solidarisierten sich mit den CFDT-Mitgliedern, die eine Fortsetzung der Streiks bis zur Rücknahme des Reformprojekts fordern, aber warnten gleichzeitig die CFDT-Führung davor, weiter mit der Regierung im Namen aller Streikenden zu verhandeln. Denn obwohl die Führung nicht selbst zu Streiks aufruft und dadurch kaum Streikende vertritt, ist sie es, die am meisten mit der Regierung verhandelt.

Mehr zum Thema