Generalstreik in Frankreich: Große Demonstration der Stärke der Arbeiter*innenbewegung

06.12.2019, Lesezeit 6 Min.
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Der Streik lähmt strategische Sektoren wie den Transport und die Raffinerien. Nach Angaben der CGT gingen 1,5 Millionen Menschen im ganzen Land auf die Straße. Was hat der erste Tag gebracht?

Wie erwartet war der Streik bei der RATP (Öffentlicher Nahverkehr in Paris) und bei der SNCF (Eisenbahngesellschaft) enorm. In der SNCF, die ein bisschen das Abbild dessen ist, was in ganz Frankreich passiert, traten alle Beschäftigten in den Streik. Es gab sogar eine starke Streikbeteiligung in den Verwaltungsbereichen, was das Ausmaß der Unzufriedenheit zeigt. Air France, EasyJet und andere Fluggesellschaften haben einen Großteil ihrer Flüge storniert.

Die große Überraschung für die Regierung war die hohe Streikbeteiligung im nationalen Bildungswesen: Die Beteiligungsquote in Kindergärten und Grundschulen betrug 55 % im ganzen Land und 78 % in Paris.

Der gesetzlich vorgeschriebene „Mindestdienst“, um die Öffnung der Schulen zu garantieren, wurde nur an drei der mehr als 650 Schulen in der Region Paris angeboten. Die landesweite Ausdehnung des Protestes drückte sich auch in anderen Metropolen aus, wie auch in mehreren mittleren und kleinen Städten des Landes. Es ist schwierig, den Streik als einen Tag darzustellen, der ausschließlich auf ökonomischen Forderungen basiert.

Auch im Privatsektor war trotz aller Schwierigkeiten eine anfängliche Tendenz zu spüren und es waren Sektoren im Ausstand, die bisher noch nie gestreikt hatten, wie viele mittlere und kleine Betriebe. Bis zum nächsten Montag oder Dienstag hat die große Mehrheit der Sektoren „verlängert“, wie man in Frankreich sagt, wenn sie für die Fortsetzung des Streiks stimmen.

An diesem ersten Tag dieses wirklichen Generalstreiks – aufgrund der Durchsetzungskraft des Streiks, aufgrund der massiven Demonstrationen trotz der Kälte und der Schwierigkeiten beim Zugang zu den Märschen durch den Verkehrsstreik selbst – demonstrierten laut Innenministerium 806.000 Menschen in ganz Frankreich, während es laut CGT 1,5 Millionen waren. Etwas Beispielloses für einen ersten Streiktag, denn im Allgemeinen erreichten frühere soziale Bewegungen bei den ersten Demonstrationen nicht dieses Niveau der Teilnahme. Dies zeigt auch den Grad der beispiellosen und neuartigen Vorbereitung dieser Aktion.

Die von den Gewerkschaftsorganisationen kontrollierten Aktionen ermöglichten es, ihre Führungspositionen zu stärken. Dieser letzte Aspekt wurde von Edouard Philippe, dem französischen Premierminister, hervorgehoben, der den Gewerkschaften, die den Tag „gut organisiert“ haben, „Anerkennung zollte“; selbstverständlich ohne zu viel Gewalt, wodurch er den Unterschied zu den Protesten der Gelbwesten markierte. Aber dieser unmittelbare Erfolg, der die Gewerkschaftsführungen als Akteure im politischen System neu positioniert, löst in keiner Weise die Widersprüche ihrer Situation auf. Denn es gibt eine beginnende Radikalisierung, und die Tatsache, dass ein Teil der Arbeiter*innenbasis sich ein Beispiel am Kampf der Gelbwesten nimmt („Giletjaunisierung“). Das war in der RATP, den Lehrer*innen und anderen Sektoren, die zum ersten Mal streikten, spürbar. Es zeigt eine Dynamik, die der Generalstreik nur verstärken kann, obwohl er sowohl auf der Ebene der Organisation und Koordination noch besser strukturiert sein muss.

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Während der Vorbereitung des Streiks zeigten sich Anzeichen von Koordination und Organisation, jenseits der engen Grenzen, die von den Gewerkschaftsführungen vorgegeben waren. So gab es erfolgreiche Koordinationstreffen zwischen verschiedenen Sektoren, wie die branchenübergreifenden („interprofessionel“) Vollversammlungen von La Genérale und der Front de Lutte, und auch die für diesen Freitag einberufene branchenübergreifende Versammlung der Pariser Region, zu der die Streikenden der RATP und der Eisenbahn aufgerufen haben und die für andere Sektoren m Kampf offen sind, Das sind wichtige erste Schritte.

Die nächste Woche wird entscheidend sein. Angesichts des Ausmaßes dieser Warnung hat die Regierung den Zeitplan der Verhandlungen, die bisher geheim waren, beschleunigt. Im Moment ist es für die Regierung schwierig, auf die Reform zu verzichten: Wenn doch, ist die fünfjährige Amtszeit von Macron vorbei.

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In der Tat geht es in der gesamten Diskussion innerhalb der Exekutive darum, wen die Reform treffen soll und ob es notwendig ist, die Rentenkonten sofort zu korrigieren. Zum ersten Punkt ist es wahrscheinlich, dass die Regierung argumentieren wird, dass das neue Punktesystem nicht für diejenigen gelten wird, die vor 1968, sogar vor 1973 oder noch später geboren wurden. In Bezug auf den zweiten Punkt befürworten wichtige Sektoren aus dem Präsidentenpalast, aber auch einige Minister*innen eine Verschiebung einer finanziellen Anpassung (die eine Erhöhung des für die Vollpensionierung erforderlichen Alters bedeuten würde) auf die Zeit nach 2021.

In Matignon (Hauptsitz des Premierministers) sind sie mehr über das große Haushaltsgleichgewichtg besorgt und lehnen jedes Zugeständnis ab. Dass könnte die CFDT (Französische Demokratische Konföderation der Arbeit) dazu „zwingen“, in den Streik zu treten. Die Anführer*innen dieser Gewerkschaftszentrale haben ihre Unterstützung für dies Renten(gegen)reform bekundet und sich geweigert, den Streik zu unterstützen. Sie wollen über den Zeitpunkt der Umsetzung der Reform verhandeln, aber diese Position bleibt fragil, denn selbst Sektoren dieses Verbandes haben am Donnerstag bereits gestreikt, wie die Eisenbahner*innen.

Diese Situation veranlasst Teile des Regimes zu dem Rat, den Gewerkschaften „etwas“ zu geben, um zumindest einige von ihnen aus dem Streik zu holen. Der Streik am Donnerstag treibt diesen Versuch eines Auswegs voran, aber zugleich befürchtet die Regierung, dadurch ihr „Reformer“-Image zu verlieren. Zugleich sorgen die vorhandenen Spaltungen im Kabinett dafür, dass noch gar nichts sicher ist.

Wir steuern auf einen entscheidenden Moment zu. Alle Gewerkschaftsführungen müssen formelle oder informelle Verhandlungen mit den Herrschenden abbrechen. Die Streikenden müssen den Streik selbst in die Hand nehmen, um über die nächsten Schritte selbst zu entscheiden, den Streik zu beleben, ihn auf andere Sektoren, insbesondere Privatunternehmen, auszudehnen und andere ausgebeutete und unterdrückte Sektoren wie die Gelbwesten, Jugendliche und die Bevölkerung der armen Stadtviertel umfassend in ihre Forderungen zu integrieren.

Wie die Versammlungen sagen: Sozialer Rückschritt wird nicht ausgehandelt, und der Streik muss den Streikenden gehören. Die Diskussionen bei den Demonstrationen, der massive Frontblock des Marsches in Paris sowie die enorme Begeisterung darüber, dass die Feuerwehrleute die Polizei, die die Demonstrant*innen auf dem Platz der Republik eingekesselt hatte, zum Rückzug gezwungen haben – all das zeigt, dass die Kraft vorhanden ist, Macron zu besiegen. Es ist wichtig, dass sich dieses Kräftepotenzial bis zum Ende entfaltet.

Dieser Artikel bei La Izquierda Diario.

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