Das Desaster von Afghanistan und das Erbe von „Wir schaffen das“

18.09.2021, Lesezeit 15 Min.
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Foto: Giannis Papanikos / Shutterstock.com

Die Illusionen in eine humanitäre Geflüchtetenpolitik sind seit 2015 verflogen. Die politische Linke braucht einen antirassistischen Bruch mit Merkels Erbe.

Sechs Jahre nach dem Sommer 2015 stellt sich die Frage, welches Erbe Merkel in Bezug auf den politischen Umgang mit Fluchtbewegungen hinterlassen wird. Um dieser Frage nachzugehen, werfen wir einen Blick auf die migrationspolitischen Geschehnisse seit 2015. Auf dieser Bilanz aufbauend, werden wir betrachten, welche Politik zu Migration und Flucht von der Nachfolge Merkels, von den Grünen und der LINKEN zu erwarten ist. Abschließend schlagen wir selbst politische Perspektiven vor, um gegen das rassistische Migrationsregime vorzugehen.

„Wir schaffen das“ und ein Herbst der Migration

Im Sommer 2015 überquerten hunderttausende Menschen das Mittelmeer und überwanden die Zäune und Grenzen Europas. Damit brachen die Grenzregimes, die aus der rigiden Abschottung Europas durch Überwachung und militärische Einsätze bestehen, für eine kurze Zeit teilweise zusammen. Aufgrund des wachsenden Drucks durch die in Ungarn festsitzenden Geflüchteten und der gewaltvollen und rassistischen Übergriffe durch den ungarischen Staat setzte sich Merkel mit ihrer Entscheidung, die europäischen Grenzen nicht zu schließen, gegen Teile ihrer eigenen Partei durch. Mit ihrem Versprechen „Wir schaffen das“ nahm sie eine vermeintliche humanitäre Praxis des Regierens gegenüber der Migrationsfrage ein.

Jedoch war dieses Versprechen von Anfang an nur eine neoliberale Regierungsstrategie. So wurden mit der partiellen und kurzzeitigen Grenz„öffnung“ (eigentlich: nicht Grenzschließung) vor allem Geflüchtete aus Syrien nach Deutschland gelassen. Diese Geflüchteten leben häufig mit unsicherer Aufenthaltsperspektive in Deutschland. Viele unter ihnen mit Kettenduldungen, so können sie bei einer Stabilisierung des Krieges in Syrien leicht wieder abgeschoben werden. Doch gleichzeitig können die Geflüchteten – häufig mit hohen Bildungsabschlüssen – als qualifizierte und billige Arbeitskräfte eingesetzt werden.

Weiterhin kann von einer humanitären Migrationspolitik nicht die Rede sein, folgten auf den Herbst 2015 doch zahlreiche Asylrechtsverschärfungen. So wurde kurz nach der Ankunft der Geflüchteten noch im Oktober 2015 das Asylpaket I und etwas später das Asylpaket II verabschiedet, was die Erleichterung von Abschiebungen, die Aussetzung des Familiennachzuges sowie die Ernennung neuer sogenannter „sicherer Herkunftsländer“ bedeutete. Es folgten zahlreiche weitere Verschärfungen wie das „Integrationsgesetz“, die Einrichtung von Ankunfts- und Rückführungszentren (AnkER-Zentren) und das im Sommer 2017 verabschiedete Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, was eine massive Erleichterung von Abschiebungen bedeutete. Hinzu kamen das Geordnete-Rückkehr-Gesetz und das Dritte Änderungsgesetz zum Asylbewerberleistungsgesetz.

Zudem bemühte sich die Merkel-Regierung außenpolitisch um eine stärkere Abschottung und eine Stabilisierung des europäischen Grenzregimes. Dies äußerte sich beispielsweise in der Sperrung der Balkan-Route und der zeitweisen Aussetzung des Schengener Abkommens, also der Wiederaufnahme von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Europäischen Union ab 2015. Auffällig sind auch Merkels Verbündete, als es um die Abwehr von Geflüchteten ging. Zu nennen sind hierbei die Abkommen mit diktatorischen Regimen, besonders der Türkei. Es wurden EU-Deals geschlossen, obwohl mit dem Aufstieg der ultrarechten türkischen Kräfte eine massive Bedrohung für syrische und afghanische Geflüchtete entstand, die sich in pogromartigen Lynchmobs äußern. Welche Folgen die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache hat, zeigt sich in den Push-Backs und im Massensterben im Mittelmeer sowie in den libyschen Flüchtlingsslagern, die selbst das Auswärtige Amt als KZ-ähnlich“ bezeichnet.

Auf diese Maßnahmen und politischen Entscheidungen müssen wir unseren Fokus richten, um die Migrationspolitik der Merkel-Ära in ihren materiellen Konsequenzen für Geflüchtete beurteilen zu können. Hierbei wird deutlich, wie eng das Arbeits- und Migrationsregime miteinander verknüpft sind: Das Bemühen, Migration zu verwalten, ist immer mit dem Versuch verbunden, Arbeitsmigration zu kontrollieren. Die deutschen Konzerne drücken angesichts des Arbeitskräftebedarfs ständig ihren Wunsch nach günstigen Fachkräften aus. So bedarf es nach Ansicht der Bundesregierung einer Regulierung, die asylsuchende Menschen auf rassistische Art und Weise nach ihrer Nützlichkeit, also in qualifizierte und unqualifizierte, in wirtschaftliche und politische Geflüchtete aufteilt. Danach orientiert sich die Logik vom Öffnen und Schließen der Grenzen und der Verhinderung von „unkontrollierter“ Flucht nach Deutschland. Die symbolische Floskel „Wir schaffen das“ war daher eine innen- und außenpolitische Losung Merkels, das Migrationsregime weiter aus- und nicht etwa abzubauen.

Das Desaster von Afghanistan: Kein Spurwechsel in Sicht

Die Machteroberung der Taliban in Afghanistan nach dem Rückzug der Besatzungstruppen hat die zwischenzeitlich nachgeordnet behandelte Geflüchtetenthematik wieder in die Schlagzeilen gebracht. Nicht etwa, weil deutsche Regierung plötzlich Menschenrechte erfüllte hätte oder es keine Geflüchteten mehr gab. Die Bundesregierung ging nur davon aus, die „Fluchtfrage“ unter Kontrolle gebracht zu haben, nachdem die Grenzen abgeschottet, die Fluchtrouten gesperrt, die AnkER-Zentren zur Einsperrung und schnellen Abschiebung von Geflüchteten eingerichtet und Asylgesetze restriktiver gestaltet wurden. Die Konsequenzen des stabilisierten europäischen Abschottungsregimes zeigten sich bereits mitten in der Pandemie in der humanitären Krise in Moria und Ceuta.

Flucht ist Realität und Folge unserer Zeit, in der die Globalisierung der Produktivkräfte, die Aufteilung des Weltmarktes und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen mit den nationalen Grenzen der kapitalistischen Staaten in Widerspruch stehen. Wir haben es weltweit mit der höchsten Zahl an Menschen auf der Flucht seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Die unmittelbare Ursache ist der fortschreitende Zusammenbruch ganzer Länder in Westasien und Afrika unter den Folgen von Kriegen: Aus Syrien sind seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs nach UN-Angaben 6,7 Millionen Menschen emigriert, 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, die wichtigsten Städte liegen in Trümmern und die Produktivkräfte wurden weitgehend vernichtet. In Irak, Libyen, Palästina, Jemen, Afghanistan, in weiten Teilen Ostafrikas (Eritrea, Äthiopien, Somalia, Sudan) und Westafrikas (Mali, Sierra Leone, Elfenbeinküste, Senegal) gibt es ebenfalls kaum Perspektiven für die Bevölkerung, weshalb die Zahl an Geflüchteten immer mehr zunimmt. Die Militärjunta des halbkolonialen Myanmar verursacht über eine Million Geflüchtete, Millionen sind auch aus Venezuela auf der Flucht, wo sich die USA und auch Deutschland an einem proimperialistischen Putsch beteiligten.

Afghanistan ist ein weiteres gravierendes und aktuelles Beispiel. Als die Marionettenregierung der NATO in Kabul vor den Taliban kampflos kapitulierte und Aschraf Ghani mit einem Helikopter voller Geld aus dem Land flog, wandelte sich die lang anhaltende soziale Krise Afghanistans (geprägt durch Massenarmut und Besatzung) in eine akute humanitäre Krise der Massen. Aus Angst vor  der Taliban, die ihre Drohungen schnell wahr machte, versammelten sich hunderttausende Menschen mit der Hoffnung, von westlichen Staaten evakuiert zu werden am Flughafen. Es gingen Bilder um die Welt von Menschen, die versuchen, in Flugzeuge zu flüchten. Erst nach diesen Ereignissen beschloss die Bundesregierung, die Abschiebungen nach Afghanistan temporär auszusetzen. Bis dato galt Afghanistan als sicheres Herkunftsland, obwohl das Land militärisch besetzt und der Vormarsch der Taliban seit langem bekannt war.

Was war die Bilanz des Bürgertums aus diesem humanitären Desaster? „2015 darf sich nicht wiederholen“, sagte Armin Laschet, der CDU-Kandidat für die Nachfolge Merkels. Diese Aussage kann weder als Ausrutscher noch als unpassender Vergleich betrachtet werden. Vielmehr geht es Laschet darum, sich an der von der Merkel-Regierung erbauten „Festung Europa“ zu orientieren. Um die Einwanderung nach Deutschland auf das Mindeste zu beschränken, knüpft er an den Kurs von Merkel an, indem er beispielsweise die Dublin-Verordnung und die Deals mit der Türkei bekräftigt sowie weitere solche Deals mit anderen Ländern wie Pakistan prüft.

SPD und Grüne: Architekt:innen von Besatzung und Armut

Keine der Parteien, die im Herbst zu wählen sind, wird angemessen auf die akuten humanitären Krisen und Folgen des Migrationsregimes reagieren. Die SPD ist als Teil der GroKo für alle Asylrechtsverschärfungen unter der Merkel-Regierung unmittelbar mitverantwortlich. Das durch den damaligen Außenminister (und heutigen Bundespräsidenten) Frank-Walter Steinmeier geführte Auswärtige Amt konzipierte den EU-Türkei-Deal mit Erdoğan und setzte ihn trotz aller Kritiken von Menschenrechtsorganisationen, Geflüchtetengruppen und sozialen Bewegungen durch. Der gleiche Steinmeier war für die Überführung von Murat Kurnaz in US-Folter verantwortlich. Die darauffolgenden Außenminister Sigmar Gabriel und Heiko Maas, beide ebenfalls SPD, stützten sich auf Steinmeiers Prämissen.

Es war überhaupt erst die SPD-Grüne Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die die deutsche Beteiligung an der Afghanistan-Invasion beschloss, die heute, 20 Jahre nach Beginn der Besatzung, in jeder Hinsicht gescheitert ist. Für die Menschen in Afghanistan wird diese Besatzung als räuberisch, korrupt und despotisch im kollektiven Gedächtnis bleiben. Auf diese Weise enden die „humanitären Einsätze“, auch wenn gerne behauptet wird, sie sollten Menschen retten oder ihre Rechte sichern. Die NATO, die UNO und die Berufsarmeen der kapitalistischen und imperialistischen Staaten sind keine emanzipatorischen Triebkräfte, sondern Invasionstruppen im Sinne der Ausplünderung und Besatzung.

Die Grünen wiederum ziehen – obwohl sie es gut verstehen, humanitäre Zusammenschlüsse wie die Seebrücke zu vereinnahmen – aus Afghanistan die Schlussfolgerung, die deutsche Bundeswehr aufzurüsten und verkaufen Kriegseinsätze als emanzipatorische Missionen. Diejenigen, die Illusionen haben, die Grünen könnten die Forderungen der sozialen Bewegungen in den Bundestag hineintragen und sogar in der Regierung umsetzen, sind dazu verdammt, negative Erfahrungen mit dem liberalen Antirassismus zu machen. Die Grünen haben kein positives Programm für die Arbeiter:innen, für die in Lager gesperrten Geflüchteten und die Migrant:innen ohne deutsche Staatsbürger:innenschaft. Denn die letzte SPD-Grüne-Regierung stimmte nicht nur für die Invasion Afghanistans, sondern auch für einen Generalangriff auf die Arbeiter:innen in Deutschland durch die Hartz-IV-Reformen.

Weder in zwei Bundesregierungen noch in zahlreichen Landesregierungen ergriffen die Grünen Maßnahmen, um das Migrationsregime zu konfrontieren, denn sie wollen den Staat und seine Repressionsapparate wie die Bundeswehr, die Polizei und den Verfassungsschutz mitverwalten. Sie bewilligen als Teil der Landesregierungen Abschiebungen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, und dreschen gleichzeitig auf Demonstrationen und Kundgebungen Phrasen über die Solidarität mit Geflüchteten. Ein Bruch mit den Grünen, die mit Hilfe von Vermittlungsinstanzen wie den NGOs die sozialen Bewegungen entschärfen, an die Institutionen binden und demobilisieren, ist dringend nötig.

Die Anpassung der LINKEN und die Möglichkeiten der Arbeiter:innenklasse

Auch DIE LINKE passte sich im Zuge ihrer Regierungsbeteiligungen auf Länderebene dem bürgerlichem Staat an. Sie regiert auf Landesebene, wie in Thüringen und Berlin, die Abschiebemaschinerie mit und verändern nichts am Lagersystem und den Abschiebungen. In ihrem „Sofortprogramm“ macht sie nun, kurz vor der Wahl, bedingungslose Zugeständnisse an die Grünen und die SPD. So behauptet Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender von DIE LINKE im Bundestag, seine Partei werde keinesfalls den Austritt aus der NATO zur Bedingung für RRG machen. Als positives Beispiel trotz Ablehnung der NATO regieren zu können nennt er ausgerechnet die Grünen. Die Forderung, alle Rüstungsexporte zu stoppen, wird umformuliert in die Reduzierung des Rüstungsetats „auf das Niveau von 2018“. Schon Ende August stimmte DIE LINKE dem bewaffneten Bundeswehr-Einsatz in Kabul zu, angeblich um humanitären Verpflichtungen nachzukommen. Dieser dem Anschein nach humanistische, „realpolitische“ Ansatz bedeutet tatsächlich die Befürwortung militaristischer Interventionen Deutschlands. So behauptete die Partei, dass in einem stark militarisierten Taliban-Regime ein humanitärer Einsatz nicht mehr in Frage käme, ohne selbst bewaffnet zu sein.

Das ist aber nicht wahr. Selbst an den höchst angespannten Tagen nach der Machteroberung durch die Taliban war es möglich, ohne militärischen Einsatz Evakuierungen durchzuführen. Obwohl die Linkspartei sich als Arbeiter:innenpartei profiliert, denkt ihre Führung nicht einmal ansatzweise an die Mittel und Methoden der Arbeiter:innenklasse, um politische Lösungen zu finden.

Da wir sehen, wie schleppend die Evakuierungen aus Afghanistan vorangehen, können wir nicht auf die Parteien warten. Vielmehr muss ein Notfallprogramm unter proletarischer Führung entwickelt und umgesetzt werden, das über Evakuierung allein hinausgeht. Dabei müssen Pilot:innen und Arbeitskräfte an den Flughäfen mobilisiert werden, um die Evakuierung der Geflüchteten zu organisieren. Über Streiks können diese Einsätze erzwungen werden. Mit den gleichen Mitteln wäre es effektiv möglich, Abschiebungen in Deutschland und Europa zu verhindern und Änderungen im ganzen Migrationsregime zu erkämpfen. Derartige Kämpfe müssen auch einhergehen mit der Mobilisierung gegen Auslandseinsätze der Bundesregierung. Denn die Analyse der Situation in Afghanistan muss den Imperialismus in ihren Fokus stellen und entsprechende Schritte gegen ihn einleiten.

Daneben sind diese Kämpfe um die Aufnahme von Menschen aus Afghanistan immer mit einer Perspektive zu verbinden, wie die Lebensrealität von Geflüchteten hierzulande verändert werden kann. Denn welche Lebensbedingungen aktuell auf geflüchtete Menschen in Deutschland warten, haben wir bereits gezeigt. In Bezug auf Afghanistan drohen die Ausländerbehörden bereits jetzt an, dass Abschiebungen bald wieder zu erwarten sind. Um die Abschiebungen zu gewährleisten, wurde das Lagersystem entwickelt und verfeinert. Es kann heute nicht darum gehen, diese Lager zu verbessern oder humanitärer zu gestalten, sondern sie abzuschaffen und das Recht auf eine eigene und bezahlbare Wohnung für alle in Deutschland lebenden Menschen zu ermöglichen. Abschiebungen müssen generell gestoppt und Asylanträge anerkannt werden. Es geht weiterhin nicht darum, besonders qualifizierten Teilen der Geflüchteten den Zugang zu Jobs zu ermöglichen, sondern Arbeitsrechte für alle Menschen zu ermöglichen.

Die Gewerkschaft ver.di eröffnete im Jahr 2015 Geflüchteten die Möglichkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Doch damit die Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht auf Papier bleibt und die Gewerkschaften als Kampforgane für die Rechte der Arbeiter:innen fungieren, braucht es Mobilisierungen ihrerseits, besonders für ein humanitäres Notfallprogramm und allgemeine Abschiebestopps. Eine Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden die Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich wäre eine geeignete Forderung, um die Entlassungen zu verhindern und das Arbeitsrecht für alle hier lebenden Menschen zu erkämpfen.

Die Arbeiter:innenklasse hat keine Staatsgrenzen. Wenn sie das erkennt, ein Bündnis mit den Unterdrückten gegen den Kapitalismus aufbaut und ihre eigenen chauvinistischen Führungen abschüttelt, kann sie auch das Grenzregime einreißen.

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