„Wir wollen eine Partei der Volkstribune aufbauen“ – Emilio Albamonte

21.08.2020, Lesezeit 40 Min.
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Der Anführer Emilio Albamonte der argentinischen PTS, der Partei der Sozialistischen Arbeiter*innen, spricht in diesem Interview aus dem Jahr 2016 über die Notwendigkeit eines Marxismus mit strategischem Schwerpunkt und schneidet mehrere Themen der argentinischen und weltweiten Situation an.

Zusammen mit Matías Maiello hast du den Prolog zum Buch „Sozialistische Strategie und Militärkunst“ geschrieben [A.d.Ü.: Das Buch kam schließlich 2018 auf Spanisch raus]. Darin behandelt ihr die Theorien des preußischen Generals Carl von Clausewitz. An einer Stelle sprecht ihr von der Wichtigkeit, einen „Marxismus mit strategischem Schwerpunkt“ wieder aufleben zu lassen. Warum ist die Strategie für die revolutionäre Politik so wichtig?

Ich muss erst einmal sagen, dass es der Marxismus des 20. Jahrhunderts war, der begann, den Begriff Strategie zu verwenden. Der Marxismus des 19. Jahrhunderts sprach nämlich zuvor von der Taktik des Proletariats. Trotzki sagt, dass der Marxismus unter anderem mit dem Balkankrieg und dem Ersten Weltkrieg begann, eine Strategie zu entwickeln. Also: Was ist Strategie? In Trotzkis bekannter Definition besteht die Taktik darin, vereinzelte Operationen durchzuführen, beispielsweise sind ein Streik, die Wahl von Abgeordneten und die Übernahme der Führung einer Gewerkschaft solch vereinzelte Operationen. Die Strategie besteht darin, all diese Operationen zu bündeln und sie zum Sieg zu führen. Deshalb handelt es sich bei der Strategie um „die Kunst, zu siegen“. Wenn wir sagen, dass wir einen Marxismus mit strategischem Schwerpunkt brauchen, meine ich dies im Gegensatz zum gesamten „westlichen Marxismus“. Das war ein Marxismus, der von Ästhetik und Philosophie sprach – nicht aber von der Kunst des Proletariats, zu siegen. Eine Ausnahme bildet der Trotzkismus, von dem Perry Anderson sagt, dass er mehr auf revolutionäre Diskussionen ausgerichtet war. Wenn ich von einem Marxismus mit strategischem Schwerpunkt spreche, dann meine ich, dass der Schlüssel des Marxismus – auch wenn er eine materialistische Geschichtsauffassung hat, auch wenn er eine wissenschaftliche Kritik der politischen Ökonomie darstellt – die Kunst ist, die Massen zum Sieg zu führen, zum Ende der Ausbeutung, zum Ende der Lohnsklaverei.

Was ich also mit einem Marxismus mit strategischem Schwerpunkt meinte, ist kein akademischer Marxismus, sondern ein militanter Marxismus, dessen Ziel das Ende der Ausbeutung ist.

Es gibt eine interessante Definition, die besagt, dass Strategie „die Kunst ist, Kräfteverhältnisse zu artikulieren“. Dafür braucht man natürlich erst mal eigene Kräfte, die nicht erst im Moment der revolutionären Prozesse, im Moment ihres Höhepunktes, aufgebaut werden können.

Das ist richtig, die Dritte Internationale hat auf ihren ersten vier Kongressen begonnen, das Problem der Strategie ziemlich wissenschaftlich zu diskutieren. Eine der größten Diskussionen, die geführt wurden, war die über die Arbeiter*inneneinheitsfront (AEF). 1921 erlitt mit der großen Niederlage in Deutschland die große Welle der Sympathie und Ausdehnung, die die russische Revolution ausgelöst hatte, einen ersten Rückschlag. Von diesem Moment an trafen die Kommunist*innen auf „sehr nette“ Menschen wie die Sozialdemokrat*innen, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen und später Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet hatten. Als 1921 die AEF als Vereinbarung in Erwägung gezogen wurde, um „gemeinsam zu schlagen und getrennt zu marschieren“, schrieen die Ultralinken auf. So lautete nämlich die Definition der AEF, aber was bedeutete das?

Es handelte sich um ein Abkommen, nicht nur mit den Gewerkschaften, sondern auch mit den politischen Parteien, die sich als Teil der Arbeiter*innenklasse sahen, um sich gemeinsam den Offensiven des Kapitals zu widersetzen. Selbst wenn diese Verrat begingen, wie im Fall der Sozialdemokratie, die sogar ihre eigenen kommunistischen Genoss*innen ermordete. In diesem Prozess bedeutete „getrennt marschieren“, die Fahnen nicht zu vermischen, das heißt mit Reformist*innen keinen politischen Block zu bilden. Die Dritte Internationale hatte diese Definition erstmals erarbeitet. Später wurde sie von Trotzki weiterentwickelt, während er es sich zur Aufgabe machte, die Vierte Internationale aufzubauen. Er kam zu dem Schluss, dass die AEF nicht dazu verdammt ist, nur eine defensive Taktik zu sein, die dem Zweck dient, Widerstand gegen das Kapital zu leisten, sondern sich auch in eine offensive Taktik verwandeln kann, sobald sie ihr Ziel erreicht hat, sobald es ihr gelingt, die Bürokratie aus ihren gemütlichen Sesseln zu bekommen. Sobald es ihr gelingt, die Massen auf die Straße zu bringen und die Offensiven des Kapitals tatsächlich zu stoppen. In einem allgemeinen Aufstieg der Arbeiter*innen, bei dem große Massen von Menschen in einem revolutionären Prozess teilnehmen, würde die AEF die realen Führungen der Massenbewegung auffordern, „mit der Bourgeoisie zu brechen und die Macht zu übernehmen“. Diese Taktik wird als Taktik der Arbeiter*innenregierung bezeichnet, die sich von einer linken Regierung unterscheidet, die in einem beliebigen Land Wahlen gewinnt und den Kapitalismus verwalten will.

Denn die Idee ist, die Macht zu übernehmen, um die Bourgeoisie zu ent- und das Proletariat zu bewaffnen und so den Übergang zu einer Gesellschaft ohne Ausbeuter*innen und Ausgebeutete zu schaffen, der auf nationaler Ebene anfängt und international endet.

Das ist das Konzept der AEF: es beginnt defensiv, bleibt aber nicht dabei, sondern wird offensiv und schafft in diesem Prozess die notwendigen Kräfte, um zu siegen.

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Perry Anderson sagt, dass die AEF der letzte Ratschlag Lenins an die Arbeiter*innenbewegung im Westen war, oder?

Genauso ist es. Der Stalinismus hat alles durcheinander gebracht, weil er nach der Niederlage der Chinesischen Revolution von 1925-27, in der er eine opportunistische Haltung einnahm, die Politik der sogenannten „dritten Periode“ propagierte und behauptete, die Sozialdemokrat*innen seien Sozialfaschist*innen. Der Hauptgrund für Hitlers Sieg war, dass sich ihm keine Einheitsfront der Organisationen des Proletariats entgegenstellte.

Vor diesem Hintergrund hatten unterschiedliche Denker*innen wie Trotzki und Gramsci argumentiert, dass es einer defensiven Einheitsfront bedürfe, gegen diese monströse Offensive, die zum Siegeszug des Faschismus und letztendlich zum Zweiten Weltkrieg führen sollte.

Ja, damals wurden die vorhandenen Kräfteverhältnisse zerschlagen…

Das stimmt, doch die Kommunistische Partei war sogar glücklich, weil sie bei den Arbeitslosen an Gewicht gewann. Trotzki sagte hingegen, dass 3,5 Millionen Stimmen zwar sehr wichtig seien. Das Problem bestünde aber fort, dass die Arbeiter*innen, die die Häfen, die Eisenbahnen, die großen Fabriken und so weiter am Laufen hielten, allesamt der Sozialdemokratie angehörten. Wenn es unter ihnen keine Einheitsfront gibt, sind die radikalsten die Arbeitslosen, weil sie verzweifelt sind wegen der Situation, in der sie sich befinden. In diesem Fall hatten sie aber nicht die Kraft, sich gegen die Offensive der faschistischen Banden zu wehren, denen es später gelang, die ganze Bourgeoisie davon zu überzeugen, den Faschismus in Deutschland durchzusetzen.

Antistrategische Theoretiker*innen

Im Prolog zieht ihr zwei Personen als theoretische Strategieverweigerer heran: die Philosophen Michel Foucault und Giorgio Agamben und ihre Theorien zur „Biomacht“ und zum „Ausnahmezustand“. Inwiefern stellen diese eine Form der bewussten Verweigerung von Strategie an sich oder zumindest von der Möglichkeit, eine solche zu entwickeln, dar?

Zuallererst: wir haben sie analytisch verbunden (Foucault und Agamben), jedoch sind sie keine einander ähnlichen Denker, auch wenn sich der eine auf den anderen stützt. Foucault baut seine ganze Theorie auf einem Dialog auf, der den Marxismus negiert. Während der Marxismus den Klassenkampf analysiert und gebraucht, um zu siegen, handelt die Theorie Foucaults davon, wie die „Macht“ perfektioniert und immer effektiver wird, um jeglichen Widerstand zu unterdrücken. Da es für ihn statt im Staat konzentrierte Macht nur noch Mikro-Mächte gibt, ist die Strategie, die er vorschlägt, eine von Mikro-Widerständen. Insofern gibt es für Foucault keine Strategie: Weil die Macht nicht in einem zentralen Apparat – wie dem Staat – konzentriert ist und es nur die Möglichkeit eines partiellen Widerstandes gibt, kann es keine Strategie geben. Da Strategie in der Kunst besteht, den Staat und die hegemoniale Macht zu besiegen, die eine Klasse gegenüber einer andere innehat, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, handelt es sich um antistrategische Denker.

Weder bei Agamben, dessen Schriften auf der Vision der Biomacht aufbauen – die auch von anderen Philosoph*innen wie Gilles Deleuze oder Félix Guattari, die beide in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebten, verwendet wurde – noch mit Foucault macht eine strategische Diskussion Sinn.

Trotzdem nutzen sie einige der Kategorien von Clausewitz. Foucault hatte ihn begeistert gelesen und daraufhin seine bekannte und beliebte Formel „Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ umgekehrt, indem er sagte, dass „die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ ist. Mit dieser Umkehrung der Formel löst er also den klaren Unterschied auf, den General Clausewitz – einer der wichtigsten Strateg*innen und Militärtheoretiker*innen – zwischen dem, was Krieg und dem, was Frieden ist, ausgemacht hatte.

Eine Sache, von der ich glaube, dass jeder normale Mensch sie sehen kann, ist, dass das Leben in Argentinien trotz all der Repressionen, trotz der SIDE [argentinischer Geheimdienst, A.d.Ü.] usw. nicht dasselbe ist wie das in Syrien. Es besteht ein klarer Unterschied zwischen dem, was Krieg und was Frieden ist. Die gesamte postmoderne Philosophie, die bei Foucault anfängt und sich danach durch den gesamten Postmodernismus zieht, leugnet diesen Unterschied. In ihren Augen ist alles Folter, sind alles Konzentrationslager. Ausgehend von dem durchaus realen Fakt, dass die Bevölkerung immer mehr kontrolliert wird, wird der Unterschied, den die Militärtheoretiker*innen zwischen Krieg und Frieden konstatieren, verwässert.

Wir nennen sie also „anti-strategische“ Denker*innen, weil sie Denker*innen des Widerstands, aber nicht der Kunst zu siegen, sind. Der Grund, weshalb sie antistrategische Denker*innen sind, ist, dass man sich Macht nicht nur widersetzen kann.

Die Linke und Syriza

Ihr bringt dies auf die Ebene der aktuellen politischen und strategischen Diskussion und bewertet, wie die Leistung der linken Koalition Syriza in Griechenland oder von Podemos im spanischen Staat war, richtig?

Ja, das ist bereits eine Strategiediskussion. Es geht nicht nur um das Problem der antistrategischen Denker, sondern es ist eine Diskussion in einem Land, in dem es eine brutale Offensive der Europäischen Union, durch die so genannte „Troika“, gab, um ähnliche Bedingungen wie 2001 in Argentinien durchzusetzen. In diesem Fall entstand eine linke Regierung, von Syriza, die keine Arbeiter*innenregierung in dem von mir zuvor erläuterten Sinne war, keine Regierung des Bruchs mit der Bourgeoisie, sondern eine Regierung, die vorgab, das zu tun, was der Kirchnerismus in Argentinien getan hat, zum Beispiel: den Staatsapparat zu übernehmen und bessere Verhandlungsbedingungen mit den Mächten der EU, des IWF und der Weltbank zu erhalten.

Fehlte es an Kampf in Griechenland? Nein, es gab 30 Generalstreiks, das heißt, es gab eine Menge Klassenkampf. Das große Problem war, dass diese Syriza-Koalition das einzige Ziel hatte, die Macht durch Wahlen zu gewinnen. Sie hatte die Führung in einer Reihe von Gewerkschaften inne, genauso wie auch die Sozialistische Partei (PASOK), die im Zuge der Bewältigung dieser Krise fast verschwand, und es gab auch Gewerkschaften, die unter der Führung der alten griechischen Kommunistischen Partei standen. Eine defensive Einheitsfront, nach Vorbild der Diskussionen der Dritten Internationale, wurde nie erreicht, um die Pläne der Troika zu stoppen. Man war zuversichtlich, dass die europäischen Mächte (Angela Merkel usw.) mit Manövern und Mobilisierungen, die eine Machtdemonstration darstellten, ihren Vorhaben, Griechenland zu Kürzungen zu drängen, nachgeben würden.

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Es gab sogar eine Zeit, in der der Druck sehr groß war, als es eine Kapitalflucht gab, wie in Argentinien im Jahr 2001 – und um besser verhandeln zu können, führte Syriza eine Volksabstimmung durch, bei der 61 Prozent der Bevölkerung gegen die Annahme der von den europäischen Mächten auferlegten Bedingungen stimmten. Am nächsten Tag wollten sie jedoch mit der EU verhandeln. Es gibt einen alten Film, in dem es hieß: „Moskau glaubt nicht an Tränen“, nun, Merkel glaubt auch nicht an Tränen, und man sagte: „Nein, das sind die gleichen Bedingungen, die vor dem Plebiszit bestanden“. Und sie wurden die Verwalter, nicht einer Regierung zum Wiederaufbau des bürgerlichen Staates und mit einem gewissen Reformismus, wie es der Kirchnerismus in Argentinien oder der Chavismus in Venezuela mit mehr Reformen ist, sondern einer Regierung zur Verwaltung der kapitalistische Krise, wie die „normalen“ neoliberalen Regierungen.

Was ist also schiefgegangen? Syriza wurde zeitweise von antistrategischen Theoretiker*innen unterstützt, sowie von allen Reformist*innen in der EU. Sogar einige Sektoren, die sich selbst als revolutionär betrachten, waren sich einig, dass die Lösung in der Bildung einer linken Regierung bestand. Nun, eine linke Regierung, die nicht die Macht hat, diese Kräfteverhältnisse zu bewegen, ist eine Regierung, die nur noch versuchen kann, mehr aus einem Manöver herauszuholen, als es eigentlich hergibt, und versuchen muss, mit dem Kapital zu verhandeln, dem keine Zugeständnisse mehr abgerungen werden können, wenn es der Wirtschaft schlecht geht, wie es in Griechenland der Fall war. Der Plan, den sie hatten, war völlig utopisch, und heute ist Griechenland wie Argentinien im Jahr 2001.

Programm und Strategie

Auf einer allgemeineren Ebene: Warum gab es diese Trennung zwischen Programm und Strategie in der Linken? Ihr zieht einen Vergleich mit der Zeit nach der Niederlage der Pariser Kommune 1871 und sagt, dass die Niederlage dieses Mal das strategische Denken aus dem Blickfeld gerückt hat, nicht wahr?

Ja, im Zweiten Weltkrieg und etwas früher gab es verschiedene Strategien, die sich nach der russischen Revolution herauskristallisierten: Es gab die Arbeiter*innenstrategie, die in der russischen Revolution im Positiven und in der Niederlage der deutschen Revolution 1921 im Negativen bestätigt wurde, dann 1923, im spanischen Bürgerkrieg, sogar in der chinesischen Revolution von 1925/27. Angesichts dieser Niederlagen entstanden dann andere Strategien, die sich auf andere Klassen und im Wesentlichen auf die Bauernschaft stützen: Mao Tse Tungs Theorie des „langwierigen Volkskriegs“ entstand, also eine Politik, auf das Land zu gehen und Landreformen durchzuführen, befreite Gebiete zu erobern und vom Land zurückzukehren und die Städte einzunehmen. Diese Politik, die einen gewissen Erfolg in Verbindung mit besonderen, durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen Bedingungen hatte, verwandelte sich in eine große Bewegung, wie den Maoismus, als dieser 1949 in China triumphierte.

Dann tauchten andere Strategien auf, wie der Guerillakrieg („Fokustheorie“) von Che Guevara, der glaubte, dass die bloße Existenz von Revolutionär*innen in einer Konfliktzone die objektiven Bedingungen dafür schuf, dass die Bewegung revolutionär wurde. Mit anderen Worten, es wurden andere Strategien getestet.

Gibt es einen Unterschied zwischen Programm und Strategie, das eine enthält das andere, sind es zwei verschiedene Dinge?

Jedes Programm der Arbeiter*innenbefreiung durch die Arbeiter*innen selbst müsste eine Strategie enthalten. Aber wie ich bereits sagte, sprach der Marxismus des 19. Jahrhunderts immer von der Taktik des Proletariats, er sagte nie, wie dies erreicht wurde, obwohl die klassischen Marxist*innen und Engels selbst sehr fleißig mit der Strategie ihrer Zeit beschäftigt waren. Engels, der sogar „der General“ genannt wurde, weil er so viel über militärische Theorie wusste, war ein Schüler des französisch-preußischen Krieges, des amerikanischen Bürgerkrieges usw.

Aber das war nicht mit der Taktik der Arbeiter*innenbewegung verbunden, denn nach der Pariser Kommune begann eine Periode des Wiederaufbaus der Arbeiter*innenbewegung und der Ausweitung des Marxismus in den Gewerkschaften, des Aufbaus von Parteien, die die gewerkschaftliche Taktik mit der Wahltaktik verbanden. Zu einer Zeit, als sich der Kapitalismus noch mehr oder weniger harmonisch entwickelte, wurde das Problem der Strategie – das nach wie vor besteht – zu einer Frage „für die Feiertage“ – insbesondere nach dem Tod von Engels.

Es ist der gewaltsame Ausbruch des ersten russisch-japanischen Krieges 1904, der 1905 die russische Revolution, 1912/14 den Balkankrieg und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges auslöste, der Lenin dazu veranlasst, diesen alten preußischen General, der ein Schüler der napoleonischen Kriege war, zu lesen.

Die Napoleonischen Kriege brachten zum ersten Mal den nationalistischen Enthusiasmus des Volkes zum Vorschein und vor allem das populäre Element, das die Französische Revolution gehabt hatte, wurde von Napoleon zur Eroberung Europas genutzt. Clausewitz sieht das aus der Position des Verlierers, denn sein absolutistischer Staat wurde in den Schlachten von Jena und Auerstedt von napoleonischen Truppen brutal besiegt, und er beginnt Napoleon in seinem großen Werk „Vom Kriege“ sorgfältig zu studieren, und fragt, warum dieser so eindeutig siegte. Er erkennt, dass sein Triumph darauf zurückzuführen ist, dass er sich auf ein Volk stützte, dem die Französische Revolution die Landverteilung zugestanden hatte und das über eine Bauernschaft verfügte, die gut ernährt früher auf das Schlachtfeld gelangen konnte und sich gegenüber den absolutistischen Armeen zur mächtigsten Armee in ganz Europa entwickelte.

Es zeichnen sich Kategorien ab, die sehr interessant sind, zum Beispiel die Kategorie der „Dreifaltigkeit“, die jeder Krieg hat und die wir in diesem Buch viel diskutieren: Was bedeutet diese Kategorie der Dreifaltigkeit? Der Krieg hat eine Rationalität, die im Kabinett, im Kommando, in der Richtung des Staates liegt. Wenn man an den Punkt kommt, an dem man dem Feind nicht mit politischen Diskussion den Willen aufzuzwingen kann, muss man auf physische Gewalt zurückgreifen. Aber dies ist eine rationale Entscheidung. Es gibt das Kommando der Armee, das sich nicht nur rational verhält, sondern mit Wahrscheinlichkeiten spielt; der Zufall tritt ein. Und es gibt das Volk, in dem der nationale Hass schwingt. Clausewitz sagt: Es gibt eine Dreifaltigkeit der Vernunft, die denjenigen entspricht, die befehlen; des Hasses, der denjenigen entspricht, die beherrscht werden; und der Armeeführung, die zwischen Rationalität und dem Zufall schwankt.

Clausewitz und der Marxismus

Aber Clausewitz‘ Theorie ist für den Krieg zwischen Staaten, wie kann das in einen Klassenkampf umgesetzt werden, der kein Kampf zwischen Staaten ist?

Für Clausewitz ist das Volk ein zweitrangiger Akteur, und der Schlüssel liegt für ihn darin, den Hass auszunutzen, um ihn gegen den Feind auszuspielen. Währenddessen stütz sich der Marxismus auf den Klassenkampf und versucht, bewusste Arbeiter*innen in Kämpfer*innen für ihre eigene Befreiung zu verwandeln. Das macht einen großen Unterschied zwischen den Schlussfolgerungen, die Clausewitz ziehen kann, und den Schlussfolgerungen, die der Marxismus ziehen kann.

Was bringt es nun, diesen alten preußischen General zu lesen, einen Theoretiker, der an allen Militärakademien studiert wird? Wenn man an einem Streik teilnimmt, gibt es Elemente physischer Gewalt, aber sie sind nie die vorherrschenden. Aber es gibt einen Moment, der Bürgerkrieg ist. Und was ist Bürgerkrieg? So wie es im Krieg der Staaten einen Moment gibt, in dem man die bewaffnete Macht braucht, um den Willen des Feindes zu beugen, so gibt es im Klassenkampf einen Moment, in dem das Proletariat, wenn es sich von der Ausbeutung befreien will, auf eine höhere Stufe treten muss, so haben wir das im gesamten 20. Jahrhundert gesehen. Wir haben es in der spanischen Revolution gesehen, die im spanischen Bürgerkrieg endete. Sie tritt zwangsläufig in einen Moment des Bürgerkriegs ein.

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Mit anderen Worten, es gibt zwei Prozesse, die spezifisch militärisch sind und die nicht allgemein Klassenkampf sind, diese militärischen Momente sind: der allgemeine Bürgerkrieg, der Krieg zwischen Ausbeuter*innen und Ausgebeuteten, in dem jede*r versucht, neutrale Sektoren auf seine Seite zu ziehen, und der Aufstand, der ebenfalls eine Kunst ist. Bis zur Zeit der russischen Revolution und dem Beginn ihres Studiums wurde sie nicht als Kunst angesehen, die vollständig studiert werden musste.

Bei Clausewitz gibt es also einen großen Unterschied zum Marxismus: Er stützt sich nicht auf den Klassenkampf, sondern auf den Krieg zwischen den Staaten, aber es gibt eine Gemeinsamkeit, es gibt einen Moment, in dem der Marxismus, wenn er die militärische Kunst nicht kennt, wehrlos sein wird gegen den Moment, in dem der Klassenkampf sich überwiegend in einen physischen Kampf um die Machtergreifung verwandelt.

Es gibt ein sehr gutes Zitat von Trotzki (im Prolog des Buches), das besagt, dass derjenige, der sich nicht auf den physischen Kampf vorbereitet, sich nicht wirklich auf irgendeinen Kampf vorbereitet.

In der Tat. Es ist eine brutale Kritik an allen Marxist*innen, die sich nicht vorbereiten. Da es seit 30 Jahren einen Neoliberalismus gibt und keine Revolutionen vorherrschten, denken die marxistischen Parteien, selbst die orthodoxesten, auch die nicht reformistischen, im Allgemeinen viel über taktische Kämpfe, über den Sieg in Gewerkschaften, die Teilnahme an Wahlen usw. nach; aber sie verbinden das nicht mit der Kunst des Siegens. Wir haben dieses Zitat als provokative Inschrift an den Anfang gesetzt, es ist ähnlich wie andere Zitate, wie in „Wohin geht Frankreich“. Diese Parteien sagen dazu, dass die Arbeiter*innenmilizen im Vergleich zu den großen modernen Armeen sehr schwach ist: „Nun, wenn wir keine Arbeiter*innenmiliz aufbauen können und die Arbeiter*innenmiliz nicht die ganze Bevölkerung mobilisieren kann, dann lassen wir die proletarische Revolution beiseite“. Aber die proletarische Revolution beruht nicht (ausschließlich) auf der Fähigkeit der Waffen, denn der Feind wird immer bessere Waffen haben, sondern auf der Fähigkeit, die Bevölkerung, die unter der Herrschaft der Bourgeoisie steht, für die Arbeiter*innen zu gewinnen, und wenn dies nicht gelingt, gibt es offensichtlich keine Möglichkeit zu triumphieren.

Pablo Bonavena und Fabián Nievas, die den Lehrstuhl für Kriegssoziologie [der Universität von La Plata in Argentinien, A.d.Ü.] innehaben, geben eine provokative Erklärung ab und sagen, dass die Linke in letzter Zeit pazifistisch geworden ist, weil sie nicht mehr über diese Fragen nachdenkt, nicht wahr?

Ja, wir haben uns seit Jahren mit dem Problem der Strategie befasst und berücksichtigen diese Aussage immer. Sie sagen, dass es ein „epistemologisches Trauma“ gibt, weil diese Frage nicht bedacht wird. Wir schreiben seit vielen Jahren über das Problem der verschiedenen Strategien, wir begannen mit der Studie von Daniel Bensaïd, dem Theoretiker der Revolutionär-Kommunistischen Liga Frankreichs, der das Problem der Strategie wieder einführte, indem er gegen diese antistrategischen Denker*innen argumentierte, und dann begannen wir, verschiedene Strategien zu diskutieren. Zum Beispiel die Strategien, die ich vorhin kommentiert habe, die Strategien, die auf der Bäuer*innenklasse basieren, und die Strategien, die auf der Russischen Revolution und der Dritten Internationale basieren. Von dort aus begannen wir zu erkennen, dass es sehr wichtig war, auf die Studie zurückzukommen, die Lenin über Clausewitz erstellt hatte.

Im Jahr 2012 haben wir ein Seminar über Clausewitz durchgeführt, wir haben sogar begonnen, viele seiner Kategorien zu verwenden. Zum Beispiel diskutiert Clausewitz „Festungen“ und wir verwenden es ein wenig als Metapher, die besagt, dass die Partei „Bastionen“ hat: Orte, von denen aus sie den Klassenkampf führen kann, Fabriken, in denen sie konzentriert ist, oder Gewerkschaften oder Fakultäten. Dieses und viele andere Konzepte, die wir von Clausewitz übernehmen, wenden wir auf die heutige Politik an. All dies ist jedoch nicht von hohem Wert, wenn sich der Klassenkampf nicht in dem Moment, in dem er seinen Höhepunkt erreicht, in die Vorbereitung eines Aufstandes, in einen Bürgerkrieg verwandelt. Mit anderen Worten: Jede*r Marxist*in, die*der seine Kader nicht darauf vorbereitet, verdient es nicht, als revolutionäre*r Marxist*in bezeichnet zu werden. Deshalb machten wir nach diesem Seminar ein weiteres, das auf einer der wichtigsten Studien von Trotzki zur Strategie basiert, genannt „Stalin, der große Organisator der Niederlagen“1, welche die Periode der 1920er Jahre untersucht: die verschiedenen Chancen, die der Stalinismus verpasste, und in der sich in der UdSSR in eine bürokratische Führung entwickelte. Wir verbanden die Kategorien von Clausewitz mit den Studien Trotzkis. Dort studierten wir die verschiedenen Situationen der Vorkriegszeit und sogar die Taktiken für den Zweiten Weltkrieg, denn sie sind eine enorme Schule strategischen Denkens, die wir heute aktualisieren.

Alles, was wir im taktischen Bereich tun, wie unsere Arbeit in der Arbeiter*innenbewegung oder unsere Wahlarbeit in der Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT) usw., wird uns in einem bestimmten Moment unbewaffnet lassen, wenn wir keine Kader bilden, die die Strategie kennen. In einem Moment, in dem der Klassenkampf wegen seines Charakters in einen vorwiegend physischen Kampf verwandelt wird. Das Studium der Strategie ist für uns genauso wichtig wie alle taktischen Kämpfe, die wir täglich führen.

Die Welt in der Trump-Ära

Diese theoretische Ausarbeitung findet in einer Zeit statt, in der wir Linken und Trotzkist*innen nicht mehr die einzigen sind, die „Zusammenbrüche“ oder Stürme ankündigen, sondern die ganze Welt. Der größte Ausdruck ist die Ankunft von Donald Trump in der Regierung der Vereinigten Staaten oder die europäischen Krisen. Wie siehst du die Weltlage in diesem Zusammenhang?

Im August dieses Jahres haben wir einen Kongress unserer internationalen Strömung (die das internationalen Netzwerk von Tageszeitungen von Klasse gegen Klasse und La Izquierda Diario herausgibt) abgehalten. In einem Dokument für diesen Kongress sagten wir, dass es eine Polarisierung auf der linken und rechten Seite gibt. Auf der linken Seite gibt es Neoreformismen, wie wir sie nennen, wie das Beispiel von Syriza selbst oder Podemos-Izquierda Unida im Spanischen Staat, und auf der rechten Seite entwickelten sich die Phänomene des „Rechtspopulismus“ wie in Frankreich oder in anderen Ländern. Wir sehen, dass es das gibt, was Antonio Gramsci als Anfänge „organischer Krisen“ bezeichnet. Was ist eine organische Krise? Dass die Bourgeoisie eine große Schlacht verloren hat, und dass mit dem Verlust einer großen Schlacht eine Situation entsteht, die sie nicht kontrollieren kann.

Sie scheitern in einem großen Unternehmen…

Das große Unternehmen, das gescheitert oder an seine Grenzen gestoßen ist, ist der Neoliberalismus. Die „Entdeckung“ Chinas als der neue „Urwald“, der weltweit die Löhne sinken ließ und von dem sie glaubten, dass sie für immer erreichen könnten, dass China billige Produkte herstellt und die Vereinigten Staaten in einen mächtigen Abnehmer verwandeln. Als Ergebnis dieser Politik wurden viele Gebiete in den USA verödet, die die Gebiete sind, die überwiegend für Trump gestimmt haben. Diese globalisierende und neoliberale Offensive ist zu Ende gegangen. In Europa gab es bereits sehr starke rechte Bewegungen, angekündigt zum Beispiel durch Marine Le Pen, aber neu ist, dass dies die Vereinigten Staaten erreicht hat.

Das ist eine Frage, die sich im Zusammenhang mit der internationalen Situation stellt: Inwieweit können die Vereinigten Staaten mit ihrer gegenwärtigen Politik, mit ihren Unternehmen, die seit dem Zweiten Weltkrieg die Welt beherrschen, mit der Politik der Globalisierung brechen und inwieweit können sie zu einer Politik der „Industrialisierung“ zurückkehren, wie sie Trump ankündigt?

Bis jetzt weiß das niemand, und es ist eine große Unbekannte in der ganzen Welt und besonders in Lateinamerika und bei uns in Argentinien. Präsident Mauricio Macri gewann, indem er sagte, der Schlüssel sei die Integration Argentiniens in die globale Wertschöpfungskette. In den Vereinigten Staaten triumphiert ein rechter „Neopopulist“, der die Zinsen (der US-Zentralbank) erhöhen wird, was die Putschregierung von Michel Temer in Brasilien oder die Macri-Regierung in Argentinien in schlechtem Fahrwasser lässt. In der internationalen Situation gibt es also ein großes Fragezeichen, was von nun an geschehen wird. Diese ganze Situation der „organischen Krise“ ist ein Nebenprodukt der großen Krise von 2008, die dieser globalisierenden oder kolonisierenden Offensive ein Ende setzte.

Das Bild war der Sturz von Lehman Brothers…

Natürlich war der Sturz der Lehman Brothers das Bild des Endes, aber es dauerte viele Jahre. Trotzki deutet oft an, dass es Jahre dauern kann, bis aus einer Wirtschaftskrise eine allgemeine politische Krise wird. Das heißt, es dauert viele Jahre, bis die Massenbewegung von dieser Krise ausgeht und sie in etwas umwandelt. Bis jetzt hat die Massenbewegung sich im Negativen in ein politisches Phänomen verwandelt, das Proletariat ist von der falschen Seite in die politische Auseinandersetzung eingetreten, durch die Wahl von Trump. Die Frage ist, wann das Proletariat von der richtigen Seite eintritt und revolutionäre Prozesse verallgemeinert werden. Die Strategiediskussion dient der Vorbereitung auf diese Momente, und das wird nicht nur durch die Übernahme der Führung von Gewerkschaften erreicht, das wird nicht nur durch die Teilnahme an Wahlen erreicht.

Deshalb glauben wir, dass wir revolutionäre Kader brauchen, die die Unvermeidlichkeit dessen sehen, dass der politische Kampf in einen physischen Kampf verwandelt wird. In diesem Moment sind die Konzepte, die die Dritte Internationale durch die Lektüre von Clausewitz‘ strategischen Gedanken gegeben hat, sehr nützlich.

Die Front der Linken und Arbeiter*innen: Übereinstimmungen und Unterschiede

Wir sprachen über die Linke, über Syriza, über Podemos und du hast die Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT) in Argentinien vorgestellt. Sie ist ein seltenes Phänomen auf internationaler Ebene. Was ist die FIT, wie würdest du sie definieren?

Für mich ist die FIT eine Koalition von Parteien, die die Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse verteidigen. Für mich ist es ein Fortschritt. Es gab in Argentinien eine andere linke Front mit der Kommunistischen Partei und der Bewegung für Sozialismus (MAS), welche Izquierda Unida (Vereinigte Linke) hieß. Sie vereinigte sich gerade zu einer Zeit, als die sowjetische Bürokratie die Unternehmen in Russland an sich nahm und der Stalinismus überall auf der Welt zerfiel. Die MAS hatten die schlechte Idee, sich mit der Kommunistischen Partei in Argentinien zu verbünden. Das war einer der Gründe, der zum Bruch und zur Explosion der alten MAS und der Strömung von Nahuel Moreno2 führte. Wir haben immer gesagt, dass die Ziegel der Berliner Mauer auf die Köpfe derer fielen, die sie bauten.

Die FIT ist eine Koalition von Parteien, die sich trotzkistisch nennen, die ein antikapitalistisches Programm für eine Arbeiter*innenregierung hat und das ein klassenorientiertes Programm ist. Sie weigert sich, Vereinbarungen mit bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Fraktionen oder Parteien zu treffen. Sie verfolgt die Politik, dieses Programm der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse aus wahltaktischer Sicht „zu agitieren“, einmal alle zwei Jahre – wie es ihr die Gegner*innen der FIT vorwerfen. Es gibt viele Leute, die die FIT ablehnen, weil sie sagen: „Alle zwei Jahre einigen sie sich darauf, Kandidat*innen vorzuschlagen, aber trotzdem bekämpfen sie sich die zwei Jahre dazwischen“.

Die Diskussion, die diese Leute führen, ist sinnlos, denn ist es kein Fortschritt, dass es alle zwei Jahre Führer*innen gibt, die über die Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse sprechen und sich weigern, sich der Bourgeoisie anzuschließen? Für uns ist es ein Fortschritt, und Atlanta, wo 20.000 Menschen auf einer trotzkistischen Kundgebung waren, bestätigt das: ein Fortschritt für die Perspektive von Parteien, die in der nationalen politischen Szene einst marginal waren. Da wir im Klassenkampf nicht nur militärisch aktiv sein wollen, sondern eine gemeinsame Partei gründen wollen, haben wir der Arbeiterpartei PO vorgeschlagen, eine gemeinsame Partei zu gründen. Aber es gab nicht die Vorraussetzungen, um das zu erreichen.

Was war das Hindernis?

Wir glauben, dass wir unterschiedliche Strategien haben, um zum Beispiel in der Arbeiter*innenbewegung zu arbeiten. Die PO ging von einer etwas merkwürdigen Interpretation von Lenins „Was tun?“ aus, nach der man nur die Arbeiter*innenbewegung „von außen“ agitieren müsse, und wenn der revolutionäre Moment kommt, würden die Arbeiter*innen ihrer Partei folgen. Eine Politik der Agitation, die ein bisschen für das Schaufenster ist.

So hast du die Politik der PO bis vor Kurzem definiert…

Bis vor Kurzem. Mittlerweile ist sie zu einer Art grobem Syndikalismus (Trade-Unionismus) übergegangen, von der Lenin in „Was tun?“ spricht, wo davon gesprochen wird, dass die Gewerkschaftssekretär*innen (in den englischen Gewerkschaften) nur für die Lebensumstände der Arbeiter*innen kämpfen, für Arbeitsplätze, für Löhne, usw. All das ist sehr wichtig, aber das große Problem ist, wenn die Arbeiter*innen nur das tun, dann kommen Krisen, Kriege und Revolutionen usw., und die Arbeiter*innen sind schutzlos. Das Wichtigste ist, dass die Arbeit in den Gewerkschaften oder bei den Wahlen dazu dienen muss, das herauszubilden, was Lenin in „Was tun?“ „Volkstribune“ nennt. Was sind „Volkstribune“? Der Begriff kommt aus der Französischen Revolution, die ihn wiederum von den Volkstribunen der Römischen Republik übernommen hat. Im Kampf der Plebejer in Rom gab es eine Institution der Tribunen, die gegen alles, was gegen ihre Interessen war, ein Veto einlegen konnte. Sie waren Menschen, die viel weiter dachten als die Gewerkschaftsführer*innen, weil sie versuchten, mit ihrer Politik andere Schichten und Bevölkerungsgruppen zu beeinflussen. Als Lenin „Was tun?“ schrieb, hatte er noch eine Theorie der demokratischen Revolution, aber wo er absolut richtig lag, war sein Ziel, dass die Arbeiter*innen nicht nur ein ständisches oder gewerkschaftliches Bewusstsein haben, sondern mit anderen Teilen der Ausgebeuteten und Unterdrückten sprechen und das aufbauen sollten, was Gramsci „Hegemonie“ nennt. Und was ist Hegemonie? Es bedeutet mit Frauen sprechen, mit Jugendlichen sprechen, mit Arbeiter*innen sprechen, die ohne Arbeitsvertrag beschäftigt sind, mit Prekären, mit Leiharbeiter*innen und sie in den Kampf führen. Wenn man das nicht erreicht, kommt man nicht weit. Trotzki hat zwei große Lehren für die Arbeit in der Arbeiter*innenbewegung, zum einen heißt es im Übergangsprogramm „Eine richtige Politik in Bezug auf die Gewerkschaften ist eine Grundvoraussetzung für die Zugehörigkeit zur IV. Internationale. Wer den Weg der Massenbewegung weder sucht noch findet, der ist kein Kämpfer, sondern eine Belastung für die Partei“. Wer nicht sieht, dass die Gewerkschaften die hauptsächlichen Kampforgane der Arbeiter*innen sind, ist ein*e närrische*r Sektierer*in. Aber andererseits sind die Gewerkschaften für ihn nur ein bloßes Mittel, um Einfluss auf die Arbeiter*innenklasse zu gewinnen.

Wir sind sehr stolz auf unsere bekannten Genoss*innen, wie Nicolás del Caño oder Myriam Bregman, genauso haben wir eine ganze Generation von Genoss*innen – Arbeiter*innen –, die Volkstribune sind, wie Alejandro Vilca in Jujuy, wie Claudio Dellecarbonara in der U-Bahn oder wie Raúl Godoy bei den Keramikarbeiter*innen. Und warum sind sie Volkstribune? Weil sie sowohl ihre Genoss*innen in Teilkämpfen anführen, als auch ins Fernsehen gehen und die großen nationalen Probleme mit den Vertreter*innen der Bourgeoisie oder der kleinbürgerlichen Parteien oder mit der Gewerkschaftsbürokratie diskutieren. In diesem Sinne sind sie nicht nur Gewerkschaftsführer*innen, obwohl sie das auch sind, sondern sie führen den Anspruch Lenins fort, sich in Volkstribune zu verwandeln. Sie sind nicht die Einzigen, die anführen, es gibt Hunderte von Genoss*innen, die den Gewerkschaftskampf mit der Politik verbinden und Kandidat*innen der FIT waren. Sie sind eine Strömung, die in der Bewegung die Arbeiter*innen nicht nur für den Kampf für ihre unmittelbaren Forderungen gewinnt, sondern sie stellen diesen Kampf in die einzig richtige Perspektive, nämlich eine revolutionäre Partei aufzubauen.

Also, um zum Schluss zu kommen, was die FIT ist. Allgemein ist sie eine Koalition von Parteien, die für die Unabhängigkeit des Proletariats kämpfen. Ich kann nur für uns sprechen und erklären, welche Unterschiede in der Strategie uns nicht erlaubt haben, eine gemeinsame Partei zu bilden. Um es bescheiden auszudrücken: Wir versuchen, eine Partei der Volkstribune aufzubauen. Wir versuchen natürlich, eine Partei zu schaffen, in der die Arbeiter*innen an den Gewerkschaftskämpfen, die Frauen am Frauenkampf und die Jugend an den Studierenden- und Bildungskämpfen oder was auch immer teilnehmen. Aber die besten von ihnen werden sich in Anführer*innen oder Volkstribune verwandeln, die den Klassenkampf anführen können, wenn er sich verschärft und die wichtigsten strategischen Probleme aufgeworfen werden.

Mit dieser Perspektive beteiligen wir uns an der FIT. Die FIT ist auch kein Selbstzweck, so wie die Gewerkschaften kein Selbstzweck sind, sondern der Weg zum Aufbau einer revolutionären Partei in Argentinien.

Ich hoffe, dass wir das mit Genoss*innen aus den Parteien, mit denen wir die FIT bilden, gemeinsam tun können und dass die FIT in ein strategisches Bündnis umgewandelt werden kann, um eine gemeinsame revolutionäre Arbeiter*innenpartei zu bilden. Wir werden diese Frage dauerhaft zur Sprache bringen, wir glauben, dass die Vorraussetzungen existieren, dass wir das mit allen oder einzelnen Sektoren erreichen können.

Vergangenheit und Gegenwart

Ich habe ein paar Texte über deine Erfahrungen in politischer Militanz, die du vor einiger Zeit an einige von uns geschickt hast, erneut gelesen. Die erste Erinnerung war der Schock nach dem Tod von „Che“ Guevara und die Reden Fidel Castros auswendig zu kennen, und später, dass du dich dem Trotzkismus angeschlossen hast. Wenn du an diese angesprochenen neuen Generationen von Arbeiter*innen denkst, diese neuen Volkstribune und sie mit der alten Generation vergleichst, die kämpfte, was sind dann die Stärken und Schwächen, die du im Laufe der Zeit zwischen den verschiedenen Generationen siehst?

Der zentrale Wert dieser alten Generation war der Wille, und für eine*n Revolutionär*in ist der Wille wesentlich. Trotzki sagte, dass ein*e Revolutionär*in zu sein bedeutet, Hindernisse zu überwinden, und ich glaube, dass für die Generation der 70er Jahre – wenn es etwas gibt, das nicht geleugnet werden kann, dann ist es, dass sie einen enormen revolutionären Willen hatte, Hindernisse zu überwinden, und „Che“ Guevara ist ein enormes Symptom dieses revolutionären Willens. Das ist sehr wichtig.

Was sehr wichtig ist und was in der Einleitung unseres Buches sagen, ist, dass „Niederlage erzieht und Triumph verwirrt“, oder in den Worten des englischen Schriftstellers Joseph Conrad, dass „Triumph und Niederlage zwei große Betrüger sind“.

Die Generation der 70er Jahre glaubte, dass man mit ein wenig Willen, Kraft und Mut in den Sozialismus gehen könne, ohne die Probleme der Strategie eingehend zu diskutieren. Der „verlängerte Volkskrieg“, den sie in Argentinien anwenden wollten, basierte beispielsweise auf der Annahme, dass die Vereinigten Staaten in Argentinien einmarschieren würden, wenn die Situation zu hart würde.

Nun, was hat uns diese Niederlage gelehrt? Dabei müssen wir strategisch über die soziale Formation des Landes nachdenken, so wie Lenin die Entwicklung des Kapitalismus in Russland untersuchte und darauf aufbauend strategische Hypothesen aufstellte, die mit der Realität verknüpft sind.

Wir müssen den Willen erreichen, den die Generation der 70er Jahre hatte, aber mit den strategischen Lehren, die uns die Niederlage der Militärdiktatur und danach die Fortsetzung unter dem Menemismus3 usw. gegeben hat.

Ich glaube, dass es eine Reihe von vielen Erfahrungen gibt, die es zu studieren gilt, und wir müssen den Willen der Generation der 70er Jahre wiederfinden, den jeder erkennt und den niemand leugnen kann.

Ja, wir haben diese Erfahrungen einmal als „Generalprobe“ definiert, wie die Revolution von 1905 in Russland, die 1917 zum Triumph führte.

Es war eine Generalprobe, mit dem Unterschied, dass es eine längere Zeitspanne gibt als zwischen 1905 und 1917. Offensichtlich sind viele Jahre vergangen und es gab einen Bruch des revolutionären Denkens durch den Neoliberalismus in der Welt.

Aber ja, es ist eine Generalprobe. Wir haben jetzt eine Geschichte der argentinischen Arbeiter*innenbewegung von ihren Ursprüngen bis 1969 fertig gestellt4. Eine Aufgabe, die die Arbeit der Genossin Ruth Werner und des Genossen Facundo Aguirre vervollständigt, ein Buch, in dem wir eine Bilanz der 70er Jahre ziehen und die Erfolge und Fehler, die die Strömungen gemacht haben, analysieren, um uns auf einen neuen Prozess vorzubereiten, der stattfinden wird, wenn der gegenwärtige Klassenkampf in einen allgemeineren Klassenkampf umgewandelt wird.

Aber Revolutionär*innen ohne Revolution zu bilden, ist ein großer Widerspruch, nicht wahr?

Ja, das ist es. Lenin sagte, das Schwierigste von allem sei es, Revolutionär*innen ohne Revolution zu bilden. Manchmal sagte er es sogar auf tragische Weise, und manchmal sagte er es auf eine etwas komische Weise in Bezug auf die deutsche Sozialdemokratie. Er sagte, die deutsche Sozialdemokratie habe die Arbeiter*innen dazu erzogen, zu marschieren, “ohne den Rasen zu betreten“, weil Bismarck sie daran hinderte.

Deshalb muss man jeden Kampf als eine Schule des Krieges betrachten, das ist ein Konzept, das wir vorschlagen.

Zum Beispiel der Kampf bei Kraft oder bei Lear oder in der allgemeinen Krise von 2001 die Umwandlung des Kampfes von Zanon in ein internationales Beispiel, das auch heute noch lebt, obwohl es alle reformistischen Erfahrungen hinter sich hat, vom Kapitalismus belagert wird, aber immer noch in der Mentalität der fortschrittlichsten Arbeiter*innen lebt. Diese Kämpfe sind eine Möglichkeit, jedes der Elemente der Situation zu nutzen, um Revolutionär*innen zu bilden.

Man kann sich nicht aufbauen, ohne die Errungenschaften zu schätzen, die auch in einer nichtrevolutionären Ära erzielt werden. Es gibt keine andere Möglichkeit, weil man eine Situation nicht verallgemeinern kann. Im Jahr 2001 gab es einen Aufstand, der aber nicht zu einer revolutionären Situation wurde. Die Weltwirtschaft wuchs wieder, die argentinischen Exporte nahmen zu, und der Kirchnerismus konnte diese Bewegung zum Wiederaufbau des bürgerlichen Staates nutzen. Wir Revolutionär*innen wurden wieder isoliert, wir gingen in die Fabriken und begannen, uns in diese Prozesse einzufügen und einzumischen, die für uns eine große Schule des Krieges sind.

Denn obwohl der Klassenkampf kein Krieg ist, gibt es Kriegsschulen. Jeder Streik, jeder Prozess, jeder spontane Aufstand kann eine große Kriegsschule sein, und alle diese Wege müssen wissenschaftlich untersucht werden, weil das die Grundlage für die Bildung von Revolutionär*innen schafft, die sonst in der Routine der Taktik sterben.

In seinen Überlegungen Über den westlichen Marxismus sagt Perry Anderson, dass der „westliche Marxismus“ die Theorie von der Praxis trennt, wie du es vorhin schon erklärt hast. Er sagte, er sehe die Möglichkeit, dass die Vorraussetzungen für eine erneute Verschmelzung der marxistischen Theorie und der Linken mit der Arbeiter*innenbewegung wieder hergestellt würden. Wie siehst du diese Perspektive in diesem Szenario?

Anderson sagte das im Jahr 1974, dem Höhepunkt des Aufstiegs, der mit dem französischen Mai begann und in der portugiesischen Revolution in Europa endete. Aber dieser große Prozess endete in Abkürzungen in Europa und in einem neuen Zyklus von Niederlagen wie der, den Chile unter der Regierung von Salvador Allende und Uruguay oder Argentinien mit der Militärdiktatur hatten. Es war der Triumph des Neoliberalismus, und jetzt sind wir am Ende dieses Triumphes, den die herrschende Klasse über die dominierte Klasse hatte. Wie Warren Buffet sagt: „Es gibt einen Klassenkampf, aber meine Klasse gewinnt ihn“.

Die Krise von 2008 und die durch sie ausgelöste Polarisierung der herrschenden Klasse öffnet Lücken, die von der Arbeiter*innenklasse genutzt werden können.

Wenn wir aus Argentinien betrachten, hat die FIT nicht nur die Aufgabe, an den Wahlprozessen teilzunehmen, sondern sie hat auch die Aufgabe, materielle Kräfte aufzubauen. Denn irgendwann wird die Krise größer sein als die jetzige, und es wird eine direkte Konfrontation zwischen Revolution und Konterrevolution geben. Wie zum Beispiel am Ende der Regierung von Raul Alfonsin5, als es zwei Jahre Krise gab, die mit den Privatisierungen durch Menem endete. In diesem Fall gab es keine revolutionäre Partei, die dieser Aufgabe gewachsen war. Die MAS, die eine Partei war und die ein Bündnis mit der KP hatte, bekam sogar Abgeordnete, aber als dieser Moment kam, war die Arbeiter*innenklasse trotzdem schutzlos.

Die Aufgabe, an der Strategie zu arbeiten, Kader aufzubauen und jede Erfahrung zu schätzen, um sie in eine Erfahrungsgrundlage der Kader zu verwandeln, die diesen Moment leiten sollen, ist der Schlüssel.

Denn wir kommen aus einer Niederlage, nicht nur die objektive Niederlage, auf deren Grundlage der Menemismus die Aufgaben der Diktatur fortsetzte, sondern auch die subjektive Niederlage von Menschen, denen es bis zu einem bestimmten Punkt sehr gut ging, die tausende von Menschen versammelten und Stadien füllten – so wie jetzt die FIT Atlanta füllte – aber als der entscheidende Moment kam, zerbrachen sie in tausend Stücke, weil sie auf diese Ereignisse nicht vorbereitet waren, sie waren unreif für diese Ereignisse.

Zum Schluss, Juan Dal Maso, ein Genosse von uns, hat ein Buch über Gramscis Marxismus herausgebracht, welches das strategische Denken wieder aufnimmt und die verschiedenen Flügel der Dritten Internationale analysiert, wie Gramsci und seine Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit dem Denken von Trotzki oder Rosa Luxemburg, um eine theoretische Grundlage für politisches Handeln in Schlüsselmomenten zu haben. D.h. in den Momenten, in denen der Klassenkampf zu einer Konfrontation physischer Kräfte wird – und das ist unvermeidlich, jede allgemeine Krise eröffnet diese Möglichkeit, und das kann in einer Niederlage und in Faschismus und Kriegen enden oder im Triumph einer neuen proletarischen Revolution, welche die sehr reaktionäre Weltlage, die wir in den letzten drei Jahrzehnten erlebt haben, verändert.

Das Interview wurde im Dezember 2016 von Fernando Rosso geführt.

Fußnoten

1. Einige der Texte in diesem Buch erschienen auf deutsch in ähnlicher Zusammenstellung in „Die Dritte Internationale nach Lenin“ in der Reihe „Trotzki-Bibliothek“ vom Mehring Verlag, einer davon auch hier.

2. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung arbeiten wir an der Übersetzung eines Artikels zu diesem Thema. Er ist hier aber auf englisch verfügbar.

3. Carlos Menem war ein neoliberaler Präsident Argentiniens in den 90er Jahren.

4. Das Buch erschien hier auf spanisch.

5. Argentinischer Präsident in den 80ern, nach der Militärdiktatur und vor Carlos Menem.

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