#Trotsky2020: „Unser Sozialismus ist kein Sozialismus nationaler Inseln“

12.09.2020, Lesezeit 6 Min.
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Anlässlich des 80. Jahrestags der Ermordung Leo Trotzkis macht Stefan Schneider im Rahmen des Films #Trotsky2020 eine Abrechnung mit dem Stalinismus und zeigt auf, wie eine revolutionäre Alternative zum Kapitalismus heute möglich ist.

Dieser Beitrag ist Teil des Films #Trotsky2020, der hier in gesamter Länge angeschaut werden kann.

Wir möchten diese Würdigung Leo Trotzkis in deutscher Sprache beginnen, der zweiten Sprache der  bolschewistischen Anführer*innen, der wichtigsten Sprache der ersten zwei Internationalen und der ersten Kongresse der Dritten Internationalen.

Nach der Oktoberrevolution war die Arbeiter*innenklasse in Deutschland die große Hoffnung für Lenin und Trotzki, denn sie hatten verstanden, dass nur die internationale Ausdehnung der Revolution auf Deutschland und auf andere hochindustrialisierte Länder die Oktoberrevolution in Russland retten konnte. Dass diese Revolutionen aber ausblieben, war ein begünstigender Faktor für die Bürokratisierung der Sowjetunion.

In den Kommunistischen Parteien in allen Ländern, auch in der KPD in Deutschland, wurden die oppositionellen Kräfte immer wieder hart bekämpft, verfolgt und schließlich eliminiert.

Die Stalinisierung der KPD hatte für die Arbeiter*innenklasse in Deutschland verheerende Folgen: noch wenige Monate vor der Machtübernahme Hitlers 1933 hatten die Arbeiter*innenparteien SPD und KPD die Mehrheit der Arbeiter*innen um sich scharen können. Doch die KPD verhinderte eine Einheitsfront mit der SPD, die damals die größte reformistische Arbeiter*innenpartei der Welt war und in deren Reihen Hunderttausende Arbeiter*innen gewillt waren, sich dem Faschismus entgegenzustellen. Die Sozialfaschismusthese der KPD entwaffnete das am besten organisierte Proletariat der Welt praktisch vollständig.

Nachdem der Stalinismus also die Machtübernahme des Faschismus in Deutschland ermöglicht hatte, ging er soweit, den Antikapitalismus der Kommunistischen Parteien vollständig zu eliminieren: Er gründete Volksfronten mit Teilen der Bourgeoisie, in denen es nun die Arbeiter*innenklasse selbst sein sollte, die die bürgerlichen Eigentumsrechte verteidigten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg teilte sich der Stalinismus mit dem Imperialismus in der Konferenz von Jalta die Welt auf und verriet die Avantgarde in Ländern wie Italien, Griechenland und anderen. Stattdessen breitete er einen „Sozialismus von oben“ aus und gründete bürokratisch deformierte Arbeiter*innenstaaten im Ostblock und auch hier in Deutschland mit der DDR. Mit diesen sollte die friedliche Koexistenz mit dem Kapitalismus besiegelt werden.

Der bürokratisch deformierte Arbeiter*innenstaat DDR wurde nicht auf der Grundlage eines ausgedehnten demokratischen Rätesystems gegründet, sondern als Diktatur einer Partei, die über eine bürokratische Planwirtschaft herrschte. Nichtsdestotrotz ging mit der Gründung der DDR eine Reihe von sozialen Errungenschaften einher, beginnend natürlich mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und somit der Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise.

Gegen die bürokratische Politik der Stalinist*innen gab es immer wieder Aufstände der Arbeiter*innen: so zum Beispiel am 17. Juni 1953 in Deutschland, 1956 in Ungarn und 1968 in Prag. Der Stalinismus reagierte auf diese Aufstände, auf diese Bewegungen von unten mit Panzern und mit Mauern.

Was fehlte, war eine organisierte linke Opposition in Form einer revolutionären Partei, die in der Klasse verankert und mit der Strategie ausgestattet gewesen wäre, die Trotzki für den bürokratisierten russischen Arbeiter*innenstaat vorgeschlagen hatte: nämlich die politische Revolution, das heißt, eine Strategie, um die bürokratische Kaste von der Macht zu entfernen und gleichzeitig die gesellschaftlichen Grundlagen des Staates, in dem die Bourgeoisie enteignet worden war, zu verteidigen und zu vertiefen.

Die Voraussage, die Trotzki getroffen hatte, war, dass entweder eine politische Revolution stattfinden müsse oder eben früher oder später die kapitalistische Restauration erfolgen würde. Und bis heute sind 30 Jahre bürgerliche Restauration in Deutschland auch daran sichtbar, dass es eine Spaltung gibt zwischen Ost- und Westdeutschland, zwischen der ehemaligen DDR und der BRD. Mit Lohngefälle, mit schlechteren Lebensbedingungen, und gleichzeitig mit dem Aufstieg heute von neuen rechten Kräften und der Stärkung faschistischer Strukturen, als Ausdruck davon, dass die Moral und Struktur der DDR zerschlagen worden war.

Die „Wiedervereinigung“ war eine historische Chance für den deutschen Imperialismus, seine Hegemonie über Europa auszudehnen. Die ostdeutsche Bürokratie wurde entmachtet, nachdem sie die Zerstörung und Deindustrialisierung der DDR selbst mitverwaltet hatte. Die zweite Reihe der ehemaligen DDR-Bürokrat*innen ist heute Teil der Linkspartei und setzt mit ihr Privatisierung, Prekarisierung und Abschiebungen von Migrant*innen mit durch – im Kapitalismus haben sich also die Stalinist*innen in ganz gewöhnliche Reformist*innen verwandelt.

Die Erfahrungen des Stalinismus an der Macht und der stalinisierten Kommunistischen Parteien sorgte dafür, dass im Bewusstsein der Massen eine Gleichsetzung des Stalinismus mit dem Marxismus und dem Sozialismus insgesamt stattfand. Leo Trotzki hatte das wie kein zweiter verstanden und kämpfte gegen diese Verzerrung, gegen die stalinistische Degeneration und gegen die Geschichtsfälschung, die nur durch die Entwaffnung der revolutionären Arbeiter*innenklasse und die Entmachtung ihrer Räte durch die stalinistische Bürokratie überhaupt möglich geworden war. Trotzki schlussfolgerte: „Natürlich ist der Stalinismus aus dem Bolschewismus „erwachsen“, aber nicht logisch erwachsen, sondern dialektisch: nicht als revolutionäre Bejahung, sondern als thermidorianische Verneinung.” Für Trotzki war der Stalinismus also eine revisionistische Antwort auf den Marxismus der Bolschewiki. Er war, wie er sagte, die “Reaktion auf dem gesellschaftlichen Fundament der Revolution”.

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Mauerfall ist die Perspektive des bürokratischen Sozialismus gescheitert. Die kapitalistische Krise heute eröffnet die Möglichkeit zum Wiederaufbau einer wirklichen revolutionären Strategie, gerade auch in der Jugend in Deutschland, die dem Kapitalismus keinen Dank schuldet und sich mit den Aufständen in anderen Ländern solidarisiert. Unser Sozialismus ist kein Sozialismus nationaler Inseln, kein Sozialismus der bürokratischer Privilegien und polizeilicher Diktatur, kein Sozialismus verknöcherter patriarchaler Moral, sondern ein Sozialismus der breitestmöglichen proletarischen Rätedemokratie und der revolutionären Überwindung aller Formen von Ausbeutung und Unterdrückung.

Schaue hier den Beitrag von Stefan Schneider im Video:

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