Brot und Rosen: 20 Jahre sozialistischer Feminismus

14.03.2023, Lesezeit 15 Min.
Übersetzung:
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Bild: La Izquierda Diario

Im Jahr 2003 gründeten Aktivist:innen der argentinischen Partei Sozialistischer Arbeiter:innen (PTS) gemeinsam mit jungen Feminist:innen, die nicht unserer Organisation angehörten, die sozialistische feministische Gruppe Pan y Rosas (Brot und Rosen). 2023 ist unser zwanzigster Geburtstag – und das nehmen wir zum Anlass, unsere Geschichte zu erzählen.

Argentinien im Dezember 2001: Inmitten einer enormen Krise stürzte die Mobilisierung der Massen die Regierung von Fernando de la Rúa. Im Laufe des Jahres 2002, als der Peronismus versuchte, die Ordnung wiederherzustellen, skandierten die Demonstrierenden „que se vayan todos, que no quede ni uno solo“ („Sie sollen alle abhauen, nicht ein einziger von ihnen soll bleiben“). Es wurde Solidarität zwischen den sozialen Bewegungen, von unten ausgehend, gewebt: Arbeitslose forderten menschenwürdige Arbeit, Arbeiter:innen besetzten Fabriken und brachten sie unter ihre Kontrolle, Nachbarschaftsversammlungen und neue feministische Gruppen formten sich, die sich in Versammlungen, Aktionen, Streikposten, Treffen und Märschen vernetzten.

Das Vorspiel: Entscheiden, wie wir unser Recht auf Entscheidung erkämpfen

In diesen intensiven politischen Erfahrungen rief eine Gruppe von Mitgliedern der Partei Sozialistischer Arbeiter:innen (PTS, Partido de Trabajadores Socialistas) dazu auf, die breite Solidarität des Feminismus mit der von den Arbeiter:innen besetzten Textilfabrik Brukman in Buenos Aires aktiv zum Ausdruck zu bringen. Von der legendären Kämpferin für das Recht auf Abtreibung, Dora Coledesky, bis hin zu der beliebten Anführer:in der trans Bewegung, Lohana Berkins, kamen dort zusammen: Alte und junge Feminist:innen, bekannte und anonyme, mit akademischem, beruflichem und militantem Hintergrund, oder Neulinge in der Bewegung. Die Entscheidung über die Maßnahmen des Kampfes, die Entscheidung über die Produktion, die Entscheidung in der Versammlung… ein nachahmenswertes Modell, um auch unser Recht auf Entscheidung [über körperliche Selbstbestimmung, A.d.R.] zu erkämpfen.

Anfang 2003, als die Nachbarschaftsversammlungen in einigen Vierteln von Buenos Aires noch tagten, gründete Dora Coledesky die Versammlung für das Recht auf Abtreibung. Dort trafen sich Aktivist:innen aus verschiedenen feministischen Gruppen, Volksorganisationen, sozialen Bewegungen und linken Parteien. Wir bereiteten ein Nationales Frauentreffen in Rosario vor, wo wir einen Kampfplan vorschlagen wollten, um die Legalisierung der Abtreibung voranzutreiben und auf die Angriffe zu reagieren, die der örtliche Bischof bereits gegen uns vorbereitete.

Die Aktivist:innen der PTS waren sich einig, dass es sehr wichtig war, diese Forderung auf dieser Versammlung sichtbar zu machen; deshalb malten wir zusammen mit einer Handvoll junger Leute, die an dieser Versammlung teilnahmen, ein großes lila Banner mit der Aufschrift „Für das Recht auf freie und kostenlose Abtreibung“. Am Tag, nachdem wir mit Tausenden von Frauen hinter diesem Banner durch Rosario marschiert waren, stand die Forderung zum ersten Mal auf der Titelseite der Zeitung Página/12.

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Als wir nach Buenos Aires zurückkehrten, beschlossen wir in einer Versammlung von nicht mehr als dreißig oder vierzig Genoss:innen, eine feministisch-sozialistische Gruppierung aus Mitgliedern der PTS und parteilosen Aktivist:innen zu bilden. Was wir gemeinsam hatten, waren einige Ideen, die in dem programmatischen Manifest enthalten waren, das uns in Pan y Rosas („Brot und Rosen“) vereinte.

Ideen voran

Brot und Rosen wurde schnell zu einer Referenz, als linker Flügel der breiten und aktiven Frauenbewegung in Argentinien, die zahlreiche und unterschiedliche politische Ausdrucksformen zusammenbringt.

Wir bauten unsere Identität in einer Bewegung auf, in der es viele Theorien und Traditionen gab, in der aber der revolutionäre Marxismus durch die Postmoderne, die in den Jahrzehnten der neoliberalen Offensive vorherrschte, vom ideologischen Horizont verdrängt worden war. Deshalb griffen wir auf die theoretischen Quellen der Klassiker zurück, griffen auf die Biografien der großen sozialistischen Frauen der Geschichte zurück und befassten uns mit den politischen Erfahrungen marxistischer Anführer:innen während der Streiks, sowie der Perioden der Reaktion und der revolutionären Prozesse. Aber wir versuchten auch, eine Brücke zwischen diesen Ideen und aktuellen Theorien zu schlagen und wagten einen Dialog zwischen der Geschichte des Klassenkampfes und der Geschichte des Feminismus. Wir erarbeiteten gemeinsam unsere eigene Vision von den Konvergenzen und Divergenzen, die uns mit unseren spezifischen Unterschieden zu einem Teil der feministischen Bewegung machten.

Die Reflexion war umso notwendiger, als sich das politische Regime unter dem Kirchnerismus neu zu formieren begann: Es entstand ein neues politisches Phänomen, das seinen Ursprung im Peronismus hatte und das sein Ziel durch die Integration und Kooptierung der sozialen Bewegungen in den Staat erreichte, während es die widerspenstigsten Sektoren durch Ausgrenzung und selektive Repression isolierte.

Trotz der Tatsache, dass die soziale und politische Bewegung durch die von der neuen Regierung geweckten Erwartungen verwässert wurde, wuchs Brot und Rosen weiter unter den jungen Frauen, die nicht bereit waren, in dieser Zeit des Rückzugs der Mobilisierungen von ihren Überzeugungen abzurücken. Aber wenn Brot und Rosen dies erreichen konnte, dann deshalb, weil wir, als die sozialen Kämpfe nachließen, den Kampf der Ideen nicht aufgegeben haben.

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Aus den Workshops, Vorträgen, Kursen und Konferenzen, die wir im ganzen Land organisiert haben, erwuchs das Buch Pan y Rosas: Pertenencia de género y antagonismo de clase en el capitalismo (dt. 2019 „Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus“), welches im Jahr 2004 veröffentlicht wurde. Im folgenden Jahr veröffentlichten wir Luchadoras: Historias de mujeres que hicieron Historia („Kämpferinnen. Geschichten von Frauen, die Geschichte machten“). Und das war der Startschuss für unsere eigene Sammlung bei Ediciones del IPS, die derzeit mehrere Titel in ihrem umfangreichen Katalog hat.

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Das Buch Brot und Rosen wurde später auch in Mexiko, Venezuela und im Spanischen Staat veröffentlicht. Es wurde auch ins Portugiesische, Italienische, Deutsche, Französische und Englische übersetzt. In einigen Ländern gab es zwei oder drei Ausgaben mit Buchvorstellungen vor Hunderten von Menschen in vielen Ländern. Das Wichtigste ist jedoch, dass es zu einem kleinen, aber wertvollen Beitrag zur Bildung mehrerer Generationen von Frauen wurde, die sich in diesen zwanzig Jahren die Ideen des sozialistischen Feminismus zu eigen machten, nicht nur in Argentinien, sondern auch in verschiedenen Teilen der Welt.

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Arbeiter:in, hör zu, dein Kampf ist unser Kampf

Heute, nach so vielen Jahren der kapitalistischen Krise und Pandemie, gibt es im Feminismus viel mehr Stimmen, die über Geschlecht und Klasse sprechen, die die Beziehung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung erklären, die einige marxistische Ideen aufgreifen, um die zentrale Rolle der Frauen in den Kämpfen um die soziale Reproduktion zu analysieren. Das war aber nicht der Fall, als Brot und Rosen geboren wurde.

Deshalb haben wir uns nicht nur am Kampf für das Recht auf Abtreibung beteiligt – der in jenen Jahren eine der wichtigsten Achsen der Frauenbewegung war –, sondern wir haben auch darauf bestanden, einen Feminismus der Arbeiter:innen aufzubauen, der Teil dieser Kämpfe war, was ein besonderes Merkmal unserer Gruppierung war. Als wir unseren Namen in Anlehnung an einen Streik von Textilarbeiter:innen wählten und von den Brukman-Arbeiter:innen unterstützt wurden, wussten wir, dass wir die arbeitenden Frauen mit den Ideen des sozialistischen Feminismus erreichen wollten, um ihre eigene Selbstorganisation im Kampf gegen patriarchale Unterdrückung und kapitalistische Ausbeutung zu unterstützen.

Mit dieser Entscheidung haben wir gegen alle Vorurteile gekämpft, die den Feminismus nur als eine Frage kleiner Kreise von Frauen aus der Mittelschicht betrachten, damit immer mehr Hunderte von Arbeiter:innen von sich aus überzeugt werden, für ihre Emanzipation zu kämpfen. Und wir stellten uns auch der Kritik derjenigen, die der Meinung sind, dass der Kampf gegen den Sexismus die Arbeiter:innenklasse spaltet und dass wir deshalb zu der Gewalt oder der sexistischen Diskriminierung, die in den Beziehungen zwischen den Ausgebeuteten selbst reproduziert wird, schweigen müssen.

Deshalb setzen wir uns gemeinsam mit unseren Kolleg:innen, Lehrer:innen, Krankenpfleger:innen, Hausangestellten, Industriearbeiter:innen, Angestellten, Arbeitslosen und prekär Beschäftigten, sowie Student:innen, für die Einrichtung von Frauenkommissionen in den Gewerkschaften, in den Bewegungen und in den Studierendenzentren ein, um das zu vereinen, was die bürokratischen Führungen spalten: Arbeiter:innen mit Rechten, nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen, Hausfrauen, Selbstständige, Ältere, Junge, Einheimische, Migrant:innen…

Wo immer es einen Arbeiter:innenkampf gibt, ermutigt Brot und Rosen die Selbstorganisation von Frauenkommissionen, um den Konflikt zu unterstützen und zum Sieg zu bringen. Und wenn die Mehrheit männliche Arbeiter sind, dann ermutigen wir die Organisation der Frauen in ihren Familien, um die häusliche Isolation zu durchbrechen und die besten Traditionen der revolutionären sozialistischen Strömungen in der Geschichte des Klassenkampfes aufzugreifen.

Und diese sozialistisch-feministischen Genoss:innen der Arbeiter:innenklasse, die mit ihrem Namen an der Spitze unzähliger Kämpfe stehen, sind unser größter Stolz.

Ohne Grenzen

In den letzten Jahren, als die feministische Bewegung in verschiedenen Ländern wieder zu einer unbestrittenen politischen Akteurin wurde, war Brot und Rosen Teil der Kämpfe für das Recht auf Abtreibung und gegen patriarchale Gewalt, Teil der Arbeiter:innenkämpfe, der antirassistischen Kämpfe und der Kämpfe für die Rechte und Freiheiten von LGBTIQ+ sowie der Mobilisierungen gegen den Aufstieg der Rechten und die konservativen und neoliberalen Regierungen. Wir waren bei allen Demonstrationen dabei, die die polizeiliche Repression, die Kriminalisierung des Protests und die Fallen des geringeren Übels anprangerten, in Argentinien, Brasilien, Chile, Bolivien, Peru, Uruguay, Venezuela, Costa Rica, Mexiko, den Vereinigten Staaten, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland.

Diese internationale Ausdehnung als sozialistische feministische Strömung wurde von der Veröffentlichung verschiedener programmatischer Manifeste, Erklärungen und Stellungnahmen begleitet. Aber wir haben auch Solidaritätskampagnen mit Frauen in anderen Ländern durchgeführt, in denen wir nicht präsent waren. Das taten wir schon lange vor dieser neuen feministischen Welle, zum Beispiel, als wir 2009 das Schweigen der Medien über den Staatsstreich in Honduras durchbrachen, mit Genoss:innen von Brot und Rosen aus Mexiko und Argentinien, die eigens angereist waren, um die Feminist:innen im Widerstand zu begleiten. Oder 2010, als wir eine Erklärung des lateinamerikanischen Feminismus anstießen, um die materielle Hilfe für die Opfer des Erdbebens in Haiti unabhängig von der UNO zu koordinieren, und eine mexikanische Genossin anreiste, um an der feministischen Koordination teilzunehmen, die in der Dominikanischen Republik organisiert wurde. Dies hat sich im Laufe der Jahre mehrfach wiederholt.

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Wir begannen vor zwanzig Jahren mit einer Handvoll Genoss:innen. Heute sind wir Tausende von sozialistischen Feminist:innen in Argentinien und anderen Teilen der Welt.

Parlamentssitze als Barrikaden

Diese Entwicklung unserer klassenkämpferischen, klassenbewussten, sozialistischen und revolutionären feministischen Gruppierung begann und entwickelte sich in der Hitze einer wachsenden demokratischen Bewegung für das Recht auf Abtreibung und gegen Gewalt gegen Frauen in Argentinien, die ihre beiden wichtigsten Meilensteine in den „Ni Una Menos“-Mobilisierungen und der grünen Welle der letzten Jahre hatte. Eine Frauenbewegung, die auf eine lange Geschichte der Organisation und des Kampfes zurückblicken kann, die 36 jährliche Massenversammlungen in allen Regionen des Landes abgehalten hat und die eine wichtige Rolle im nationalen politischen Leben und mit internationaler Ausstrahlung spielt.

Brot und Rosen hat in diesen zwanzig Jahren an dieser aktiven und breiten Bewegung teilgenommen und gezeigt, dass es möglich ist, sich in der Aktion mit anderen Strömungen und Gruppierungen zu vereinen, ohne unsere Identität zu verlieren. Diese Übung, im Kampf flexibel und gleichzeitig unnachgiebig mit unseren Prinzipien zu sein, hat uns die Anerkennung nicht nur derjenigen eingebracht, die unsere Ideen teilen, sondern auch vieler anderer Frauen, die ihren Respekt für das Engagement unserer Kolleg:innen, Abgeordneten, Ratsmitglieder, politischen und gewerkschaftlichen Anführer:innen und Intellektuellen zum Ausdruck bringen, die ebenfalls zu Anführer:innen der Frauenbewegung in Argentinien geworden sind.

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Insbesondere die Abgeordnete Myriam Bregman, aber auch andere Parlamentsmitglieder wurden von den neuen Generationen der grünen Welle als ihre Referent:innen begrüßt, weil sie sich politisch dafür einsetzen, dass ihre Parlamentssitze immer im Dienste der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und der Frauenbewegung stehen.

Zwanzig Jahre sind nichts…

Obwohl das Archiv dieser zwanzig Jahre schier unendlich ist, können wir unsere Geschichte in diesen Pfeilern zusammenfassen: Aufgreifen und Aufarbeitung der Ideen des revolutionären Marxismus zur Frauenemanzipation; Förderung der Selbstorganisation von Arbeiter:innen im Klassenkampf; Entwicklung einer kämpferischen internationalistischen Perspektive; Einsatz für eine möglichst breite Aktionseinheit in allen Kämpfen der Frauenbewegung, ohne unsere Identität zu verlieren.

Wenn Brot und Rosen nach zwanzig Jahren immer noch existiert, dann vor allem deshalb, weil wir keine „Schwesternschaft“ sind: Uns eint weder die Anatomie, noch das Begehren, noch die gleichen Diskriminierungen, noch die gleichen Missstände dieses verrotteten Gesellschaftssystems. Uns eint die Überzeugung, dass es an der Zeit ist, einer Gesellschaft ein Ende zu setzen, in der zehn für einen arbeiten, der sich ausruht. Und dafür ist es notwendig, sehr bewusst zu sein und uns zu organisieren, um gegen den patriarchalen kapitalistischen Staat zu kämpfen, in der Perspektive einer sozialistischen Revolution und einer Gesellschaft, die von allen Formen der Ausbeutung und Unterdrückung befreit ist, frei von dieser Unterdrückung, zu der heute die Mehrheit der Menschheit verdammt ist.

In den zwanzig Jahren unseres Bestehens haben wir an zahllosen Kämpfen teilgenommen, wir haben Niederlagen und Teilerfolge erlebt, wir haben an zahlreichen Debatten teilgenommen, die nicht immer produktiv waren, wir haben viele Ausarbeitungen gemacht. Wir haben die Geburt mehrerer Generationen von Feminist:innen miterlebt, wir haben die Pionier:innen getroffen, wir sind allein gegen den Strom gerudert und wir sind auch in die Welle eingetaucht, als sie immer größer wurde. Wir wurden von den vielfältigen Erfahrungen der nationalen und internationalen Frauenbewegung genährt, und wir haben auch unser Sandkorn zu diesem kollektiven Aufbau beigetragen, mit unserer Identität und Perspektive. Aber wenn wir inmitten so vieler Höhen und Tiefen immer noch hier sind, dann liegt das nicht an einer einzelnen von uns, sondern an den Überzeugungen, die wir hier zusammenfassen und die es uns ermöglicht haben, heute aufzustehen und für unser Recht auf Brot und Rosen zu kämpfen.

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Bild: La Izquierda Diario

Erschienen am 8. März 2023 bei La Izquierda Diario.

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