Schwarz-Grün oder Grün-Rot-Rot: Wie weiter nach Merkel?

13.04.2021, Lesezeit 20 Min.
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Juergen Nowak / Shutterstock.com

Die Korruptionsskandale und das dilettantische Pandemie-Management zeigen, wie sehr der Bundesregierung die Lage im Land entglitten ist. Welche Widersprüche im deutschen Regime bringt die Corona-Krise an die Oberfläche?

Wie tiefgehend ist die Regierungskrise?

Das Superwahljahr 2021 startete mit einem phänomenalen Absturz der CDU. Einer Kette enthüllter Korruptionsaffären folgten die ersten zwei Wahlniederlagen und der zunehmende Vertrauensverlust angesichts der Pandemie-Politik. Die Korruptionsskandale zeigen auf, dass wir es nicht nur mit einer schwachen Regierung ohne klare Orientierung zu tun haben. In der Pandemie haben sich Abgeordnete an Schutzausrüstung bereichert – die Krise wird zum Geschäft. Der Lobbyismus hat das politische Geschehen in Berlin fest in der Hand. Die Politik kann sich davon nicht lösen und trifft auch ihre Pandemie-Entscheidungen zu Gunsten der Wirtschaftslobbys.

Vor allen Augen wird deutlich, dass die Regierung unfähig ist, die Pandemie mit ihren Zickzack-Kurs in den Griff zu bekommen. Die Umfragen zeigen, dass sich die Mittelschichten von der Union abwenden, teils den Grünen, teils der FDP zu. Viele Menschen haben Illusionen in die Grünen und damit in eine Erneuerung der bürgerlichen Demokratie. Deshalb kann auch noch nicht von einer Krise des gesamten Regimes die Rede sein. Aber die Vertrauenskrise wird stärker. Und sie hat tieferliegende Grundlagen: Sie ist verbunden mit strukturellen Problemen des deutschen Imperialismus und der Wirtschaft.

Die FAZ-Bezeichnung für Angela Merkel als Krisenkanzlerin ist zwar korrekt, weil Merkel in den 15 Jahren fast durchgehend im Rahmen einer ungelösten weltweiten Wirtschaftskrise regiert hat. Doch gleichzeitig ist das Krisenmanagement von Merkel veraltet. Um die strukturellen Herausforderungen des deutschen Imperialismus meistern zu können, braucht die Bourgeoisie neue Rezepte. In der seit 2007/2008 ungelösten kapitalistischen Krise tauchen die Probleme kombiniert auf: Die Schuldenkrise, die Schwäche der Europäischen Union, die Migrationsfrage, um nur einige zu nennen, verbinden sich zu komplexeren Szenarien. Die Austeritätspolitik Deutschlands hat die Tendenzen, aus der EU aussteigen zu wollen, gestärkt. Das hat dem souveränistischen, euroskeptischen Kurs eine demagogische Basis geschaffen.

Seit über zehn Jahren befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer latenten Dauer-Krise. Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie schlitterte sie nur haarscharf an einer Rezession vorbei. Das Virus hat die Krise nur verschärft und gezeigt, wie anfällig die deutsche Wirtschaft auf Schwankungen des Weltmarktes reagiert. In der Pandemie haben Staats- und Unternehmensschulden zugenommen; Lieferketten waren zeitweise unterbrochen. Es wäre daher kurzsichtig, die aktuelle Konjunktur nur als Gesundheitskrise wahrzunehmen.

„Das Grundproblem des heutigen Kapitalismus ist, dass er sich als unfähig erwiesen hat, neue Motoren der Kapitalakkumulation hervorzubringen“, analysierte Emilio Albamonte in seinem Vortrag bei der Konferenz der Partei Sozialistischer Arbeiter:innen (PTS) die globale Krise des Kapitalismus. „Nachdem die Bürokratien der ehemaligen bürokratischen Arbeiter:innenstaaten den Kapitalismus restaurierten, fand das Kapital einen neuen ‘Urwald’, d.h. einen neuen Ort zur Kapitalakkumulation. Es war die Restauration in China, die es jahrelang ermöglichte, billige Arbeitskraft zu generieren, die den Lohnpreis weltweit senkte. Jetzt läuft diese Gegentendenz aus, nicht nur weil die Löhne in China steigen, sondern weil China mit den USA, mit Deutschland, mit den Großmächten konkurriert. Es hat sich von einer armen Nation, die ein Ziel für die Kapitalakkumulation der imperialistischen Mächte war, in eine Nation verwandelt, die auf dem Weltmarkt um die Möglichkeiten der Kapitalakkumulation konkurriert. Daher die Zoll- und Handelskriege, die wir in letzter Zeit verstärkt sehen.“

Die Prognosen von IWF und der Weltbank gehen davon aus, dass die großen Volkswirtschaften nicht vor Ende 2022 auf das schwache Vorkrisen-Niveau von vor der Corona-Pandemie zurückkehren werden. Die organische Krise1 im Weltmaßstab fordert die Regierungen in den imperialistischen Ländern heraus, neue Rezepte zu finden.

Strukturelle Herausforderungen des deutschen Kapitals

Die deutsche Bourgeoisie steht vor einer Wende: Der Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energien, der sogenannte grüne Kapitalismus: 65 Millionen Verbrennerautos in Deutschland durch Elektroautos zu ersetzen, verspricht ein riesiges Wachstum. Dieses Szenario verlangt aber auch eine enorme Investition und Ausbeutung der Ressourcen (halb-)kolonialisierter Länder – wie im Falle Boliviens, wo Silbervorkommen bereits größtenteils ausgeplündert wurden und heute deutsche Konzerne gemeinsam mit Tesla Lithium abbauen. Um diese Erneuerung der Produktionsmittel mit Geldern der Steuerzahler:innen zu finanzieren, diskutierte das deutsche Kapital bereits vor der Corona-Krise einen „Green New Deal“.2

Wie soll ein Green New Deal in Deutschland aussehen? Die deutsche Bourgeoisie muss die Automobil-, Stahl-, und Energieindustrie auf erneuerbare Energien umstellen und in der Digitalisierung (Industrie 4.0) voranschreiten, um sich in den neuen Technologien auf dem Weltmarkt behaupten zu können. Allerdings hängen die deutschen Konzerne den USA und China deutlich hinterher. Wirtschaftsminister Peter Altmaier hob die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft hervor: „Ohne Elon Musk wären wir heute nicht da, wo wir beim Thema Elektromobilität inzwischen stehen“. Zwar produzieren die deutschen Großkonzerne relativ viel und schaffen es bei der Herstellung von E-Autos in der EU auf den ersten Platz. Nichtsdestotrotz steckt der Sektor in einer strukturellen Krise, weil der Umstieg zur E-Mobilität praktisch noch kaum vorbereitet wurde.3 China hat sich von einer verlängerten Werkbank zum Technologie- und Finanzexporteuer gewandelt. CATL, SVolt und Farasis Energy bauen drei große Batteriefabriken in Deutschland. Elon Musks Gigafactory in Brandenburg soll im Sommer die Produktion aufnehmen. Altmaier sieht in den Investitionen die Zukunftsperspektive für die deutsche Automobilindustrie. Zum Einen aufgrund der mangelnden Förderung der Investitionen und Infrastruktur in der Region, die als strukturschwach gilt. Zum anderen wird Tesla Gigafactory die größte Batteriefabrik der Welt sein, die Vorteile für die deutsche Automobilindustrie mit sich bringen sollen.4

Die Staatsverschuldungen sind im vergangenen Jahr um 379 Milliarden Euro gestiegen und lagen Ende 2020 bei circa 2,2 Billionen Euro (vgl. laut Statista: Stand 2019: circa 1,9 Billionen Euro). Die Staatsschulden werden 2021 voraussichtlich erneut den Höchstwert knacken. Die Regierung hat durch ihr Hilfspaket die Politik der Schwarzen Null temporär aufgegeben. Ob die Schwarze Null überhaupt wieder zurückkehren kann, ist angesichts der anstehenden Herausforderungen (Green New Deal, Investitionsbedarf, coronabedingte Pakete) unwahrscheinlich. Der Investitionsmangel ist ein Schwachpunkt der deutschen Wirtschaft, welcher nicht auf die pandemiebedingt entstandenen Einschränkungen zurückzuführen ist. Die gesamten strukturellen Probleme (veraltete Infrastruktur, Digitalisierungsmangel, Umstieg in grüne Produktion) setzen ein hohes Maß an Investitionen und staatlichen Ausgaben voraus.

Die Modernisierung der kapitalistischen Produktionsmittel ist aber gleichzeitig eine Warnung an die Arbeiter:innen, Jugendliche und Rentner:innen, dass der Staat zur Finanzierung auf Kürzungen der Sozialausgaben zurückgreifen, im öffentlichen Dienst die Privatisierungen vorantreiben und das Rentenalter erhöhen wird, um die Ausgaben für die Großkonzerne zu begleichen. Die aktuelle Pandemiepolitik enthält Merkmale dafür…

Die dritte Welle, der dritte Lockdown und was das Programm der Bundesregierung ausmacht

Die bürgerlichen und reformistischen Parteien im deutschen Bundestag haben die Opposition wegen Corona nahezu auf Eis gelegt. Doch steht dieser Konsens, die Pandemie im Interesse einer nationalen Einheit zu lösen, mittlerweile sehr fragil da. Die Wunde der vorangegangenen Welle ist nicht geheilt und wir gehen in eine dritte Runde von Lockdown und dritter Welle der Pandemie. Diesmal geht es um einen „Bundeslockdown“, der eine zentralisierte bundesweite Linie zur Eindämmung des Virus einführen soll. Laut dem heute gefällten Beschluss der Regierung, der noch vom Bundestag bestätigt werden muss, sollen bundeseinheitliche Regelungen ab einer Inzidenzzahl von 100 greifen, welche die bisherigen, zum Teil sehr unterschiedlichen Regelungen auf Länderebene ablösen sollen. Das Rezept bleibt aber dasselbe und wird zum Teil verschärft: Nächtliche Ausgangssperren zwischen 21 und 5 Uhr und die Schließung von Schulen und Kitas ab einer Inzidenz von 200 sind die Achsen eines solchen Lockdown-Programms. Die Änderung des Infektionsschutzgesetzes, um die Bundesregierung zum Erlass der Rechtsverordnungen zu ermächtigen, ist nur eine Formalie, deren Konsequenzen aber weit über dieses Gesetz hinaus gehen. Denn der Föderalismus und das austarierte System haben dem deutschen Imperialismus in „ruhigeren“ Zeiten lange eine hohe Stabilität gegeben. In Krisen erweist es sich als Bremsklotz. Die heutige Situation zeigt daher die Risse des „heiligen Föderalismus“ in Deutschland.

Die dritte Welle droht schlimmer zu werden als die vorherige. Sie wird mit den Methoden der Kontakteinschränkungen im Privaten nicht zu brechen sein. Die Bundesregierung folgt trotzdem weiter einem Gesundheitsplan, der die Profite der Großkonzerne bevorzugt und die Interessen der arbeitenden Bevölkerung benachteiligt. Die individuellen Beschränkungen haben das Infektionsgeschehen nur abgeflacht. Auch bei der Teststrategie und bei der Impfstrategie hat die Regierung, unter anderem wegen der Patentfrage, weitgehend versagt. Aber es wird mittlerweile breiter diskutiert, dass ohne ein Herunterfahren der Wirtschaft die Infektionszahlen kaum zu senken sind. Ein Lockdown größerer Teile der Gesellschaft bis hin zur Wirtschaft könnte unausweichlich werden. Gesundheitsminister Spahn hat bereits angedeutet, dass das öffentliche Leben so weit zurückgefahren werden müsse wie im April 2020.

Betrachten wir die Methode und das Programm der Bundesregierung: Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren werden als unausweichlich betrachtet, während das Herunterfahren der Wirtschaft auf essentielle Bereiche unberücksichtigt bleibt. Tatsächlich haben beispielsweise die Großkonzerne in der Automobilindustrie nur im Rahmen von ersten Lockdown die Produktion heruntergefahren. Und das auch nur, weil die internationalen Lieferketten unterbrochen waren. Dieser Zeitraum betrug fünf bis sechs Wochen (vom 22. März bis zu Lockerungen Ende April/Anfang Mai). Es ist also einfach, die Schulen, Universitäten, Kitas etc. zu schließen. Aber selbst die Einführung einer Testpflicht in Betrieben beschloss die Regierung erst nach monatelangem Zögern; lieber blieb sie empathisch gegenüber den Lobbyist:innen und Vertreter:innen der Konzerne.

Es ist schon jetzt offensichtlich, dass im Zuge der Ausgangssperren Migrant:innen und Jugendliche verstärkt unter autoritären Polizeikontrollen leiden werden. Diese Regierungsmaßnahmen haben rechtskonservativen Charakter und sind reaktionär, weil sie die demokratischen Freiheiten beschneiden, „während Millionen von Arbeiter:innen weiter in überfüllten Bussen und Bahnen zur Arbeit fahren müssen“. Immer wieder gibt es Nachrichten, dass Migrant:innen aufgrund von Racialprofiling immer stärker von Kontrollen der Ausgangssperren und Pandemiemaßnahmen betroffen sind. Racialprofiling ist Alltag und endet häufig nicht bei rassistischen Polizeikontrollen, sondern reicht bis zu Fällen von Polizeimorden. Auch Frauen sind von autoritären Pandemiemaßnahmen stärker betroffen, indem ihnen der Rückzug in die Kernfamilie und Erziehungs-, Haushalts-, Bildungs- und Pflegearbeit (Reproduktionsarbeit) aufgezwungen wird.

Wird die GroKo von Grün-Schwarz oder Grün-Rot-Rot ersetzt?

Wie schon beschrieben, sind die Herausforderungen für die deutsche Bourgeoisie groß: Strukturwandel, imperialistische Ambitionen, Rentenreform sowie weitere Kürzungsprogramme stehen auf der Tagesordnung. Um im Superwahljahr einen Übergang aus dem zu Ende gehenden Merkelismus zu ermöglichen, bildet eine Schwarz-Grüne-Regierung für die Bourgeoisie die beste Option. Nicht umsonst wirkt ein Großteil der Unternehmensverbände darauf hin. Doch stecken CDU/CSU im Umfragetief. Die reformistischen Parteien zielen darauf ab, eine Regierung jenseits der Union zu erreichen. In der aktuell von der elektoralen Stagnation der CDU gekennzeichneten Situation scheint diese Option immer mehr in Reichweite zu sein. Die Perspektive einer Grün-Rot-Roten Regierung, welche bisher auf nur Landesebene eine Alternative zu einer CDU-geführten Regierung stellte, scheint aktuell rechnerisch auch für die Bundesregierung möglich zu sein. Die Grünen könnten damit den:die Kanzler:in stellen.

Doch was wäre das politische Programm der Grün-Rot-Rot-Regierung? Dabei steht einerseits die Forderung nach einer Vermögenssteuer, andererseits ein Green New Deal mit einem Investitionsprogramm sowie die Abschaffung der Schuldenbremse im Mittelpunkt der Diskussion. All diese Punkte bilden auch die programmatische Positionierung der Gewerkschaftsbürokratie, wie wir am gemeinsamen Brief von Reiner Hoffmann und Robert Habeck erkennen, aber auch an etlichen Erklärungen und Kampagnen, die vom Apparat organisiert werden.

Für die deutsche Bourgeoisie hat sich die Regierungsbeteiligung der SPD in den vergangenen Jahrzehnten durchaus als nützlich erwiesen: Sie konnte durch die Verankerung der Sozialdemokratie in den Gewerkschaftsapparaten unmittelbar in die Arbeiter:innenklasse hinein intervenieren, um Abwehrkämpfe zu sabotieren und Gewerkschaftsführer:innen zu kooptieren, wie wir bei der Verabschiedung der Hartz-IV-Gesetze und weiterer Agenda-Reformen erlebt haben.

Die SPD ist bis heute hegemonial innerhalb der Gewerkschaften und strategischen Positionen der Arbeiter:innenklasse, doch diese Hegemonie bröckelt. Die Partei hat zwar immer noch eine Relevanz in den Hochburgen der Gewerkschaftsbürokratie wie im Metallsektor, bei dem die Vermittlung weiterhin funktioniert. Aber gleichzeitig gibt es eine Stagnationstendenz der Einflussnahme dieser Vermittlung und Führung. Hartz IV war ein Generalangriff, weshalb die SPD auf Dauer einbüßen musste und mit der Linkspartei eine neue sozialdemokatische Konkurrenz bekam.

Aus der Spaltung der SPD bildete sich die Linkspartei als Fusion der ehemaligen DDR-Bürokratie (PDS) mit „Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“ (WASG), der Abspaltung linker SPD-Funktionär:innen. Sie umfasste auch gewisse Teile (relativ klein im Verhältnis der SPD-Basis) der Gewerkschaftsbürokratie, vor allem in Ostdeutschland, wo die PDS als einzige Opposition gegen die Zerschlagung der ehemaligen DDR-Betriebe auftrat. Im Gegensatz zur Wunschvorstellung einiger Sektoren der radikalen Linken setzte die Linkspartei aber nie auf eine sozialistische Oppositionspolitik, sondern geht den Weg der Erneuerung des Regimes. Während sie sich auf Teile der Gewerkschaftsbürokratie und der Bewegungen stützt, hat die Partei inzwischen langjährige Regierungserfahrung in mehreren Bundesländern und hat eine neue Führung mit dem Anspruch, die „Bewegungslinke“ mit den „Regierungslinken“ auf einen common sense für eine reformorientierte Regierung jenseits der Union zusammenzubringen. Das zeigt sich auch in der Debatte um Sahra Wagenknecht, in der selbst ihre größten Kritiker:innen die Pro-Regierungs-Position von Wagenknecht kaum problematisieren. Mit einer solchen Perspektive bleibt die Front gegen Wagenknecht kaum mehr als eine innerbürokratische Abrechnung zur Erneuerung des Apparats und der Parlamentssitze. Denn in der Debatte geht es nicht darum, welchen Antirassismus mit Sofortmaßnahmen es angesichts des chauvinistischen Klimas in Deutschland braucht. Es geht auch nicht darum, ob die Regierungsbeteiligung Sinn macht oder nicht vielmehr kategorisch abgelehnt werden muss. Es geht um die Umordnung der Kräfteverhältnisse ohne prinzipiellen Bruch – die Perspektive Grün-Rot-Rot steht nicht in Frage.

Nun haben wir es in Deutschland und vielen weiteren zentralen Ländern mit einer Situation zu tun, in der die Notwendigkeit der Vermittlung und Sektoren zur Stabilisierung der bürgerlichen Hegemonie sich weiterentwickelt hat: Es kam parallel zur partiellen Schwächung des Einflusses der Gewerkschaftsbürokratien zur Kooptierung der sozialen Bewegungen in das Projekt der kapitalistischen Demokratie, und damit auch zur Entstehung einer eigenen Bürokratie der sozialen Bewegungen. Das war keine abrupte Wende weg von Gewerkschaften hin zur „Zivilgesellschaft“. Vielmehr handelte es sich um eine umfassende Entwicklung von der Entstehung neuer Bürokratien – vor allem in den Sektoren, die in den letzten Jahren stärker aufgetreten sind, wie die Klima- oder die antirassistische Bewegung. Der Aufstieg der Grünen und die Notwendigkeit ihrer Beteiligung an der kommenden Bundesregierung ist auch in dieser Hinsicht zu verstehen, dass die Bourgeoisie diese Vermittlung für einen neuen Konsens liberaler Demokratie braucht. Die Grünen stützen sich dabei im Vergleich zu ihren Ursprüngen viel weniger auf eine aktive Basis in den Bewegungen, sondern zielen vielmehr auf die Verankerung in den Institutionen ab, während NGOs und Verbände Rekrutierungsstellen sind. Diese Rekrutierungsstellen intervenieren zwar in die sozialen Bewegungen, allerdings um sie zur Passivität zu kanalisieren. Mit Antonio Gramsci könnten wir sagen, dass die Grünen eine passive Konzeption der kapitalistischen Erneuerung vertreten – sowohl wirtschaftlich als auch bürgerlich-demokratisch. Inzwischen schließen die Grünen auch mit den Gewerkschaftsbürokratien Bündnisse: Der ehemalige ver.di-Chef Frank Bsirske kandidiert in den Reihen der Grünen für die Bundestagswahlen.

Die Grünen vertreten ein bürgerliches Programm, das den Kapitalismus „grün“ und pseudodemokratisch zu „erneuern“ verspricht. Ihre aktuelle Dynamik rührt unter anderem daher, dass dieses Programm eine große Anziehungskraft besonders auf die städtischen Mittelschichten und liberale Angestellten hat, aber die Partei spricht auch viele Jugendliche an. Für die Kapitalist:innen versprechen die Grünen, nach innen den Strukturwandel gegen Widerstände durchzusetzen, nach außen stehen sie – trotz ihrer „humanitären“ Rhetorik – für einen stärker interventionistischen Kurs. Sie vertreten unter dem Deckmantel der Solidarität mit Geflüchteten und oppositionellen Bewegungen nur Kriegseinsätze und Ausplünderung der Länder in Nordafrika und im Nahen Osten. Hinter der Skandalisierung der Abschottungspolitik der deutschen Bundesregierung steht der Wunsch nach einem demokratischen Imperialismus, der außenpolitisch „emanzipatorisch“ handeln sollte. Wenn wir uns an den Libyenkrieg erinnern, lässt sich diese Vorstellung konkretisieren: Die Linie der Grünen war, die Gaddafi-Diktatur mit militärischen Kriegseinsätzen der westlichen imperialistischen Staaten zu stürzen und im Anschluss die „kapitalistische Demokratie“ aufzubauen. Da die militärische Zerschlagung mit einer Zerstörung der Infrastruktur und der Wirtschaft des Landes einhergeht, sollen die imperialistischen Monopolkonzerne die Wirtschaft wiederbeleben. Die Wirtschaft ruinieren und eigene Märkte öffnen, um die verarmte Bevölkerung als billige Arbeitskräfte auszubeuten, gehört zum Programm des humanitären Imperialismus.

Für die städtische Klientel und die demokratische, humanitäre Jugend versprechen die Grünen mehr Repräsentation und Vielfalt. Bei den Arbeiter:innen in den industriellen und klassischen Dienstleistungssektoren sowie den Azubis positioniert sich die SPD als das kleinere Übel in der Groko. Gegenüber den Prekären und im Osten ist es die Linkspartei, die das noch kleinere Übel mit einer linken Regierung auf Bundesebene sein will. Aber diese Kombination ist nichts mehr als das: ein leeres Versprechen, welches die zentralen Fragen der kapitalistischen Verwaltung der Pandemie und der Krise unbeantwortet lassen wird.

Worauf bereiten wir uns vor?

Die Erfahrungen der Generation der letzten großen kapitalistischen Krise ab 2008 stoßen auf eine Corona-Pandemie, deren Ende ungewiss ist. Die kapitalistische Ausbeutung der Ressourcen der Natur und der Lebensbereiche der Tierwelt löst sozusagen einen Bumerang-Effekt aus. Im Rahmen des Kapitalismus ist eine Zukunft ohne Pandemie, ökologische Katastrophen, immer wiederkehrende Krisen und Kriege illusorisch. Die tieferen strukturellen Wurzeln der Legitimationskrise liegen in der neoliberalen Akkumulationsweise der kapitalistischen Staaten in den zentralen Ländern, die die sozio-ökonomische Ungleichheit vertieft haben. Dazu trugen Angriffe wie Rentenkürzungen, die Ausweitung des Niedriglohnsektors, Privatisierungen, Betriebsschließungen durch Verlagerung der Produktion und Lohnungleichheiten bei.

Das kapitalistische System stellt ein enormes Hindernis für die Entwicklung und Verbreitung von Impfstoffen und Behandlungen gegen Covid-19 dar. Die Erklärung der WHO, dass jeder Impfstoff, der für das neue Coronavirus entwickelt wird, ein öffentliches Gut sein sollte, wurde abgelehnt, weshalb die Verteilung der Impfstoffe an die Bevölkerung hierzulande auf dem Schneckentempo läuft und die ärmsten Sektoren, insbesondere im Süden der Welt, bis heute kaum Zugang zu Impfstoffen haben.

Der Groko gelang es bisher, die direkten sozialen Folgen der Pandemie einzudämmen und die Streiks auf Minimum zu reduzieren. Durch die Kurzarbeit wurde das Problem der Massenarbeitslosigkeit aber lediglich aufgeschoben, wobei nicht vergessen werden darf, dass die Arbeitslosenzahl aktuell bei 6,2 Prozent (2.827.000) liegt. Im Januar 2021 bekamen 2,85 Millionen Arbeiter:innen Kurzarbeitergeld.

Die bisherigen Kämpfe mit mehr oder weniger bundesweiter Ausstrahlungskraft hatten einen defensiven Charakter und wurden alles in allem vollständig von der Bürokratie kontrolliert. Die Tendenzen hierzulande sorgen für ein Szenario der schwachen Polarisierung nach rechts und links. Beschleunigt durch die kapitalistische Krise stehen viele Unternehmen vor der Schließung. Die Zukunftsaussichten der Arbeiter*innenjugend sind spätestens seit 2008 pessimistisch. Das betrifft die zentralen Sektoren hierzulande: Strategische und „essentielle“ Arbeiter*innen in Metall, Verkehr, Energie und öffentlichem Dienst, deren relative Besserstellung bedroht ist. Dieser strategisch zentrale Sektor hat die eigentliche Macht inne, die kapitalistischen Verhältnisse lahmzulegen, und wird deshalb gleichzeitig am meisten von Regime unter Kontrolle gehalten. Doch der zentrale Widerspruch besteht darin, dass der Strukturwandel in Deutschland in einer Konjunktur des untergehenden Neoliberalismus und der kapitalistischen Krise weltweit stattfindet, weshalb dieser Sektor in den kommenden Jahren und Jahrzehnten besonderen Verwerfungen ausgesetzt sein wird.

Entgegen der Vorstellung, dass eine grün-rot-rote Regierung ein „kleineres Übel“ darstellen wird, bereiten wir uns darauf vor, gemeinsam mit allen linken und Arbeiter:innenorganisationen einen Kampf für eine Einheitsfront gegen die Krisenpolitik der Regierung und die kommenden Angriffe der Bosse zu führen. Gegen die Perspektive einer Regierungsbeteiligung schlagen wir eine klassenkämpferische Neugruppierung der revolutionären Linken als Schlussfolgerung dieses Kampfes vor, die eine neue Perspektive für tausende Arbeiter:innen, Jugendlichen und Aktivist:innen aus sozialen Bewegungen eröffnen kann.

Fußnoten

1. „‚Organische Krise‘ bedeutete für Gramsci eine strukturelle Krise des gesamten Regimes, welche tiefgründige Widersprüche offenlegt, die die herrschende Klasse nicht durch ihre gewöhnlichen Methoden lösen kann. Dadurch eröffnet sich eine Periode tiefgründiger Infragestellung der herrschenden Ordnung, in dessen Rahmen wichtige Sektoren der Massen mit den traditionellen Repräsentationsstrukturen wie den etablierten Parteien und den herrschenden Institutionen brechen – nach links oder nach rechts.“ Stefan Schneider, Wirtschaftskrise und „organische Krise“: Hin zu neuen Verwerfungen der internationalen Situation

2. „Grüne Wende bedeutet: Kohleausstieg noch vor 2038, deutlicher Ausbau erneuerbarer Energien, vollständige Umstellung auf Elektroautos und wasserstoffbetriebene LKWs. Nach ihrer Vorstellung soll dies durch schuldenfinanzierte Investitionen, also aus Steuermitteln, gelingen. Doch dies ist nichts anderes als eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Industrie und Finanzwelt.“ Die Grünen: Mit E-Autos in die Apokalypse

3. „Die deutschen Automobilhersteller und die Zulieferindustrie sind aufgrund ihrer hohen globalen Verflechtung und Exportabhängigkeit von der Krise mit am Härtesten getroffen. (…) 1. Das Auto mit Verbrennungsmotoren ist ein Auslaufmodell, daher werden sich Absatzvolumen wie auch die Absatzstruktur nachhaltig verändern. Auch in Deutschland! 2. Die Zukunft wird geprägt von global schrumpfenden Gewinnmargen und Renditen, was den globalen Auslesewettbewerb verschärfen wird. 3. Durch Corona wurden der Globalisierung und der globalen Ausdifferenzierung der automobilen Wertschöpfungsketten Grenzen aufgezeigt. Eine risikobedingte Rückverlagerung der Fertigung ist angesagt.(…) Mit anderen Worten, es stehen große Umbrüche in der Autoindustrie bevor. Denn wie eine von der französischen Großbank BNP Paribas durchgeführte Studie namens „Wells, Wheels and Wires“ aufzeigt, müsste der Ölpreis auf zehn Dollar sinken, um mit erneuerbarer Energie und Elektroautos konkurrieren zu können.“ Mark Turm, EU-Rettungsfonds: Nicht aus Liebe, sondern aus Furcht:

4. „Der Elektro-Floh kostet 21 400 Euro, während der billigste Up-Benziner für rund 13 000 Euro zu haben ist. Trotzdem zahlt VW bei jedem E-up mehrere Tausend Euro drauf, denn der Stromer basiert auf einer alten Verbrenner-Architektur. Die Batterien müssen aufwendig in den zerklüfteten Unterboden eingepasst werden. Bei diesem Manufakturbetrieb bringt der rasante Preisverfall bei den Energiespeichern kaum Vorteile. 2014 haben Lithium-Ionen-Zellen für den Automobileinsatz noch etwa 250 Euro je Kilowattstunde gekostet. Mittlerweile hat sich der Preis mehr als halbiert, wobei Tesla durch die eigene Fabrik am günstigsten produzieren kann.“ Süddeutsche, Mehr Batterie-Power für die Kleinen

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