Aufstieg oder Fall: Europas Ambitionen nach den US-Wahlen

19.12.2020, Lesezeit 25 Min.
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Die US-Wahlen sind vorbei, und mit ihnen die Ära Trump. Doch was bedeutet das für Europa und die Bestrebungen Deutschlands in der EU?

Es war die bisher am meisten polarisierende Präsidentschaftswahl der US-Geschichte. In einem sozial tief gespaltenen Land, mitten in der Pandemie, während die kapitalistischen Regierungen völlig versagten, die Pandemie einzudämmen. Der Gewinner, der US-Demokrat Joe Biden, lässt die Bundesregierung nach seinem Wahlsieg auf eine Verbesserung der transatlantischen Beziehungen hoffen.

„Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit der nächsten US-Regierung“, erklärte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) bei Twitter. Sicherlich wird der Ton mit Biden im Weißen Haus weniger rau, dafür etwas angenehmer. Biden, anders als der Brandstifter Trump, bekennt sich zur internationalen Zusammenarbeit und den zugehörigen Institutionen – allen voran zu den Vereinten Nationen, was in den europäischen Metropolen für Erleichterung sorgt.

Die Hoffnung der Europäer:innen könnte jedoch schnell verpuffen, denn Joe Bidens Triumph fehlt die nötige Legitimität, um den Trumpismus im Parlament, Senat und Obersten Gerichtshof zu brechen. „Die hohe Stimmenzahl, die Trump erhalten hat (mehr als 73 Millionen Stimmen) und sein Beharren darauf, dass es Betrug gab, untergräbt die Legitimität der zukünftigen Regierung, die sich auf der Rechten mit den Republikanern (und der Fraktion des Trumpismus) und auf der Linken mit einer breiten Jugendavantgarde auseinandersetzen muss, die die Grundlage des „Sanders-Phänomens“ war und eine Tendenz zur politischen Radikalisierung und zum Klassenkampf ausdrückt.“1

Mit diesem innenpolitischen Druck im Nacken werden die USA weiter ihre Truppen aus den heißen Ecken der Welt wie Afghanistan abziehen. Biden plädierte bereits unter der Regierung von Barack Obama für einen schnellen Abzug der US-Truppen aus dem Irak. Die Beziehung zwischen Deutschland und den USA könnten sich daher mit Biden sogar verschlechtern. Zudem bleiben wesentliche Streitpunkte bestehen, etwa mit dem Bau der Pipeline Nord Stream 2. Sie würde Deutschlands Energieabhängigkeit von teuren US-Importen überflüssig machen und ist somit der Zankapfel zwischen den USA und Deutschland.

Auch Biden wird weiter auf höhere Militärausgaben der Europäer:innen drängen und sie an ihre NATO-Zusage erinnern, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für das Militär bereit zu stellen. Dies verdeutlicht die Schwierigkeiten der EU, das von den USA hinterlassene strategische Vakuum zu füllen. Denn für die USA, die trotz allem der Welthegemon2 bleibt, ist Europa derzeit außenpolitisch nicht die entscheidende Weltregion.

Washington ist sich der scheinbar unüberwindbaren Hürden, denen das bürgerliche Europa heute entgegen sieht, bewusst. Dazu zählen die Gefahr eines harten Brexit und dessen politisch-ökonomische Auswirkungen, die Spannungen zwischen Deutschland und dem Süden – insbesondere Griechenland und Italien sowie die Spannungen mit den Ostsaaten wie Polen oder Ungarn. Zudem ist die Ukraine-Frage weiterhin ungelöst. Die USA haben den Vorteil, dass „der gesamte (eurasische) Kontinent von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät ist, von denen einige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären“3, wie es der Politikberater Zbigniew Brzeziński einst formulierte. Zumindest unter Trump kam es einer Staatsräson für die USA gleich, Europa in der Fragmentierung zu halten. Es ist anzunehmen, dass wesentliche Aspekte dieser geopolitischen Ausrichtung unter Biden beibehalten werden.

Europa zwischen Unterordnung und unabhängigen Bestrebungen

Die Verbindungen zwischen den USA und der Europäischen Union sind das Produkt der Niederlage des Faschismus in Europa und dem Aufstieg der USA als weltweiten Hegemon, ökonomisch, politisch und kulturell. New York wurde das Zentrum des globalen Finanzwesens, und der Dollar die Währung, die Handels- und Finanztransaktionen dominiert. Amerikanische Truppen waren überall auf der Welt stationiert, der „american way of life“ war eine Art Leuchtturm zumindest für die Massen der westlichen Welt, dabei vermochte keine herrschende Klasse (keines Landes) diese Ordnung in Frage zu stellen. In anderen Worten, der Aufstieg der USA als hegemoniale Macht war die Grundlage für den „friedlichen“ und stabilen Wiederaufstieg der europäischen Mächte. Das geschah unter der schützenden Hand der Vereinigten Staaten, die sich über jene Länder streckt, die bereit sind, sich in das Bündnissystem der USA in einer untergeordneten Rolle zu integrieren. Die Weltarchitektur nach 1945 wurde nach den Vorstellungen und Notwendigkeiten des US-Imperialismus konzipiert und aufgebaut und noch ist kein Konkurrent gewachsen, auch nicht Europa. Für die gesamte EU gesehen sind die USA der wichtigste Handelspartner und sie werden es vorerst bleiben. Doch China (siehe den Artikel von Esteban Mercatante) hat wichtige Positionen eingenommen, die das Reich der Mitte zum wichtigsten Handelspartner Deutschlands vor den USA gemacht haben.

Es ist also natürlich, dass die Hauptbemühungen der USA darin liegen, die Spaltung in der europäischen Kernzone, bestehend aus Frankreich und Deutschland einerseits und Polen und der Ukraine andererseits, aufrechtzuerhalten und zu vertiefen. Zudem wollen sie den eurasischen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok weiterhin als Rohstofflieferant und Absatzmarkt sichern und Russland von Europa fern halten. Die Marginalisierung Russlands, als bedeutendster eurasischer Brückenstaat zwischen Europa und China, bleibt das wichtigste Ziel der USA um die US-Dominanz gegenüber dem Hauptkonkurrenten China und ein leidendes Europa aufrechtzuerhalten, denn „Im Allgemeinen macht das heutige Westeuropa den Eindruck einer Reihe von gequälten, unzusammenhängenden, bequemen und dennoch sozial unzufriedenen und bekümmerten Gesellschaften, die keine zukunftsweisende Vision mehr haben“ (Brzeziński 1997). Daher verwundert es nicht, dass die USA unter Trump auf bilaterale Abkommen mit kleinen europäischen Staaten setzte, statt mit der EU zu verhandeln.

Die Strategielosigkeit Europas

Europa sieht sich vor viele Spannungen und Schwierigkeiten gestellt. Zu den oben genannten Punkten kommt die Notwendigkeit einer gemeinsamen sicherheitspolitischen Linie Europas. Hier zeigt sich die fehlende Strategie der Hauptmächte Europas. Perry Anderson wies in der Einleitung zu seinem Buch The New Old World darauf hin, dass Europa „ein unmögliches Ziel zu sein scheint“. Dabei bezog er sich darauf, dass in Europa weiterhin ungelöste Spannungen zwischen einer supranationalen Struktur und den verschiedenen Nationalstaaten bestehen. Man könnte es als verschiedene Visionen von nationalem Charakter für ein „gemeinsames“ Projekt bezeichnen.

Frankreich – oder zumindest Emmanuel Macron – träumt mit seinen Atomwaffen von einer bedeutenderen Rolle, strategisch ohne die USA, den Traum von europäischer Souveränität.

Macron steht heute für eine gemeinsame europäische Politik in Sicherheitsfragen, außerhalb des schützenden Schirmes der NATO und der USA. Dabei ist Frankreich wenig geneigt, mehr für die europäische Sicherheit zu investieren. Für Macron müssen die europäischen Mächte eine eigenständigere geopolitische Interventionslinie verfolgen. Während Frankreich strategisch auf eine zunehmende Unabhängigkeit zu den Vereinigten Staaten abzielt, sieht sich Deutschland weiterhin als Juniorpartner der USA, der jedoch etwas mehr Verantwortung übernimmt. Deutschland will mit Europa auch in den kommenden Jahrzehnten im Fahrwasser der USA navigieren. Deutschland bereitet sich strategisch darauf vor, auf allen Ebenen eine global agierende Großmacht zu werden. Dabei muss sie sich jedoch hinter der US-Hegemonie einreihen. Deutschland ist eine Großmacht, die aber nicht hegemonial sein will, wohl wissend um die eigenen objektiven Schwächen – auch auf militärischer Ebene – gegenüber der USA und sogar China. Das macht es ihm unmöglich, das von den USA hinterlassene Vakuum zu füllen. Es sind schlechte Ausgangsbedingungen für ein hegemoniales europäisches Projekt, angeführt vom Doppelkopf Deutschland und Frankreich.

Die Stolpersteine in und vor der Europäischen Union

Die Wirtschaftskrise und die sich verstärkenden Zentrifugalkräfte verdeutlichen die Tatsache, dass die EU nicht weiter machen kann wie bisher. „Konkrete Beschlüsse ziehen sich wegen des Zwangs zur Einstimmigkeit ewig hin. Häufig ist die Nato noch mit einer Herausforderung beschäftigt, währenddessen brechen an anderer Stelle schon neue Konflikte auf, die eigentlich eine rasche Antwort nötig machen würden. Das kann die Allianz schon seit Jahren nicht leisten“, schreibt die Rhein-Zeitung zu den zunehmenden Schwierigkeiten zwischen den Ländern im Norden, Süden und Osten Europas. Denn das Europa der Nationalstaaten stellt heute ein noch scheinbar unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zu einer europäischen hegemonialen Politik dar, um die gegenüber den USA und China und deren wachsenden Spannungen eine vorherrschende Rolle zu spielen.

Heute ist der größte Stolperstein die Auswirkungen eines harten Brexit, das wie ein Damoklesschwert über den europäischen Häuptern schwebt, denn es geht um circa 3,5 Prozent des Welthandels oder um Importgüter im Wert von 604 Milliarden Euro. Allen voran China und die USA könnten stark von einem ungeregelten Brexit profitieren, während die europäischen Exporte nach Großbritannien um 35 Milliarden Dollar zurückgehen könnten. „China könnte so seine Exporte nach Großbritannien um 10,2 Milliarden Dollar steigern, die USA ihre Exporte um 5,3 Milliarden Dollar“, so die Deutsche Welle. Im internationalen Vergleich würden Europa und Deutschland weiter zurückfallen. Eine Zeitung der chinesischen Regierungspartei rechnet damit, dass sich bei einem ungeordneten Brexit, die „Aushandlung bilateraler Freihandelsabkommen schwierig gestalten und lange dauern würde (…). Dies wird sich dann unmittelbar auf die Lebensverhältnisse der britischen Bürger auswirken.“4 Eine Perspektive, der Boris Johnson wenig geneigt sein wird.

Ein weiterer Stein, der scheinbar vorerst aus dem Weg geräumt werden konnte, ist die Blockadehaltung Polens und Ungarns, dem EU-Budget für die nächsten sieben Jahre und dem Corona-Wiederaufbaufonds zuzustimmen. Kern des Streits ist der Umgang mit der Justiz und den Medien in beiden Ländern, wo die bonapartistischen Tendenzen stark zugenommen haben. Sie zeigen sich in Angriffen auf elementare demokratische Freiheiten, wie das Recht auf Abtreibung sowie Verfolgung von LGTBI*-Menschen und weiteren Minderheiten. Dabei spielt Merkel den good cop, indem sie Kompromissbereitschaft signalisiert, während der bad cop in der Figur der Europäischen Kommission gewaltigen Druck ausübt. Nun haben Polen und Ungarn sich angesichts der Drohungen gebeugt, und wollen den EU-Haushalt doch nicht blockieren. Jedoch wurde der „Sieg“ der EU erreicht, indem Viktor Orbán der Geldhahn der EU bis zur Wahl 2022 nicht zugedreht, und so sein politisches Überleben ermöglicht wird. Die sogenannte „Rechtsstaatlichkeit“ war für Deutschland nur solange wichtig, wie diese das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft ermöglicht.

Das wiederkehrende Säbelrasseln zwischen Griechenland und der Türkei, zwei Nato-Partnern, destabilisiert nicht nur die EU sondern die NATO selbst. Dies ist ein Nebenprodukt der Schwierigkeiten der EU, die von den USA hinterlassene Lücke zu füllen. Die Deutsche Welle schreibt: „Seit 2013 spielen die USA keine Führungsrolle mehr im östlichen Mittelmeer. Die Türkei, Russland und andere Mächte können dort mehr oder weniger ungehindert agieren“, Frankreich und Deutschland schauen tatenlos zu. Sie sind gefangen im Abkommen mit der Türkei (und Griechenland), um Geflüchtete vor Europa aufzuhalten und sie ertrinken zu lassen.

Die USA pochen auf einen raschen Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan, um Großmächte wie Deutschland zu zwingen, mehr Mittel freizustellen, es aus der Reserve zu locken und vor vollendete Tatsachen zu stellen. Auf diese Weise müssen sie mehr investieren, um den Schutz ihrer Soldat:innen vor den erstarkenden Taliban und dem IS zu schützen. So schreibt die New York Times, dass nun „die Biden-Regierung Zeit hat, einen verantwortungsvolleren Rückzug zu planen“, was für eine Kontinuität der Außenpolitik Trumps spricht.

Die EU hat noch einen weiteren Stolperstein mit dem Ukraine-Konflikt. Dort zieht die NATO noch am selben Strang, kann Russland aber nicht von seinem Kurs abbringen, während die Europäer:innen im Windschatten der USA handeln.

Schließlich führen die Auswirkungen der Finanz- und Eurokrise zum verstärkten wirtschaftlichen Auseinanderdriften der Länder in der EU. Deutschland ging aus der Krise von 2008 gestärkt hervor, der Industrieanteil Deutschlands ist heute etwa doppelt so groß wie in Großbritannien oder Frankreich, um zwei wichtige europäische Größen zum Vergleich zu nehmen, jedoch auf Kosten der europäischen Partner. Gleichzeitig aber stellt Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss ein Dorn im Auge der deutschen Handelspartner dar, und ist paradoxerweise ein großer Ballast für die deutsche Wirtschaft, da die Kehrseite des Leistungsbilanzüberschuss ein erhöhter Kapitalexport mit vergleichsweise niedrigerer Rentabilität im internationalen Vergleich ist, sowie Investitionszurückhaltung im Inneren.

Die Schwierigkeiten und die Positionierung Europas fasst das Manager Magazin folgendermaßen zusammen: „Die USA wollen ihre Verbündeten offenkundig nicht mehr bedingungslos gegen Großmächte wie China oder Russland abschirmen. Damit sind zwei Säulen unserer Prosperität angeknackst: offene Weltmärkte und militärischer Schutz, beides garantiert durch die USA. Das Geschäftsmodell als Exportnation ist bedroht“, so das Manager Magazin.

Deutschlands Führung zwischen Atlantismus und Europäismus

Deutschland versucht seinerseits, aus dem Prozess des Hegemonieverlustes der USA Kapital zu schlagen, jedoch ohne deren Führung in Frage zu stellen. Der Grund dafür ist, dass Deutschland die Größe einer Weltmacht hat, jedoch nicht die Größe zum Hegemonen. Hans Kundnani, Autor des Buches „German Power“, hält es für falsch, Deutschland das Gewicht eines echten Hegemonen zuzuschreiben. Mit Sorge wird in Deutschland festgestellt, dass die deutsche Wirtschaft in Zukunftsbranchen wie der Informations- oder Kommunikationstechnologie nur eine vergleichsweise kleine Rolle spielt. Deshalb ist Deutschland auch im Ranking der Wettbewerbsfähigkeit „Global Competitiveness Report 2019“, den das Weltwirtschaftsforum (WEF) jährlich unternimmt, vergangenes Jahr hinter Hongkong, den Niederlanden, der Schweiz und Japan auf Platz sieben gefallen, während die Arbeitsproduktivität in Deutschland 1,4 Prozent unter der von Frankreich liegt.

Die Wirtschaftsmacht Deutschlands sei „zu groß für ein Gleichgewicht in Europa, aber nicht groß genug für die Hegemonie“. Die Gefahr dabei sieht Hans Kundnai darin, dass die deutsche Regierung versuche, sich zum Hegemonen aufzuschwingen, auch wegen der Erwartungen der anderen EU-Staaten. Diese haben bisher am Aufstieg Deutschlands dank des Euros mitgewirkt, was wiederum andere auf den Plan rief, antideutsche Koalitionen zu schmieden. Derzeit tun dies Ungarn und Polen, jedoch mehr oder weniger erfolglos. Während des ersten Lockdowns sah sich Italien gezwungen, harte Drohungen auszusprechen, als es wegen der Covid19-Pandemie am Boden lag. Statt die selbstauferlegte hegemoniale Rolle zu spielen, entschied sich Deutschland, ein Exportverbot von Hilfsgütern zu verhängen und anschließend Italiens Vorstellungen von Euro- oder Corona-Bonds als unerfüllbar abzustempeln, eine Art Unterwerfungspolitik gegenüber Italien. China und Russland dagegen schickten ganze Flugzeugladungen mit medizinischem Material nach Italien um den „egoistischen Hegemon“ vor deren Toren bloßzustellen und gleichzeitig eine mediale Offensive zu starten mit dem Ziel, sich als verlässlichere Partner in der Not zu profilieren. Mitten in der dunkelsten Stunde hat Deutschland Europa nicht angeführt, sondern seine Grenzen dicht gemacht und die europäischen Partner wie Italien allein gelassen. Somit konnten Millionen Menschen in Echtzeit sehen, dass die europäische „Einheit“ eher wie ein Schloss auf Sand gebaut zu sein schien. Mit der totalen Schließung der Grenzen versuchte jede Regierung, sich selbst zu retten, ohne sich um die anderen zu kümmern, auch wenn sie anschließend zur Zusammenarbeit aufriefen. Der Schaden ist immens für Deutschland und seine hegemonialen Bestrebungen. Wie hoch der Preis sein wird, den Deutschland für seine verbrecherische Politik beim ersten Lockdown bezahlen wird, ist noch nicht ermittelt. Sicher ist aber, dass die Italiener:innen China und Russland heute mit ihrer eigennützigen „humanitären Hilfspolitik“ für „freundlicher“ als Deutschland halten.

Hart mit den Schwachen, aber unterwürfig gegenüber den Mächtigen, so scheint die politische Linie der deutschen Bourgeoisie zu sein. Peitsche für Italien und Griechenland, Honig für die USA. Diesen zeigt sie Bereitschaft, die Handelshemmnisse abzubauen, ein Signal an den gemeinsamen Konkurrenten China. Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) versprach den USA, die deutschen Verteidigungsausgaben zu erhöhen und die USA als Ordnungsmacht durch ein stärkeres militärisches Engagement in Europa und der Nachbarschaft zu entlasten. Zudem bekannte sie sich zur deutschen Beteiligung an der atomaren Abschreckung gegenüber Russland. Macron gab sie eine Abfuhr über dessen „Illusionen über eine strategische europäische Autonomie“. Laut Kramp-Karrenbauer sollte diese begraben werden. Im Vergleich zu Frankreichs Wunschvorstellung eine recht bescheidene Perspektive.

Die Frage der strategischen Ausrichtung Deutschlands und der EU in der kommenden Periode offenbart die Orientierungslosigkeit, in der sich die deutsche herrschende Klasse befindet. So sehen wir entgegengesetzte Meinungen nicht nur zwischen Parteien, sondern innerhalb der verschiedenen politischen Formationen. In der CDU gibt es verschiedene Vorstellungen einer Atommacht Europa beziehungsweise Deutschlands. Florian Hahn (CSU), europapolitischer Sprecher der Unionsfraktion, sieht angesichts der sich ändernden transatlantischen Beziehungen die Notwendigkeit einer „eigenen europäischen Nukleartechnologie“. Der CDU-Außenpolitikexperte Roderich Kiesewetter spricht laut RND angesichts des teilweisen US-Truppenabzugs aus Deutschland sogar von einem „Misstrauenssignal gegenüber der USA“. Die bürgerliche Politik in Deutschland bewegt sich somit zwischen Hegemonialfantasien und pragmatischen Vorstellungen der „Unterordnung“.

In der SPD mehren sich wiederum die Stimmen für eine stärkere Abkoppelung Deutschlands von den USA. Die SPD-Fraktion im Bundestag tritt mittlerweile offen für den Aufbau einer europäischen Armee ein. Der verteidigungspolitische Sprecher Fritz Felgentreu sagte dazu: „Es geht uns darum, unabhängig von den leidigen Souveränitätsfragen die Handlungsfähigkeit der EU zu verbessern.“ Auch der Fraktionschef Rolf Mützenich fordert eine stärkere Unabhängigkeit von den USA. Damit soll vor allem die militärische Schwäche Deutschlands gegenüber den großen Konkurrenten aus China und den USA kompensiert werden. Denn ohne Frage würde auch solch eine europäische Armee maßgeblich unter deutscher Führung stehen. Realistisch ist dieses Szenario aber wohl kaum. Zu tief sind die politischen Gräben aktuell in der EU, zwischen dem Kerneuropa und der europäischen Peripherie. Der Brexit und der Aufstand von Polen und Ungarn sind deutliche Anzeichen für die Brüchigkeit der Europäischen Union. SPD-Außenminister Heiko Maas betont hingegen die Wichtigkeit einer engeren strategischen Zusammenarbeit zwischen Europa und den USA. Dennoch betont auch er, dass „der europäische Pfeiler in der NATO“ gestärkt werden müsse. Die Versuche der Bundesregierung, die widerspenstigen europäischen Partner zu disziplinieren, wie nach der Krise 2008 mit Griechenland, Italien und so weiter, scheinen heute deutlich schwieriger.

Die Grünen verhalten sich bisher noch deutlich zurückhaltender in der Frage der USA. Dennoch ist auch hier die grundsätzliche Zustimmung für eine militärische Stärkung Deutschlands vorhanden. Kurz nach den US-Wahlen sagte der außenpolitische Sprecher der Grünen Omid Nouripour, dass „diese Wahl der letzte Weckruf sein [sollte], nicht nur für uns in Deutschland, sondern für uns in Europa, dass wir auf eigenen Beinen stehen müssen, dass wir zusammenstehen müssen, um im Zweifelsfall auch ohne die Amerikaner Außen- und Sicherheitspolitik zu machen“. Führende Köpfe der Partei wie Cem Özdemir, Robert Habeck und Kathrin Göring-Eckardt forderten unlängst mehr Investitionen in die Bundeswehr und unter dem „humanistischen“ Deckmantel auch mehr Einsätze im Ausland – notfalls auch ohne UN-Mandat.

Dunkle politische Wolken am Horizont also, kurz vor den kommenden Bundestagswahlen, bei denen die Frage über die Zukunft der transatlantischen Beziehungen auf der Tagesordnung sein wird und bereits jetzt für Spannungen im bürgerlichen Lager sorgt.

Der Strukturwandel als Vorbedingung für ein deutsches Projekt mit Weltmachtambitionen

Aus deutscher Sicht wird es für eine strategische Offensive notwendig sein, die Weichen zu stellen, um den sogenannten Strukturwandel zu vollziehen. Es geht darum, ein neues Akkumulationsmuster aufzustellen, das die „stetigen Veränderungen der wertmäßigen Beiträge der einzelnen Wirtschaftszweige und Wirtschaftssektoren zum Sozialprodukt“ im globalen Maßstab berücksichtigt. Mit diesem Ziel rief die Bundesregierung Mitte 2018 die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ ein, „um einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die Gestaltung des energie- und klimapolitisch begründeten Strukturwandels in Deutschland herzustellen“. Damit sollen die Versorgungssicherheit des Landes, Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit der anvisierten Maßnahmen gewährleistet werden. Schrittweise soll die Kohleverstromung reduziert und schließlich beendet werden, zugunsten alternativer Energiequellen wie Sonnen- oder Windenergie. Zudem geht es um den digitalen Wandel, den Digitalpakt, also darum, die digitale Bildungsinfrastruktur an Schulen auszubauen, die, wie die Schulschließungen aufgrund der Corona-Pandemie zeigen, im internationalen Vergleich gewaltig hinkt.

Für die Automobilbranche, der wichtigsten Säule der deutschen Wirtschaft besteht wegen der sich verschärfenden Konkurrenz, die Notwendigkeit, den Verbrennungsmotor durch den Elektromotor zu ersetzen. Laut Hersteller:innen sei dies nur mit Sparprogrammen und weniger Personal finanzierbar. Der internationalen Konkurrenzkampf wird nun von Akteuren:innen wie China aufgemischt. Der industrielle Sektor muss den sich beschleunigenden tendenziellen Fall der Profite wettmachen mittels technischer Erneuerung, Optimierung, beziehungsweise Verkürzung der Lieferketten sowie der verstärkten Automatisierung, um somit die Ausbeutungsrate zu vertiefen.

Diese Mammutaufgabe wird zwar staatlich gelenkt, die Entscheidungen treffen jedoch einzelne Kapitalist:innen und somit notwendigerweise auf ihren privaten Profit bedacht. Dies kann zu Spannungen und Brüchen führen, die die nötigen Veränderungen entweder verlangsamen oder sogar zum Scheitern bringen könnten. Das könnte wiederum das Projekt der sich ausbreitenden Weltmacht unterminieren oder gar in Frage stellen. Die Aufgaben und die sozialen Kosten sind so gewaltig, dass der Erfolg dieser Strategie nicht a priori als gegeben angesehen werden darf. Um ein Beispiel zu geben: Allein in der Autoindustrie könnten 110.000 Arbeitsplätze wegfallen, welche nicht durch soziale Maßnahmen und Auffanggesellschaften gesichert werden könnten. Die OECD schätzt allein für Deutschland, dass jeder fünfte Job im Zuge des Strukturwandels gefährdet sei, so SPON im Jahr 2019: „Dazu zählten besonders diejenigen, die im verarbeitenden Gewerbe tätig sind, denn hier ließen sich viele Arbeiten von Maschinen erledigen. Deutschland als Industriestandort sei in diesem Zusammenhang deutlich stärker betroffen als andere OECD-Staaten.“ Und das Manager Magazin schreibt: „Im produzierenden Gewerbe, das in Deutschland einen deutlich größeren Anteil an der Wertschöpfung hat als in den meisten anderen Industrienationen, beschleunigt sich die Automatisierung und Robotisierung ganz besonders.

Der Erfolg des beabsichtigen Strukturwandels steht und fällt mit der Antwort, die die Arbeiter:innenklasse abgeben wird. Die Spannungen zwischen Autobossen und der IG-Metall-Führung sowie die ersten Streiks bei Daimler und VW zeigen, dass dieses Vorhaben noch weit von einer Umsetzung entfernt ist.

Die EU zwischen einem Rückfall in den Nationalstaat und der sozialistischen Perspektive

Die Wirtschaft ganz Europas liegt in Folge der Rezession am Boden, verstärkt durch die Pandemie, allen voran im Süden. Es handelt sich um eine historische Zäsur und ihre Folgen könnten sich als katastrophal erweisen. Die EU versucht, Wiederaufbau-Programme im Rahmen ihres Haushalts zu beschließen, jedoch erheben sich abtrünnige Stimmen, die das ganze Konstrukt ins Wanken bringen.

Europa droht im verschärften Konkurrenzkampf zwischen den USA und China zurückzufallen, denn kein einzelner europäischer Staat hat die Größe, um es mit den USA oder China aufzunehmen. Das Europa des Kapitals in seiner Gründerfassung steht am Ende seiner Entwicklung, nicht am Anfang. Die sozialen Kosten sind bereits jetzt gigantisch, und ein großer Teil der europäischen Bevölkerung gerät immer tiefer in die existenzielle Krise.

Die bürgerliche Narrative der Europäischen Union gehen von der Vision eines vereinten, starken und handlungsfähigen Europas aus. Die Wirklichkeit zeigt fehlende Einheit unter Ungleichen. Die Spannungen über den Brexit und über den neuen EU-Haushalt, der den Corona-Rettungsfonds beinhaltet, weisen darauf hin, dass die Europäische Union auseinander zu brechen droht. Der nationale Ausweg scheint zum heiligen Gral zu werden, sowohl aus dem rechten wie linksreformistischen Lager. In deren Narrativen wird die EU, die Diktate Brüssels, und nicht die Nationalregierungen und die heimischen Bourgeoisien, als Verantwortliche der Krise ausgemacht. Die Propheten der Nationalstaatlichkeit in Parlamenten und Gewerkschaften verschweigen, dass nationalstaatliche Lösungen keine ökonomische Basis im Rahmen eines internationalisierten Produktionsgeflechtes haben.

Die Europäische Union ist eine Struktur, die in keiner Weise fortschrittlich ist und in keiner Weise reformiert werden kann. Sondern sie ist ein Konstrukt, das die imperialen Ambitionen Deutschlands und Frankreichs beflügelt, auf Kosten der anderen Länder. Die EU zu verbessern, ohne ihren Klassencharakter zu verändern, ist ein unmögliches Unterfangen. Den räuberischen, ausplündernden Charakter der EU abzuschütteln, heißt nichts anders, als im Kampf gegen ihren imperialistischen Charakter die EU zu zerstören. Die EU-Erweiterung zugunsten imperialistischer Konzerne bedeutet Unterwerfung und bringt den Menschen in Ost- und Südeuropa nichts außer Armut und Elend. Die Völker der kapitalistischen Peripherie werden entweder durch den Abwurf von in Europa hergestellten Bomben oder auch durch die Enteignungspolitik der verschiedenen europäischen Imperialismen zur Auswanderung gezwungen. Im Dienste der imperialistischen Interessen werden sie von Diktatoren wie Recep Tayyip Erdoğan an Stacheldrahtzäunen aufgehalten, schikaniert, gefoltert oder über Bord in den schwarzen Gewässern des Mittelmeers geworfen, zum Fraß von Haien und Fischen.

Die herrschenden Klassen Europas haben keine Antwort weder auf die Pandemie noch auf die Krise. Sie bereiten den Weg für noch brutalere Angriffe auf die Lebensbedingungen der Massen vor, gleichzeitig lassen sie den Planeten brennen. Sie haben ihren Bankrott erklärt, und jede „Lösung“ innerhalb der kapitalistischen Logik hält dieses faulende System am Leben. Die Arbeiter:innen des ganzen Kontinents müssen gegen die ihnen auferlegten Verelendungspläne kämpfen. Es geht um das nackte Überleben nicht nur von ihnen selbst, sondern auch der zukünftigen Generationen. Noch nie war es so dringend wie heute, nicht nur eine klare Opposition gegen die Pläne des bürgerlichen Staates und die Kapitalist:innen zu entwickeln, sondern auch einen Kampf gegen die Gewerkschaftsführungen zu führen, eine der letzten Verteidigungslinien des bürgerlichen Staates in den Betrieben. Die einzige Perspektive sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

Fußnoten

1 Cinatti, Claudia: Elementos de caracterización y perspectivas de la situación internacional. 9.12.2020.

2 Um einen Staat als Hegemonialmacht zu betrachten, bedarf es drei Voraussetzungen, die im Falle der USA schwinden: 1) Übergewicht an Macht, 2) Bereitschaft, diese Macht für bestimmte Zwecke einzusetzen, und 3) Führung auf der Grundlage der ausdrücklichen Zustimmung anderer.

3 Brzeziński, Zbigniev (1997): The Grand Chessboard – American Primacy and Its Geostrategic Imperatives. New York: Basic Books. S. 41.

4 JIEFANG RIBAO, Peking, 10.12.2020.

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