Gamification des Krieges: Soldat:innen töten für virtuelle Punkte

Ein Menschenleben ist sechs Punkte wert, ein Panzer 40. Für Videos von Abschüssen erhalten ukrainische Soldat:innen Punkte, mit denen sie neue Waffen und Ausrüstung kaufen können.
Wie viele russische Soldat:innen musst du töten, um dir eine neue Drohne zu verdienen? Ziemlich genau 7,16. So funktioniert die Initiative „Brave1“ des ukrainischen Ministeriums für „Digitale Transformation“: Ukrainische Soldat:innen können mit Videoaufnahmen erfolgreiche Abschüsse belegen, um Punkte für ihre Einheit zu sammeln. Für getötete russische Soldat:innen bekommt man sechs Punkte, für zerstörte Panzer 40 und so weiter. Diese Punkte können dann im Onlineshop von „Brave1“, der in etwa wie ein „Amazon für Waffen“1 funktioniert, eingetauscht werden.
Dort verfügbar ist ein Haufen an Waffen und Ausrüstung, die die Ukraine aus Eigenproduktion und aus den Waffenlieferungen anderer Länder, wie Deutschland, Frankreich und vor allem den USA, bezieht. Aber auch Rüstungsunternehmen aus anderen Teilen der Welt können sich ganz unbürokratisch als Verkäufer registrieren und ihre Produkte anbieten. Die Soldaten:innen geben die Waffen im Endeffekt über die Website direkt bei den Herstellern in Auftrag.
Wir wollen später in dem Artikel tiefer auf den Zynismus der Gamification dieses Systems, das heißt der Übertragung von spieltypischen Elementen wie diesem Punktesystem, in spielfremde Umgebungen wie Kriege, eingehen. Ein anderer gewollter Nebeneffekt der benötigten Beweisvideos für „Brave1“ ist aber ohne Zweifel die Kriegspropaganda. Sie sind das Brennmaterial für eine ganz neue Front im Krieg – das Internet. Und nun sind die Soldat:innen dazu angehalten, noch mehr von ihnen zu produzieren.
Dieser Krieg ist so transparent wie kein anderer vor ihm. Von Beginn an veröffentlichten beide Seiten tausende Videos: von Grabenkämpfen, der Zerstörung von Infrastruktur und vor allem von Drohnen, die Fahrzeuge und Menschen verfolgen, um sie anschließend hochzujagen. Heutzutage ist der Krieg fest im Internet verankert und macht sich dessen Mechanismen natürlich auch zu Nutze. Mehrmals täglich werden neue Videos von allen Seiten und Facetten hochgeladen, wir erleben den Kriegsalltag auf unseren Social Media Plattformen live mit. Neben den Frontvideos mischen sich hierzulande die Spendenkampagnen des ukrainischen Verteidigungsministeriums (und des russischen Verteidigungsministeriums in anderen Teilen der Welt) bunt unter Katzenvideos und die neuesten Dance-Challenges. Durch „Brave1“ sind Soldat:innen dazu angehalten, mehr und hochwertigere Videos zu produzieren – also mehr Futter für die Propagandamaschine, aber natürlich auch für die Social Media Plattformen, die vom Leid des Kriegs nun noch mehr profitieren können.
Als Beispiel: In dem Video, das von der ukrainischen Armee hochgeladen und verbreitet wurde, ist zu sehen, wie ein russischer Soldat von einer Drohne verfolgt und anschließend getötet wird.
Was ist Gamification?
Dass Soldat:innen und Einheiten in Kriegen für Erfolge belohnt werden, ist nichts Neues. Schon seit Anbeginn der Zeit werden Medaillen für besondere kriegerische Erfolge und Urlaube nach besonders harten Gefechten verteilt sowie Kopfgelder auf Feinde ausgesetzt. Doch Gamification ist in gewisser Weise eine Weiterentwicklung, denn es geht um mehr als nur Belohnungen. Gemeint ist damit der Versuch, etwas, was kein Spiel ist, so zu verkleiden, dass es sich wie eins anfühlt. Der eigentliche Reiz kommt durch das Spielerische, durch den nachvollziehbaren Fortschritt, Ranglisten beziehungsweise den Vergleich mit anderen Nutzer:innen sowie durch virtuelle Güter/Währungen, die man sich erarbeiten kann.
Von Duolingo bis hin zur Gesundheitsversicherung findet Gamification Einzug in unseren Alltag: Wir werden angetrieben, dran zu bleiben, wenigstens bis zum nächsten Teilerfolg, um weiter und weiter zu kommen. Das System bietet in Abständen immer wieder eine gewisse Anerkennung, ob nun durch Ranglisten oder Belohnungen, wie Sachwerte und virtuelle Währungen.
Ohne Zweifel kann Gamification zur Leistungssteigerung oder eben einer tieferen Auseinandersetzung und Identifizierung, mit dem, was man tut, führen. Das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Doch ein Nebeneffekt davon ist, dass teilweise das eigentliche Ziel aus den Augen gerät. Ein Beispiel: Öffnet man Duolingo eher, um seinen täglichen „Streak“ abzuschließen, oder, um Vokabeln zu lernen? Warum ist es so wichtig, eine ganze Sektion in Duolingo abzuschließen, und wieso hört man eher nicht eben mal so innerhalb einer Runde auf?
Das mag bei einer Lern-App weniger problematisch sein; aber wenn Soldat:innen nun vor der Frage stehen: „Bringe ich diesen Menschen für sechs Punkte um oder lasse ich ihn wegrennen?“, werden sie diese ab jetzt vielleicht anders beantworten als zuvor. Vor allem bei Drohnenpilot:innen, die hauptsächliche Zielgruppe dieser Initiative, stellt sich die Frage umso stärker. Denn sie fliegen teilweise mit ihren Drohnen tief ins feindliche Hinterland. Wie gehen sie dort mit Soldat:innen um, die sich ergeben wollen?
Die Anerkennung von Erfolgen und der Wettbewerb mit anderen Nutzer:innen sind essenzielle Bestandteile von Gamification. So, wie Duolingo deinem Umfeld unter die Nase reibt, dass du 40 Tage lang hintereinander Französisch gelernt hast, oder die Krankenkasse deine Beiträge reduziert, wenn du dich von einem Fitness-Tracker überwachen lässt, so gibt es auch bei „Brave1“ Belohnungen. Neben dem angesprochenen Punktesystem gibt es auch eine öffentliche Rangliste. Dort werden die zehn Einheiten der ukrainischen Armee, die am meisten Punkte durch Töten und Zerstören gesammelt haben, geehrt.

Leaderboard auf der offiziellen Webseite mit zum Beispiel dem Azov Battalion etwas abgeschlagen auf Platz 8, https://market.brave1.gov.ua/ [03.06.2025].
Doch letztlich fügt „Brave1“ dem, was schon zuvor durch die Mittel des Internets stattgefunden hat, nur eine zusätzliche Ebene hinzu. Einheiten beider Kriegsparteien versuchen schon lange, sich auf Social Media mit noch krasseren Videos und noch mehr bestätigten Abschüssen gegenseitig zu überbieten. Die Gamification durch „Brave1“ setzt diese Entwicklung fort und insbesondere kontrollierter um.
Welchen Einfluss haben Spiele auf den Krieg?
Gamification ist nicht dasselbe wie ein Spiel, trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf das klassische Medium „Spiel“ zu werfen, das schon immer mit Krieg verwoben war.
Spiele thematisieren Krieg sowohl positiv als auch negativ. Beispielsweise gibt es Spiele, die den Horror des Kriegs darstellen und ihn dokumentieren, oder aber solche, die ihn nur als treibenden Faktor der Geschichte, die sie erzählen, einsetzen; genau wie Filme, Theaterstücke oder Musik es auf ihre jeweilige Art tun. Doch eine Sache macht Spiele besonders: Sie können ihre Spieler:innen vor taktische und strategische Probleme stellen und damit Situationen simulieren. Ein Spiel macht seine Spieler:innen aktiv zum Teil der Darstellung, stellt sie vor Entscheidungen und ermächtigt sie schließlich zum Erzeugen von Emotionen und Handlung in einem vorgegebenen Rahmen.
Dabei muss es nicht so abstrakt wie beim Schach bleiben, das uns mit wenig Regeln und viel Abstraktion in die Rolle von königlichen Feldherren, die sich gegenseitig bekämpfen, versetzt. So genannte Wargames sollen so realitätsgetreu wie möglich echte Kriegssituationen darstellen, die dann von den Spieler:innen ausgefochten werden. Wargames haben schon im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt und wurden zum Beispiel von der britischen Marine erfolgreich eingesetzt, um deutsche U-Boot-Strategien zu verstehen und zu kontern.2
Darüber hinaus rücken Spiele weitere Faktoren in den Fokus. So fördern Ego-Shooter beispielsweise nachweislich3 die Reaktionsgeschwindigkeit von Spieler:innen. Doch ob es nun um physische oder geistige Fähigkeiten geht: Junge „Gamer“ sind interessanter für Armeen weltweit geworden. Das zeigt auch das jährliche Auftreten der Bundeswehr auf der Gamescom4, wo sie versucht, junge Rekrut:innen anzuwerben5. Das sollte nicht verwundern, insofern die Bundeswehr ja auch vor dem Rekrutieren in Schulen schon lange keinen Halt mehr macht.
Vor allem die neue Soldat:innenklasse der Drohnenpilot:innen wird von den Armeen stark spielerisch beworben. Dies ist kein Zufall, da die meisten militärischen Drohnen mit relativ konventionellen oder sogar direkt mit Gaming Controllern gesteuert werden. Zum Drohnenfliegen benötigt man Fähigkeiten, die sehr ähnlich zu denen von einigen Spielen sind. Und am Bildschirm aus weiter Ferne den Abzug zu drücken, braucht möglicherweise weniger Überzeugung, was es wiederum einfacher macht, Menschen zu rekrutieren und dafür auszubilden.
Der abstrakte Krieg
Heutige Games werden echten Kriegen nicht unbedingt immer ähnlicher, sie sehen vielleicht realistischer aus als vor 20 Jahren oder ziehen Spieler:innen stärker in den Bann, als die regelschweren Wargames – aber was sich vor allem verändert hat, ist der Krieg selbst.
Denn es ist der Krieg, der immer mehr zum Spiel wird. Momente, in denen Soldat:innen sich in die Augen sehen, bevor sie sich umbringen, gehören mehr und mehr der Vergangenheit an. Man könnte fast meinen, dass dies eine positive Entwicklung sei, jedoch es wird weiterhin gestorben, nur eben in weiter Ferne. Präzisionswaffen, Raketen und Drohnen bringen nicht weniger Tote und Zerstörung hervor, sie verlegen nur den „Abzug“ weiter weg vom Geschehen. Das kennen wir schon aus anderen Kriegen dieses Jahrhunderts. Doch eine Initiative wie „Brave1“ bringt einen neuen Faktor in den Krieg ein und muss gesondert betrachtet werden.
Das Ziel von Gamification ist immer, Nutzer:innen zu motivieren, Teil von einem System zu werden, das klare Regeln hat und Belohnungen in Aussicht stellt. Sie erzeugt zudem eine Abstraktion von dem, was getan wird, also dem eigentlichen Inhalt, der nun „gamifiziert“ ist. In diesem Fall ist es das Töten. Soldat:innen werden nun motivierter und noch desensibilisierter bei der Sache sein, ein feuchter Traum jeder Armee. Kein Wunder also, dass die Bundeswehr und auch die französische Armee „Brave1“ offiziell unterstützen, suchen doch auch sie mehr motiviertes „Menschenmaterial“ für mögliche kommende Kriege
Der Zynismus dieses Systems besteht darin, dass Leichen und Fahrzeugwracks zu einer homogenen Masse verschmelzen, die abstrakte Punkte zugeteilt bekommt und schlussendlich zu Internet-Content verarbeitet wird. Das gegenseitige Abmetzeln führt letzten Endes nur dazu, dass noch mehr Waffen produziert werden, sodass noch mehr abgemetzelt werden kann. Ein ewiger Kreislauf, bei dem man sich zwangsläufig fragen muss: Für wen?
Fußnoten
- 1. Die Webseite ist frei im Internet zugänglich, aber es werden vermutlich nicht wirklich alle verfügbaren Waffen angezeigt. Aber auch so kann man so gut wie alles, von ferngesteuerten Maschinengewehren bis hin zu Kamikaze-Drohnen, dort finden: https://market.brave1.gov.ua.
- 2. Die Western Approaches Tactical Unit hat im zweiten Weltkrieg sehr detailgetreu Szenarien von deutschen Angriffen nachgestellt und zum Beispiel festgestellt, dass sich deutsche U-Boote hinter den Schraubengeräuschen vom letzten Schiff des Konvois versteckten: https://en.wikipedia.org/wiki/Western_Approaches_Tactical_Unit.
- 3. Es gibt zahlreiche Studien dafür. Hier eine davon: https://idw-online.de/de/news401054.
- 4. Die Gamescom ist die größte Zuschauer:innenmesse für Videospiele, die jährlich in Deutschland stattfindet. Die Bundeswehr ist seit Jahren fester Bestandteil, so wie auch im letzten Jahr: https://www.bundeswehr.de/de/organisation/personal/bundeswehr-gamescom-5828512.
- 5. Der Bundeswehrstand bei der Gamescom unterliegt übrigens keiner gesonderten oder strengeren Altersbeschränkung. Kinder ab 12 Jahren dürfen die Messe und damit den Stand ohne Begleitung betreten.