Größter Wirtschaftseinbruch der Nachkriegszeit – ist das Konjunkturpaket die Antwort?

12.06.2020, Lesezeit 10 Min.
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BIP und Exportzahlen sind durch die Coronakrise in Rekordmaße eingebrochen. Zahlen sollen die Arbeiter*innen mit Kurzarbeit, Massenentlassungen. Die Unternehmen hingegen sollen mit Steuergeldern gerettet werden. Doch wird das genug sein, um den deutschen Imperialismus über Wasser zu halten?

Die Wirtschaftszahlen, die in den vergangenen Tagen bekannt wurden, haben die schlimmsten Alpträume der Analyst*innen des Kapitals bestätigt: Die Auswirkungen der Corona-Pandemie lassen die exportorientierte deutsche Wirtschaft massiv einbrechen. Die Prognose der EU-Kommission: Das deutsche BIP wird 2020 insgesamt um 6,5 Prozent einbrechen – der stärkste Absturz seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Besonders betroffen ist die Exportwirtschaft: Die Zahlen für April 2020 zeigen einen Rückgang von 31 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat – ebenfalls der größte Einsturz dieser Monatskennzahl seit Beginn der Außenhandelsstatistik 1950. Und auch die Importe sind um 22 Prozent gesunken – zuletzt war ein ähnlicher Rückgang (24 Prozent) mitten in der Finanzkrise im Juli 2009 zu verzeichnen.

Doch nicht nur der Außenhandel ist eingebrochen, auch die Binnennachfrage ist abgestürzt: So meldet die Automobilindustrie, das „Rückgrat“ des deutschen Imperialismus, 50 Prozent weniger Kfz-Neuzulassungen im Mai, nachdem schon im April die Neuzulassungen um 61 Prozent gesunken waren. Insgesamt sind so seit Jahresanfang rund 35 Prozent weniger Fahrzeuge verkauft worden als im Vorjahreszeitraum.

Konzerne werden gerettet, die Arbeiter*innen sollen bezahlen

Ein Wirtschaftseinbruch durch Covid-19 war erwartet worden. Deshalb hatte die deutsche Bundesregierung schon im März gigantische Summen bewegt, um die Profite der Konzerne zu retten. 1,2 Billionen Euro Zuschüsse und Kredite, zu denen im Mai noch Pläne für einen europäischen „Wiederaufbaufonds“ im Wert von 750 Milliarden Euro hinzukamen.

Diese unvorstellbaren Zahlen – gerade angesichts des jahrelangen Mantras der Austerität und der „Schwarzen Null“, mit dem immer wieder Sozialkürzungen gerechtfertigt wurden – änderten jedoch wenig daran, dass die Konzerne trotzdem Massenentlassungen vorbereiten und Millionen von Menschen in Kurzarbeit schicken. Insgesamt werden bis zu 1 Million neue Arbeitslose 2020 erwartet, während für 10 Millionen Menschen Kurzarbeit beantragt wurde.

Das perverseste Beispiel für die Profitgier, die auf dem Rücken der Arbeiter*innen ausgetragen wird: Lufthansa wird mindestens 9 Milliarden Euro Unterstützung erhalten. Trotzdem hat Carsten Spohr, der Chef des Konzerns, angekündigt, dass noch weit mehr als die bisher genannten 10.000 Arbeitsplätze wegfallen werden. Auch bei anderen Großkonzernen wie BMW, MAN, Karstadt/Kaufhof, TUI sind Schließungen und Massenentlassungen angekündigt. Ganz zu schweigen von den prekären Sektoren, in denen viele Jugendliche, Frauen und Migrant*innen arbeiten, deren Jobs in der Corona-Pandemie einfach gestrichen wurden.

Gegen die bevorstehenden Massenentlassungen, die Betriebsschließungen und gegen die Verschärfung der Prekarisierung durch die Wirtschaftskrise, die Migrant*innen, Jugendliche und Frauen besonders trifft, braucht es eine Antwort der Arbeiter*innen, wie wir in unserem Notfallprogramm gegen die Pandemie und gegen die „Normalisierung“ im Interesse des Kapitals erklären.

Dazu wird es auch notwendig sein, wie der Kampf gegen die Schließung von Voith in Sonthofen, den die Gewerkschaftsbürokratie der IG Metall verraten hat, gezeigt hat, eine klassenkämpferische und antibürokratische Strömung in den Gewerkschaften aufzubauen, um Antworten auf die kommenden Krisen zu geben.

Das neue Konjunkturpaket – ein Verzweiflungsakt

Trotz der gigantischen Rettungspakete der letzten Monate und trotz der Kurzarbeit und angekündigten Massenentlassungen sah die Bundesregierung offenbar die Notwendigkeit, noch mehr Geld in die Hand zu nehmen: In der vergangenen Woche kündigte sie ein weiteres riesiges Konjunkturpaket in Höhe von 130 Milliarden Euro an.

Zwei Maßnahmen des Pakets – welches eine ganze Reihe an kleineren und größeren Geldspritzen für verschiedenste Sektoren beinhaltet – haben besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen: die temporäre Senkung der Mehrwertsteuer für sechs Monate von 19 auf 16 Prozent (bzw. von 7 auf 5 Prozent für mehrwertsteuerreduzierte Waren und Dienstleistungen), und die Kaufprämie für Elektroautos.

Die Senkung der Mehrwertsteuer um drei Prozent soll den Konsum anregen. Die Maßnahme erntete ein gemischtes Echo – von „mutig“ bis „sinnlos“ ist alles dabei. Klar ist: Konsumsteuern, besonders auf lebensnotwendige Produkte, belasten Menschen mit niedrigem Einkommen überproportional höher als Menschen mit großem Vermögen. Insofern könnte die Maßnahme eine geringfügige Entlastung für ärmere Menschen bedeuten – jedoch nur, wenn die Handelsunternehmen die Steuersenkung tatsächlich an die Konsument*innen weitergeben und nicht einfach die drei Prozent als Profit einstreichen. Sollte zweiteres der Fall sein, wird die Maßnahme am Ende nur eine Umverteilung in die Taschen der Bosse sein. Nötig wäre hingegen, alle indirekten Steuern abzuschaffen und stattdessen große Vermögen zu besteuern.

Die zweite Maßnahme, die kontrovers diskutiert wurde, ist die Kaufprämie für Elektroautos. Einerseits wurde positiv angemerkt, dass Verbrennungsmotoren – anders als von der Autoindustrie gefordert – von der Förderung ausgenommen sind. Zusammen mit dem Fördergeld für den Ausbau des Ladenetzes für Elektroautos handelt es sich also um eine staatliche Subvention für die Elektromobilität, was als Schritt in Richtung eines „Green New Deal“ gewertet werden kann. Andererseits ist die grundsätzliche Frage, warum die Autoindustrie überhaupt Milliarden an Subventionen aus Steuergeldern braucht – dieselbe Autoindustrie, die den Dieselskandal auf dem Gewissen hat, und die jetzt schon massiv durch Kurzarbeitergeld subventioniert wird und trotzdem horrende Boni und Dividenden auszahlt. Die einfache Antwort: Die Autoindustrie ist für den deutschen Imperialismus „systemrelevant“. Ihr soll während der Coronakrise beim strukturellen Wandel hin zu alternativen Antrieben unter die Arme gegriffen werden. Nicht aus Liebe zur Umwelt, sondern weil vor allem Daimler und BMW sich in einem Wettkampf mit den US-Unternehmen Google und Tesla befinden, sowohl im Bereich der Elektromobilität im Nutzfahrzeug-Segment, als auch beim autonomen Fahren.

Doch den größten Kostenfaktor des Konjunkturpakets stellen die direkten Hilfen für die Unternehmen dar. Bis zu 25 Milliarden Euro sollen als „Überbrückungshilfen“ gezahlt werden, um eine Pleitewelle bei kleinen und mittelständischen Firmen zu verhindern. Sie sollen vor allem den Unternehmen helfen, die von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie besonders betroffen waren. Dazu zählen Bars, Restaurants, Hotelbetriebe, sowie die Reisebranche und Profisportvereine der unteren Ligen, die über weniger finanzielle Rücklagen verfügen.

Eine wichtige Frage bleibt jedoch: Wird das Konjunkturpaket tatsächlich dazu führen, „mit Wumms aus der Krise“ zu kommen, wie es Olaf Scholz (SPD) bei der Vorstellung des Pakets formulierte? Selbst bürgerliche Zeitungen meldeten postwendend große Zweifel daran an. Denn tatsächlich ist das Konjunkturpaket eher ein Ausdruck der Verzweiflung: 1,2 Billionen Euro haben es nicht vermocht, den größten Konjunktureinbruch der Nachkriegszeit zu verhindern. Wie sollen es also 130 Milliarden Euro mehr tun? Das strukturelle Problem des Kapitals – den Strukturwandel, den Zusammenbruch des Welthandels und die fehlenden Investitionsmöglichkeiten – wird es jedenfalls nicht lösen. So wird es möglicherweise die Rezession abmildern, aber das Kapital lechzt schon nach mehr und fordert eine Unternehmenssteuersenkung auf 25 Prozent.

Die zentralen Posten des Konjunkturpakets – trotz einiger sozialer Elemente wie dem Kinderbonus von 300 Euro – sollen die Profite der Unternehmen handwerklerisch stützen, während für die Krisenfolgen für die Arbeiter*innen und Armen kaum Geld in die Hand genommen wird. Und bezahlt wird dies wiederum von Steuergeldern, für das ebenfalls Arbeiter*innen aufkommen müssen.

Olaf Scholz hat mit Beginn der Krise das Dogma der Schwarzen Null verworfen: Um das Kapital zu stützen, werden Staatsschulden aufgenommen (während für soziale Belange grundsätzlich wenig Geld da ist). Die Bundesregierung hofft, diese dank niedriger Zinsen und der trotz allem relativ guten wirtschaftlichen Grundlage Deutschlands wieder abzahlen zu können.

Wahrscheinlich ist aber, dass das aktuelle Konjunkturprogramm der Bundesregierung nicht ausreichen wird und sie weitere Staatsschulden in Milliardenhöhe aufnehmen muss. Diese werden wiederum als Begründung dienen, zukünftig umso stärker bei Sozialleistungen und Ausgaben für öffentliche Infrastruktur zu sparen. Außerdem werden sie den Druck zur Ausbeutung halbkolonialer und kolonialer Länder erhöhen. Denn die Alternative – das Antasten der großen Privat- und Unternehmensvermögen, um öffentliche Ausgaben zu decken – kommt für den bürgerlichen Staat nur unter Zwang in Frage.

Vor einer ungewissen Zukunft

Hinzu kommt: All dies spielt sich vor dem Hintergrund wachsender geopolitischer Spannungen und den globalen Auswirkungen der Wirtschaftskrise ab. Es ist völlig unklar, ob sich die Weltwirtschaft mit all den globalen Spannungen vor allem zwischen USA und China wieder vollständig erholen kann und ein Stadium erreicht wird, indem der deutsche Staat in der Lage sein wird, die Schulden wieder abzubauen. Vielleicht wird Deutschland gestärkt aus der Krise hervorgehen – das ist auf jeden Fall Angela Merkels Wette in ihrem Pakt mit Emmanuel Macron. Ebenso könnte die EU aber auch an den Folgen der Krise auseinanderbrechen, was erst recht unabsehbare Folgen nach sich ziehen würde. In beiden Fällen – Stabilisierung oder Zerfall der EU unter deutscher Führung – würde das Kapital der einzelnen Staaten jedoch versuchen, die Kosten auf die Arbeiter*innenklasse abzuwälzen. Eine Perspektive, die nur durch den organisierten Widerstand der Lohnabhängigen verhindert werden kann.

Während noch offen ist, wie sich China in dieser Krise entwickeln wird, können wir bereits feststellen, dass die USA geschwächt daraus hervorgehen. Nicht bloß die hohe Arbeitslosigkeit und die hohen Opferzahlen der Pandemie in den USA, sondern auch die Proteste nach dem Polizeimord an George Floyd zeigen auf, dass die USA in einer tiefen organischen Krise stecken.

Eine zentrale Frage für das deutsche Kapital ist die Zukunft der Europäischen Union, wie Juan Chingo analysiert:

In der gegenwärtigen Krise, die Europa als Ganzes betrifft, muss Deutschland ein schwieriges Gleichgewicht aufrechterhalten: Einerseits muss es die Verteilung der Liquidität innerhalb der Union, insbesondere in Richtung Süden, erleichtern, um den Binnenmarkt zu retten. Denn dieser ist das Instrument, das Deutschland erlaubt, so viel zu exportieren. Gleichzeitig muss Deutschland die Verteilung der Schulden so gering wie möglich halten, um seine Rolle als Garant der letzten Instanz zu wahren. Merkels Wende versucht, auf diese schwierige Gleichung zu reagieren. Aus diesem Grund hat Merkel trotz des Lobes der französischen Presse für Macron als Urheber des Abkommens erneut bestätigt, dass Deutschland dank seiner einzigartigen Fähigkeit Geschäfte abzuschließen, aufgrund seiner Größe, seiner geografischen Lage, seines wirtschaftlichen Erfolgs und seines starken allgemeinen Konsenses zugunsten der EU in Europa, an der Spitze der EU steht. Die viel gepriesene Wiederbelebung der deutsch-französischen Achse dient nur dazu, die wachsende Dominanz Deutschlands in der EU mit Pariser Akzenten zu verschleiern. Zusammen mit diesem globaleren Element stellt die Aussicht auf den Zusammenbruch der norditalienischen Industrie (Mechanik, Chemie, Pharmazie), die in die deutschen Wertschöpfungsketten integriert ist, eine Gefahr für die große deutsche Industrieproduktion dar, angefangen bei der Automobilindustrie.

Das Konjunkturpaket ist vor diesem Hintergrund nicht viel mehr als ein Pflaster angesichts der klaffenden Wunde der kommenden Weltwirtschaftskrise und der sozialen und politischen Verwerfungen, die diese produzieren wird.

Fest steht hingegen eines: Welche Auswirkungen die ungewisse Zukunft der Weltwirtschaft auf die Arbeiter*innen, die Jugend, die Migrant*innen und die Frauen in Deutschland und weltweit haben wird, wird von der Entwicklung des Klassenkampfes abhängen. Nur durch den Kampf für ein eigenständiges politisches Programm der Arbeiter*innen kann verhindert werden, dass die Ausgebeuteten die Kosten dieser Krise tragen.

Statt die großen Unternehmen mit Kurzarbeit massiv zu subventionieren, müssten diese gezwungen werden, auch bei geringeren Umsätzen und Arbeitsausfall die vollen Löhne für alle Beschäftigten zu zahlen. Diejenigen Unternehmen, die behaupten, dass dies ihren Bankrott bedeutet, sollen ihre Geschäftsbücher offenlegen. Entlassungen in der Krise müssen verboten werden. Betriebe, die es dennoch versuchen oder gar geschlossen werden sollen, müssen unter Kontrolle der Beschäftigten entschädigungslos enteignet und verstaatlicht werden.

Um den Ruin tausender kleiner Selbständiger und Händler*innen zu verhindern und auch in Kleinstbetrieben Entlassungen abzuwenden, sollten staatliche Hilfsgelder vor allem für diese verwendet werden und nicht zur Unterstützung des Großkapitals.

Um die Bewegung der großen Vermögen kontrollieren zu können und trotz Krise möglichst günstige Konditionen für Arbeiter*innen und kleine Selbständige zu garantieren, müssen die Privatbanken verstaatlicht und zusammengeführt werden. Auch nach der Krise 2008/09 gab es bereits eine Teilverstaatlichung deutscher Banken – aber eben nur mit dem Ziel, die Verluste zu vergesellschaften, wie es mit den „Bad Banks“ geschah. Dagegen wäre eine volle Verstaatlichung ein erster Schritt zur Planung und Steuerung der Wirtschaft im Interesse der Mehrheit.

Doch diese notwendigen Maßnahmen können nur von einer gemeinsamen Bewegung der prekarisierten Jugend und der Arbeiter*innen erkämpft werden. Aus dieser Perspektive sind sowohl die Erfahrungen der „Black Lives Matter“-Revolte in den USA als auch die sich entwickelnden Streiks gegen Schließungen und Massenentlassungen in verschiedenen Ländern – auch in Deutschland – im Kontext der Corona-Pandemie unschätzbare Quellen, aus denen Schlussfolgerungen für einen Ausweg der Arbeiter*innen gezogen werden müssen, damit nicht wir, sondern die Kapitalist*innen für die Krise bezahlen.

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