Wirtschaftskrise und „organische Krise“: Hin zu neuen Verwerfungen der internationalen Situation

25.08.2016, Lesezeit 7 Min.
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Wachsende Elemente einer "organischen Krise" in den zentralen Ländern und die weiterhin langsame Entwicklung der Weltwirtschaft kündigen neue Verwerfungen in der internationalen Situation an.

Die X. Konferenz der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale diskutierte Mitte August in Buenos Aires über die Dynamik der Weltwirtschaft und tiefgründige politische Krisenprozesse weltweit, die nicht mehr nur die peripheren Länder betreffen, sondern auch zentrale imperialistische Mächte wie die USA oder verschiedene Länder Europas.

Die verlängerte kapitalistische Krise seit der Großen Rezession 2008 hat nicht zu einem weltweiten Zusammenbruch geführt, doch sie ist weiterhin nicht gelöst und tritt aktuell in eine neue Phase ein, die das Potenzial zu einer erneuten Zuspitzung der Krise bietet. Nichtsdestotrotz bleiben die dynamischsten Elemente der internationalen Situation weiterhin die neuen politischen Phänomene, die auf der Grundlage der Bedingungen der Wirtschaftskrise entstanden sind.

Diese politischen Phänomene links und rechts finden vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden politischen und sozialen Polarisierung statt, die aktuell besonders stark in den zentralen Ländern hervortritt. Dort äußern sich Elemente dessen, was der italienische Kommunist Antonio Gramsci „organische Krisen“ nannte, die wiederum zu einer erneuten Beschleunigung der Weltwirtschaftskrise führen könnten.

Anzeichen einer „organischen Krise“ in den zentralen Ländern

„Organische Krise“ bedeutete für Gramsci eine strukturelle Krise des gesamten Regimes, welche tiefgründige Widersprüche offenlegt, die die herrschende Klasse nicht durch ihre gewöhnlichen Methoden lösen kann. Dadurch eröffnet sich eine Periode tiefgründiger Infragestellung der herrschenden Ordnung, in dessen Rahmen wichtige Sektoren der Massen mit den traditionellen Repräsentationsstrukturen wie den etablierten Parteien und den herrschenden Institutionen brechen – nach links oder nach rechts.

In Europa zeigt sich die Krise der traditionellen Parteien beispielsweise in dem Niedergang der sozialdemokratischen Parteien in Griechenland, dem Spanischen Staat oder Frankreich, in den USA durch die tiefgründige Krise der republikanischen Partei. Gleichzeitig entstehen neue politische Phänomene wie die sehr reaktionäre Kandidatur von Donald Trump oder der Aufstieg rechtsextremer Parteien in Europa. Auch nach links ergeben sich neue Phänomene wie die Bewegung um die Vorkandidatur von Bernie Sanders. Auf einer strukturellen Ebene zeigte zudem der Triumph des „Brexit“-Votums in Großbritannien den neusten Höhepunkt in der tiefgreifenden Krise des imperialistischen Projekts namens Europäische Union. All diese Aspekte sind keine konjunkturellen Fakten, sondern Ausdruck davon, dass die kapitalistische Krise immer stärker Tendenzen zur organischen Krise in verschiedenen zentralen Ländern entwickelt – zusätzlich zu offenen organischen Krisen in der Peripherie, wie die Beispiele Brasilien und Venezuela zeigen.

Ungelöste Krise im Nahen Osten

Diese Krisentendenzen ergeben sich im Rahmen des fortgesetzten Niedergangs des imperialistischen Führungsanspruchs der USA, die sich in der ungelösten Krise im Nahen Osten manifestiert, besonders im Krieg in Syrien, in welchem sich die zentralen Widersprüche der internationalen Situation konzentrieren. Die blutige Schlacht um Aleppo ist ein Symbol für die Komplexität dieses Konflikts, welcher einen reaktionären Kurs eingeschlagen hat und von den Interessen multipler Akteure abhängt, besonders von der schwelenden Konfrontation zwischen Russland und den USA, die durch lokale Gruppen oder direkt in den Konflikt intervenieren – mit der Ausrede der „Terrorismusbekämpfung“.

Der Krieg in Syrien, der die dramatischste Folge der Niederlage der Prozesse des Arabischen Frühlings ist, hat sich in ein Problem erster Güte für die Regierungen der westlichen Welt verwandelt: Längst hat sich der Konflikt durch die Migrationskrise, die die Europäische Union erschütterte, sowie durch die Welle terroristischer Attentate in Frankreich, Deutschland, Belgien und den USA über den Nahen Osten hinaus ausgedehnt. Diese Ereignisse verändern die politische Landschaft und werden in Ländern wie Frankreich für eine autoritäre Wende genutzt, die auch in Deutschland Fuß fasst. Gleichzeitig nutzen rechtsextreme Parteien sie für eine Stärkung ihrer fremdenfeindlichen und rassistischen Propaganda und Gewalt.

Neue Prozesse des Klassenkampfs

Auch wenn in den zentralen Ländern die Rolle der Arbeiter*innenbewegung in den Krisenprozessen bisher eine untergeordnete Rolle spielt, bringen die Tendenzen zur organischen Krise auch verschärfte Phänomene des Klassenkampfes hervor. Eine Vorankündigung dieser Tendenz ist der heroische Kampf der französischen Arbeiter*innen- und Jugendbewegung gegen die Arbeitsmarktreform der Regierung. Der Kampf gegen das Loi Travail (Arbeitsgesetz) ist der schärfste Ausdruck der Kombination der Symptome geringen Wachstums oder wirtschaftlicher Stagnation und der Polarisierung und politischen Krise in Frankreich. Trotz seiner großen Grenzen ist der Kampf ein Beispiel für kommende Verwerfungen, die neue Prozesse des Klassenkampfes anstoßen werden.

Vor einer erneuten Verschärfung der Wirtschaftskrise?

Die genannten Prozesse finden auf der Grundlage der weiterhin ungelösten Weltwirtschaftskrise statt. Die zentralen Bedingungen dafür, dass die durch den Lehman-Crash ausgelöste Krise nicht zu einer globalen Depression führte, waren das Wachstum Chinas und die expansive Geldpolitik der USA und anderer zentraler Länder.

Diese Maßnahmen konnten aber keine Grundlage für ein stabiles weltweites Wachstum schaffen – im Gegenteil befindet sich die Welt heute potenziell an der Schwelle einer neuen Verschärfung der Krise.

Ein wichtiger Grund dafür ist, dass sich seit etwa 2014 die Rolle Chinas als Puffer für die Krise verändert hat: China ist durch sein verlangsamtes Wachstum nicht länger in der Lage, die massive Kapitalflucht aus den zentralen Ländern aufzusaugen und verwandelt sich immer mehr selbst in einen Kapitalexporteur, der mit den zentralen Ländern um Investitionsmöglichkeiten konkurriert. Insgesamt vereinheitlichen sich die Situationen des langsamen Wachstums in den zentralen Ländern und die Bedingungen des Ende des Zyklus‘ der peripheren Länder, die im ersten Moment der Krise (mit China an der Spitze) eine Gegentendenz zur Rezession bildeten.

Diese zweite Phase der Krise, in die wir eingetreten sind, wirft erneut die begrenzte Fähigkeit der herrschenden Klasse auf, die Krise zu verwalten. Auf dieser Grundlage können sich die genannten politischen Phänomene wie Trump in den USA oder der Brexit entwickeln. Deshalb kann die Krise nicht nur ökonomisch analysiert werden; im Gegenteil eröffnen diese Phänomene als Konsequenzen der Krise seit 2008 auch die Möglichkeit, dass sich neue Krisen nicht nur durch ökonomische Faktoren, sondern auch durch scharfe politische Wendungen entwickeln können.

Neue Verwerfungen auf internationaler Ebene

Die Verschlechterung der Lebensbedingungen von Millionen von Arbeiter*innen in den zentralen Ländern ist die Grundlage für die Verschärfung politischer Polarisierungen und neuer Krisen der Regierungen und Regime.

Synthetisch gesagt definierte die Konferenz, dass wir uns in einer Etappe scharfer Wendungen befinden, in der sowohl bonapartistische Auswege als auch neue Prozesse des Klassenkampfes und der politischen Radikalisierung an der Tagesordnung sind. Das macht die Aktion und Intervention der Revolutionär*innen notwendig, um diese neuen Phänomene entscheidend zu beeinflussen und der Situation einen progressiven Ausweg der Arbeiter*innen zu geben. Falls nicht, werden sich – wie wir im Verlauf des 20. Jahrhunderts gesehen haben – die reaktionärsten Varianten der Bourgeoisie durchsetzen.

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