„Entweder antwortet die Arbeiter*innenklasse oder es gewinnen Le Pen und der IS“

23.07.2016, Lesezeit 6 Min.
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#internationalistcamp: Juan Chingo, Redaktionsmitglied von Révolution Permanente, sprach auf der Podiumsveranstaltung zum Thema „Klassenkampf in Frankreich“. Dort spielt sich eine dramatische, gleichzeitig jedoch vielversprechende Situation ab.

„Die Besonderheit von Frankreich ist, dass verschiedene Formen des Widerstands, die sich in Europa bisher nur isoliert voneinander entwickelten, zusammenkamen. Der Kampf der Jugendlichen, der Schüler*innen und vor allem der Arbeiter*innenklasse verbanden sich. Viele strategische Sektoren wie die Raffinerien, die Häfen und die Müllhalden wurden bestreikt.“ Mit dieser Definition begann Juan Chingo sein Referat über die Situation in Frankreich und eine Analyse über die möglichen Perspektiven, die sich in den kommenden Monaten ergeben können.

„All diese Sektoren und andere wie die Automobilindustrie, die jedoch nicht als gesamter Industriezweig in den Streik treten konnte, zeigen, was für eine interessante Dynamik sich entwickeln kann.“

Chingo stellte fest, dass die Regierung sehr schwach ist: „Hollande und die französische Bourgeoisie konnten das Wichtigste der Arbeitsmarktreform durchbringen, doch dafür musste die Regierung Zugeständnisse aller Art machen. Diese Manöver sollten den Ruf ‚Tous ensemble, grève générale’ verhindern, der die Kampfperspektive der Avantgarde darstellt.“

„Die Bewegung in Frankreich sticht aus dem europäischen Kontext hervor, der sonst vom Brexit und der Rückkehr zum reaktionären Souveränismus geprägt ist – zumal Syriza in kürzester Zeit vom Linksreformismus zum Neoliberalismus übergewandert ist. In Frankreich ist die Dynamik anders und deshalb ist der Klassenkampf dort nicht nur für Frankreich oder Europa interessant. Im aktuellen Kontext von reaktionären Putschen wie in Lateinamerika oder gescheiterten Putschversuchen wie in der Türkei ist die Situation in Frankreich weltweit ein wichtiges Thema.“

Chingo hob die Tatsache hervor, dass die grundlegenden Sektoren der Gesellschaft – die historische Veränderungen herbeiführen können – wie die Arbeiter*innenklasse und die Jugend, die Protagonist*innen der Bewegung waren. Dadurch entstand eine neue kämpferische und kampfbereite Avantgarde.

„Auch wenn die Reform durchkam, entstand eine bewusste Avantgarde, eine Minderheit im Vergleich zu den Massen, die aber Hunderttausende umfasst, die an einem der längsten sozialen Bewegungen Frankreichs teilnahmen.“

„Trotz der brutalen medialen Hetzkampagne wurde die Bewegung stets von den arbeitenden Massen unterstützt. Im Gegensatz zur Bewegung 2010 gegen die Rentenreform, die besiegt wurde und in einen ‚Anti-Sarcozismus ’ [in Anspielung an den rechten französischen Präsidenten Sarcozy, Anm. d. Ü.] umschlug, besteht jetzt weiterhin eine Avantgarde mit großer Entschlossenheit. Nicht umsonst mussten die Gewerkschaftsdachverbände zu einem Aktionstag nach den Ferien, am 15. September, aufrufen. Sie sahen sich dazu genötigt.“

Angesichts der Möglichkeit, dass die Parti socialiste (Sozialistische Partei, PS) einen Teil ihrer verlorenen sozialen Basis durch eine Wahlkampagne für das „kleinere Übel“ zurückgewinnt, meinte Chingo: „Die Massen haben ihre Erfahrung mit der sozialistischen Regierung gemacht. Der Sektor der sozialen Basis, der dabei mit der PS gebrochen hat, ist schwer mit dem Appell für eine ‚sinnvolle‘ Stimmabgabe zurückzugewinnen.“ Deshalb stellt Chingo die Hypothese einer „Kontinuität der kämpferischen sozialen Bewegungen“ auf.

„Es gibt noch einen weiteren Grund für eine mögliche Kontinuität der Kämpfe: Hollande überbot die Rechte mit seiner Sicherheitspolitik und dem Angriff demokratischer Freiheiten und stellt eine ‚Reaktion auf der ganzen Linie‘ dar. Doch die nächste Regierung wird noch schlimmer werden, noch neoliberaler und rechter.“ Wenn die Rechten harte Angriffe durchführt, können sich neue Klassenkampfprozesse entwickeln.

Ein wichtiges Element der aktuellen politischen Situation in Frankreich sind auch die Attentate des Islamischen Staats (IS). Beim letzten Attentat in Nizza starben mehr als 80 Menschen. Für Chingo nehmen damit die Widersprüche der Regierung zu: „Dieser Angriff fand nach Monaten des Ausnahmezustands statt. Die Leute fangen an, zu denken, dass er sehr effizient gegen Streiks eingesetzt wird, nicht jedoch gegen die Terrorist*innen.“

In Bezug auf die Perspektiven der sozialen Bewegung in Frankreich unterstrich Chingo die Notwendigkeit eines Notprogramms angesichts der aktuellen Situation: „Die Arbeiter*innenklasse und die Schüler*innen müssen eine Antwort auf die Situation geben, die nicht nur defensiv ist, sondern einen echten Ausweg aus dem staatlichen Rassismus, der Islamophobie, der Polizeirepression gegen die Migrant*innen aufzeigt. Sonst wird die extreme Rechte von Marine Le Pen von der sozialen Unzufriedenheit profitieren.“

„Wenn die Arbeiter*innenklasse kein Programm und Forderungen gegen die schwierige Situation in den Banlieus – eine Antwort auf die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Diskriminierung und so weiter – aufstellt, werden der IS und seine Chaostheorie oder ein bonapartistischerer ‚le-penisierter‘ Staat gewinnen.“

„Die Situation ist dramatisch, aber auch vielversprechend. In ihr spiegeln sich die Polizeirepression, die soziale Bewegung und ihre Grenzen wider.“

Chingo ging auf diese wichtigen Grenzen des Kampfes gegen die Arbeitsmarktreform ein: „Es gab nur wenige Tendenzen der Selbstorganisierung und der proletarischen Streikdemokratie. Wenn sich dies nicht ändert, kann die Bürokratie nicht überwunden werden.“

„Die Bewegung war sehr stark, sehr intensiv und sehr lang. Doch sie konnte sich nicht verallgemeinern, die Streiks breiteten sich nicht weiter aus und es gab keinen Generalstreik. Es war kein Mai 1968, auch keine Bewegung wie 2006 gegen das CPE-Gesetz. Eine wichtige Grenze war die Massivität.“

Die komplexe Situation in Frankreich und die großen Widersprüche stellen neue Herausforderungen für antikapitalistische Aktivist*innen. „Wir brauchen ein allgemeines Programm gegen die Widersprüche und Besonderheiten des französischen Kapitalismus, seinen Charakter als Waffenproduzent, seine perversen Verbindungen mit den reaktionärsten Regierungen von Afrika wie zu Ägypten. Unsere Antwort kann sich nicht nur auf die Arbeitsmarktreform beschränken, sondern muss sich gegen die Verfaulung des Kapitalismus richten.“

„Wenn die Arbeiter*innenklasse keine Antwort auf den neoliberalen Angriff gibt, werden der IS und die Reaktion gewinnen. Die Attentate wurden dazu benutzt, den Bonapartismus und reaktionäre Maßnahmen auszuweiten, die nicht gegen IS, sondern die Massenbewegung genutzt werden. Das drückt sich in den massiven Verhaftungen auf den Demonstrationen der letzten Monate aus.“

„Für diese neue Etappe bereiten wir uns vor: Révolution Permanente war ein Sprachrohr des Kampfes. Wir konnten dadurch in die Realität des Klassenkampfes intervenieren und ein Massenmedium etablieren, das von Hunderttausenden gelesen wird. Die Komitees von Révolution Permanente füllten sich mit Aktivist*innen. Die Politik der Revolutionär*innen findet immer mehr Gehör und bestimmte Denkweisen verändern sich. Alles deutet darauf hin, dass wir in der nächsten Periode etwas zu sagen haben werden.“

„In diesem Kontext hat sich die Revolutionär-Kommunistische Strömung (CCR) in der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) im harten Kampf gestählt. Bisher bestand sie nur in nicht-revolutionären Situationen. Doch mit der Veränderung der politischen Situation in Frankreich haben sich die Aufgaben komplett verändert“.

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