Volkstribune und Lenin

29.11.2022, Lesezeit 5 Min.
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Im Kampf gegen das kapitalistische System ist es unzureichend, nur ökonomische Forderungen aufzustellen. Wie kann die Trennung zwischen den ökonomischen und politischen Kampf überwunden werden?

Dieser Artikel ist einen Ausschnitt aus einem Interview aus 2016 mit dem Anführer der argentinischen PTS, der Partei der Sozialistischen Arbeiter*innen, Emilio Albamonte. PTS ist die Schwesterorganisation von Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO), die KlasseGegenKlasse herausgibt.

Lenin spricht in „Was tun?“ vom Syndikalismus (Trade-Unionismus) , sodass die Gewerkschaftssekretär*innen (in den englischen Gewerkschaften) nur für die Lebensumstände der Arbeiter*innen kämpfen, für Arbeitsplätze, für Löhne, usw. All das ist sehr wichtig, aber das große Problem ist, wenn die Arbeiter*innen nur das tun, dann kommen Krisen, Kriege und Revolutionen usw., und die Arbeiter*innen sind schutzlos. Das Wichtigste ist, dass die Arbeit in den Gewerkschaften oder bei den Wahlen dazu dienen muss, das herauszubilden, was Lenin in „Was tun?“ „Volkstribune“ nennt. 

Was sind „Volkstribune“? Der Begriff kommt aus der Französischen Revolution, die ihn wiederum von den Volkstribunen der Römischen Republik übernommen hat. Im Kampf der Plebejer in Rom gab es eine Institution der Tribunen, die gegen alles, was gegen ihre Interessen war, ein Veto einlegen konnte. Sie waren Menschen, die viel weiter dachten als die Gewerkschaftsführer*innen, weil sie versuchten, mit ihrer Politik andere Schichten und Bevölkerungsgruppen zu beeinflussen. 

Als Lenin „Was tun?“ schrieb […] war sein Ziel, dass die Arbeiter*innen nicht nur ein ständisches oder gewerkschaftliches Bewusstsein haben, sondern mit anderen Teilen der Ausgebeuteten und Unterdrückten sprechen und das aufbauen sollten, was Gramsci „Hegemonie“ nennt. Und was ist Hegemonie? Es bedeutet mit Frauen sprechen, mit Jugendlichen sprechen, mit Arbeiter*innen sprechen, die ohne Arbeitsvertrag beschäftigt sind, mit Prekären, mit Leiharbeiter*innen und sie in den Kampf führen. 

Man kann nicht genug betonen, daß das noch nicht Sozialdemokratismus ist, daß das Ideal eines Sozialdemokraten nicht der Sekretär einer Trade-Union, sondern der Volkstribun sein muß, der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen.

Was tun? (1902), W. I. Lenin

Wenn man das nicht erreicht, kommt man nicht weit. Trotzki hat zwei große Lehren für die Arbeit in der Arbeiter*innenbewegung, zum einen heißt es im Übergangsprogramm „Eine richtige Politik in Bezug auf die Gewerkschaften ist eine Grundvoraussetzung für die Zugehörigkeit zur IV. Internationale. Wer den Weg der Massenbewegung weder sucht noch findet, der ist kein Kämpfer, sondern eine Belastung für die Partei“. Wer nicht sieht, dass die Gewerkschaften die hauptsächlichen Kampforgane der Arbeiter*innen sind, ist ein*e närrische*r Sektierer*in. Aber andererseits sind die Gewerkschaften für ihn nur ein bloßes Mittel, um Einfluss auf die Arbeiter*innenklasse zu gewinnen.

Wir sind sehr stolz auf unsere bekannten Genoss*innen, wie Nicolás del Caño oder Myriam Bregman, genauso haben wir eine ganze Generation von Genoss*innen – Arbeiter*innen –, die Volkstribune sind, wie Alejandro Vilca in Jujuy, wie Claudio Dellecarbonara in der U-Bahn, Raúl Godoy bei den Keramikarbeiter*innen – oder der Eisenbahnarbeiter Anasse Kazib aus Frankreich. Und warum sind sie Volkstribune? Weil sie sowohl ihre Genoss*innen in Teilkämpfen anführen, als auch ins Fernsehen gehen und die großen nationalen Probleme mit den Vertreter*innen der Bourgeoisie oder der kleinbürgerlichen Parteien oder mit der Gewerkschaftsbürokratie diskutieren. 

In diesem Sinne sind sie nicht nur Gewerkschaftsführer*innen, obwohl sie das auch sind, sondern sie führen den Anspruch Lenins fort, sich in Volkstribune zu verwandeln. Sie sind nicht die Einzigen, die anführen, es gibt Hunderte von Genoss*innen, die den Gewerkschaftskampf mit der Politik verbinden und Kandidat*innen der Front der Linken und Arbeiter:innen (FIT) waren.

FIT in Argentinien, dem PTS gehört ist eine Koalition von Parteien, die für die Unabhängigkeit des Proletariats kämpfen. Ich kann nur für uns sprechen und erklären, welche Unterschiede in der Strategie uns nicht erlaubt haben, eine gemeinsame Partei zu bilden. Um es bescheiden auszudrücken: Wir versuchen, eine Partei der Volkstribune aufzubauen. Wir versuchen natürlich, eine Partei zu schaffen, in der die Arbeiter*innen an den Gewerkschaftskämpfen, die Frauen am Frauenkampf und die Jugend an den Studierenden- und Bildungskämpfen oder was auch immer teilnehmen. Aber die besten von ihnen werden sich in Anführer*innen oder Volkstribune verwandeln, die den Klassenkampf anführen können, wenn er sich verschärft und die wichtigsten strategischen Probleme aufgeworfen werden.

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