Volkstribun? Jean-Luc Mélenchon: Porträt eines Linksnationalisten

03.04.2017, Lesezeit 10 Min.
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Die weltweite Wirtschaftskrise führte zu einer Suche nach Alternativen zum Neoliberalismus. Auf dieser Suche gibt es viele Fallen, Täuschungen und Sackgassen. Auch die Wahlkampf-Bewegung "La France Insoumise" gehört zu dieser Sorte.

“[…] derzeit sind wir in einer explosiven Situation, die vorrevolutionär ist.”

…sagte der französische Linkspartei-Führer Jean-Luc Mélenchon dem britischen Guardian. Er will es nicht zur Explosion kommen lassen, sondern das alte Frankreich erneuern. Vom Élysée-Palast aus will er seine „Bürgerrevolution“ leiten. Und so weit scheint er gar nicht weg davon.

Infolge des Absturzes der aktuellen Regierungspartei, der sozialdemokratischen Parti Socialiste (PS), landet Mélenchon in den Umfragen inzwischen vor dem PS-Kandidaten Benoit Hamon.

Er steht damit auf Platz vier, hinter der rechtsextremen Marine Le Pen, dem vom deutschen Establishment geliebten wirtschaftsliberalen Emmanuel Macron und dem Kandidaten der traditionellen konservativ-liberalen Republikanischen Partei, François Fillon. Besonders Fillon ist – in Korruptionsskandale verwickelt – ein Symbolträger der Krise des französischen Regimes.

Das Erbe dieses Regimes des bipartisme, also der historischen Zwei-Parteien-Dominanz von PS und Konservativen, soll nach Ansicht der Anhänger*innen Mélénchons ein Politiker antreten … der selbst 35 Jahre lang Teil der PS war und immer noch stolz darauf ist.

Jean-Luc Mélenchon, oder „JLM“, wie sich der 65-Jährige nennen lässt, war sogar von 2000 bis 2002 beigeordneter Minister für Bildungswesen im Kabinett von Lionel Jospin (PS) – in jener Zeit der cohabitation, also der Gleichzeitigkeit einer sozialdemokratischen Regierung unter dem konservativen Präsidenten Jacques Chirac. Damals vertrat Mélenchon den linken Flügel und brach infolge des Referendums über den Vertrag von Lissabon mit der PS, wo er entgegen seiner damaligen Parteiführung für ein Nein warb. Ende 2008 gründete er die Parti de Gauche, die französische Linkspartei, die sich zum allergrößten Teil aus ehemaligen PS-Mitgliedern zusammensetzt. In einer Front de Gauche (Linksfront) brachte er die reformistische Parti Communiste Français (PCF) hinter sich.

In der Neuauflage der Linksfront bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen, der sogenannten Bürgerbewegung „La France Insoumise“ („Unbeugsames Frankreich“) sind neben der PCF noch verschiedene linkssozialdemokratische, reformkommunistische und radikal linke Gruppen brav hinter Mélenchon eingereiht (wie der rechte Flügel der mandelistischen „Vierten Internationale“ oder die kleine Schwesterorganisation der deutschen SAV). Die Bühne allerdings gehört ganz „JLM“, der eine große Show aufzieht und schonmal als Hologramm vor Tausenden auftritt. Er schwärmt mit einer radikalen Sprache von der Gründung einer neuen bürgerlichen „Sechsten Republik“ nach einer “Revolution durch Wahlen”. Er wirbt für ein sozialdemokratisches Programm: die Idee eines von einem starken sozialen Staat dominierten Kapitalismus. Mit dieser klassischen Erzählung vom Wunder durch Reform begeistert JLM viele Menschen soweit, dass sie ihn in den Umfragen nun an die vierte Stelle gebracht haben. Und damit näher heran an einen der beiden Plätze für die Stichwahl.

Mélenchon – der Kandidat der Linken?

Auch deshalb reißt die Kritik seitens der Mélenchon-Anhänger*innen nicht ab, die antikapitalistische Kandidatur des Ford-Arbeiters Philippe Poutou gefälligst abzubrechen und alle linken Kräfte hinter dem Star JLM zu sammeln. Neben wirrem Personenkult gibt es die Argumentation von Mélenchon als „kleinerem Übel“ im Vergleich zum liberalen Banker Emmanuel Macron und sowieso zur rechtsextremen Millionärin Marine Le Pen. Manche sagen auch, mit dem ehemaligen Minister komme eine linke Perspektive zur großartigen Geltung und deshalb sei nun die Einheit der Linken geboten, um diese linke Perspektive stark zu machen.

Doch in diesem Sinne wäre eine Stimme für Jean-Luc Mélenchon wirklich eine Verschwendung. JLM war früher und ist heute ein Sozialchauvinist. Der linke Kandidat setzt wirtschaftspolitisch auf einen protektionistischen Kurs, indem er “mehr in Frankreich produzieren” lassen will. Im Gegensatz zu Philippe Poutou pflegt er keinen Internationalismus und denunziert auch nicht die imperialistischen Kriege wie z.B. in Zentralafrika oder Libyen. Der Arbeiter*innenkandidat Poutou bringt es treffend auf den Punkt:

Wir denunzieren alle imperialistischen Kriege und kritisieren alle Waffenexporte. Mélenchon positioniert sich anders. Er unterstützt Putin. Für ihn gibt es nur Frankreich, Frankreich, Frankreich. Wir aber sind Internationalist*innen und wissen, dass es nicht nur Franzosen und Französinnen gibt. Wir wissen, dass es auf der einen Seite die Besitzenden und auf der anderen die gibt, die die Krise zahlen.

Exemplarisch wird sein Nationalismus, seine strikte Verteidigung des französischen Staates, hinsichtlich des derzeitigen Aufstands in Guayana: “Guayana ist Frankreich! Sein Leiden und seine Wut müssen gehört werden!” Guayana ist aber nicht Frankreich, sondern eine Kolonie, die wiederholt brutal unterdrückt wird. Es ist eine Lüge, dieses Land bloß als “Departement” (wie es in offiziell-rassistischer Lesart des französischen Staates heißt) zu bezeichnen und damit einhergehend das Recht auf Selbstbestimmung zu leugnen.

Auch in Hinblick auf die Europäische Union ist die Kritik des großen Linken ernsthaft, dass Frankreich nicht “unabhängig” genug sei: ”Das Vaterland braucht Unabhängigkeit. Es ist nicht chauvinistisch, dies zu sagen. Es ist verantwortungsvoll.” Frankreich, eine imperialistische Besatzungsmacht, zweitgrößter Player in der EU, sei nicht “unabhängig” genug. Ein Staat, der seine Armee in über ein Dutzend weiteren Ländern stationiert hat; ein Staat, der in diesen besetzten Gebieten mordet und plündert; ein Staat, der in seinem Inneren seit den Anschlägen einen permanenten Ausnahmezustand aufrecht erhält (unterstützt von der Linksfront) und der Migrant*innen tötet – einem solchen Staat fehle also an Souveränität?!

Die soziale VI. Republik

Was für jede*n Marxist*in die Arbeiter*innenklasse ist, ist für Mélenchon das (Staats-)Volk. Es verwundert nicht, dass er eine “Volksherrschaft” fordert und mit einer weiteren Verfassungsreform die derzeitige Fünfte Republik überwinden möchte. Eine neue Republik – aber keine soziale Revolution.

Die Bewegung La France Insoumise vereint auch nicht wenige Gewerkschafter*innen. Mélenchons Programm steht dabei auf der Basis des Sozialchauvinismus, da er den Wirtschaftsstandort Frankreich aufbessern und die französische Arbeiter*innenklasse gegen Geflüchtete und internationale Arbeiter*innen ausspielen will. “Die Migrant*innen nehmen den französischen Arbeiter*innen das Brot weg”, ist ein markanter Satz von ihm zur Geflüchtetenkrise. In einer Zeit, in der Arbeiter*innen mit und ohne Papiere gemeinsam kämpfen müssen, spielt der selbstherrliche Kandidat beide Sektoren gegeneinander aus.

Mélenchon mag vielleicht der bekannteste Gegner der Verfassung der Fünften Republik sein, aber seine Anbetung an den französischen Staat, an die französische raison d’etat (Staatsraison), ist über jeden Zweifel erhaben. Auch auf seiner Großdemonstration mit 100.000 Menschen von der Bastille zur Place de la République waren die Trikolore-Fahnen übermächtig, es wirkte wie eine nationalistische Mobilisierung: Jean-Luc Mélenchon und seine Unterstützer*innen baden in einem blau-weiß-roten Fahnenmeer.

Diese Sechste Republik soll allerdings voller sozialer Maßnahmen sein. Erhöhung des Mindestlohns, kostenlose Gesundheitsversorgung, Begrenzung der Einkommen auf 33.000 Euro im Monat und und und. Jean-Luc Mélenchon entwirft die Vision eines geretteten Frankreich mit sich selbst als Bonaparte, der das „unbeugsame“ Volk ins Glück führt. Wie realistisch dieser radikale Bonapartismus von JLM aber ist, für den seine Unterstützer*innen (auf der radikalen Linken natürlich mit Verbesserungsvorschlägen) mit aller Kraft trommeln, ist fragwürdig.

Pseudo-Bonaparte Mélenchon würde im Falle des Falles – trotz all der Macht, die dem französischen Präsidenten zur Verfügung steht – sofort ein System der Verhandlung etablieren. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament drängten dann zur einer cohabitation, welche die „friedliche Bürgerrevolution“ zur „Sechsten Republik“, wenn schon nicht friedlich sterben, dann zu einer gut verhandelten Show werden ließen.

Eine Beziehung der cohabitation hätte die Sechste Republik auch mit den EU-Partnern: JLM will die EU-Verträge neu verhandeln. Eine Formel, die sowohl „Souveränist*innen“ wie „Pro-Europäer*innen“ für seine Präsidentschaft mobilisieren soll. Alles jedenfalls zeigt: „La France Insoumise“ bedeutet ein imperialistisches Frankreich, das sich auch den Lebensinteressen der internationalen Arbeiter*innenklasse nicht beugt. Es bedeutet ein Frankreich, in dem Präsident JLM im Namen „der politischen Linken“ die bürgerlich-kapitalistische Regierung ernennt, mit den anderen Räuberstaaten in der EU Deals macht und versucht, durch die anhaltende Weltwirtschaftskrise zu manövrieren. Jean-Luc Mélenchon wird im schlimmsten Fall reaktionären Kräften wertvolle Aufbauhilfe leisten. Im besten Fall predigt er den Arbeiter*innen den Glauben an die „Grande Nation“, an eine „Revolution durch Wahlen“ und an einen neuen sozialen Bonaparte.

Zwei Welten: Mélenchon und Poutou/Arthaud

Mélenchon begeistert dabei viele sozialistische Grüppchen weniger durch seine Rhetorik, als mehr durch die großen „Bürgerversammlungen“ mit teilweise über zehntausend Zuschauer*innen. Es ist ein eingeübtes Verhalten von vielen zentristischen Aktivist*innen, ganz betrunken zu sein von linken politischen Erscheinungen, die viele Menschen um sich scharen. Zwar haben deren Programme nicht viel mit ihren eigenen politischen Ideen zu tun. Aber der brennende Wunsch, Teil einer Bewegung zu sein, wird hier zum großen Traum, im Gefolge von Reformer*innen des Kapitalismus ihre revolutionären Ideen in diese Massen transportieren zu können. So arbeiten einige selbsterklärte Revolutionär*innen für eine noch stärkere Präsenz Mélenchons – in der Hoffnung, in dessen Rücken selbst etwas Rampenlicht abzubekommen.

Dabei treten bei den Präsidentschaftswahlen neben den neun bürgerlich-kapitalistischen Kandidat*innen auch zwei Kandidat*innen für eine unabhängige Politik der Arbeiter*innen an: Nathalie Arthaud, Sprecherin der Organisation „Lutte Ouvrière“ (LO), und Philippe Poutou, Arbeiterkandidat der „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (NPA). Sie stehen für eine andere Welt als das (egal wie regulierte) Frankreich der Banken und Konzerne. Sie werben offen für marxistische, revolutionäre Ideen. Sie stellen der bürgerlichen Demokratie der sozialen Ungleichheit eine Arbeiter*innen-Demokratie gegenüber, die aus dem Kampf gegen die sozialen Missstände entsteht. Mélenchon umgibt sich mit dem Hauch eines Volkstribuns – aber er gehört zur aristokratischen Welt des imperialistischen Frankreichs. Er hat nichts zu schaffen mit der Welt der Arbeiter*innen, die Nathalie Arthaud und Philippe Poutou repräsentieren. Das wissen auch die marxistischen „Insoumises“ (JLM‘s „Unbeugsame“), die uns drängen, den linken der „fünf großen Kandidat*innen“ zu unterstützen, der mit den anderen Vieren im Fernsehen diskutiert, während unser Genosse Philippe Poutou mit seinen Kolleg*innen gegen Entlassungen in seinem Betrieb kämpft.

Manche mögen es nicht sofort verstehen, warum wir nicht daran denken, im blau-weiß-roten Fahnenmeer zu baden. Ebenso wenig, warum wir auch allen Kolleg*innen und Genoss*innen dringend raten, sich aus dem Kielwasser des falschen Heilsbringers Mélenchon fernzuhalten. Denn es ist für die Arbeiter*innenklasse notwendig, einen eigenen Kurs zu setzen. Aus diesem Grund hat die Kandidatur des Ford-Arbeiters Philippe Poutou (mit einem antikapitalistischen Programm der Mobilisierung und Selbstorganisierung und der internationalistischen Einheit der Arbeiter*innen und Unterdrückten im Kampf) für uns tausendmal mehr Größe und Gewicht, als die Megashow von „JLM“. Unter Mélenchon in seine nationale „Bürgerrevolution“ oder mit Arbeiterkandidat Philippe Poutou zum Aufbau einer selbstständigen Arbeiter*innenbewegung? Die Antwort sollte allen Linken klar sein.

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