Ein Hauch von Frankreich: Hunderttausende Beschäftigte von Bahn und TVÖD im Streik

27.03.2023, Lesezeit 6 Min.
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Foto: klassegegenklasse.org

Nichts ging am Montag in vielen Bundesländern im Nahverkehr und der Fernverkehr wurde gleich vollkommen eingestellt. Der Mega-Streiktag ist zwar vorbei, doch er zeigt auch: Die Krise zwingt die Gewerkschaftsführungen zu stärkeren Mobilisierungen.

Hunderttausende Streikende im Öffentlichen Dienst und bei der Bahn haben heute weite Teile des Landes lahmgelegt. Egal ob Busse, Bahnen oder auch Flughäfen: Die Gewerkschaften haben heute eindrucksvoll ihre Macht demonstriert. In dutzenden Städten in Deutschland kam es heute zu Demonstrationen. In Potsdam mobilisierte ver.di bundesweit direkt zu den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst.

Diese dauern offiziell noch bis Mittwoch an. Teile der EVG waren ebenfalls in Solidarität mit den Beschäftigten des TVöD bei dieser Demonstration. Die EVG bestreikte ihrerseits laut eigenen Angaben rund 1000 Standorte in ganz Deutschland – über 35.000 Bahner:innen beteiligten sich an diesem Streiktag. In München bekamen die Kolleg:innen dabei auch Unterstützung aus der Klimabewegung.

Hetze gegen den Streik

Angesichts des Streiktags blieb natürlich auch die Hetze gegen den Streikenden nicht aus. Der Chef des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW) Markus Jerger bezeichnete die Streiks als “Geiselhaft”. Die Deutsche Bahn wurde selbst natürlich nicht müde zu behaupten, dass die EVG den Konflikt auf dem Rücken der Reisenden austragen würde. Angesichts ihres Nicht-Angebots von letzter Woche, das für viele Beschäftigte nicht einmal einen Stundenlohn in Höhe des Mindestlohns von 12 Euro bedeutet hätte, ist das natürlich besonders dreist.

Der FDP-Verkehrsminister Volker Wissing forderte sogar kurzerhand die Länder auf, das LKW-Fahrverbot am Sonntag nicht zu kontrollieren. Obwohl für angestellte LKW-Fahrer:innen ohnehin das Verbot von Sonntagsarbeit gilt, was dann entsprechend auch nicht kontrolliert wurde. Angeblich wäre es sonst zu Engpässen bei der Versorgung gekommen. Gesagt, getan, dachten sich viele Bundesländer und haben die Kontrollen tatsächlich ausgesetzt – unter anderem auch in Mecklenburg-Vorpommern, wo seit 2021 SPD und Linke gemeinsam regieren. Dabei war diese Maßnahme nichts anderes als ein Geschenk für viele Logistikunternehmen, denen das Sonntagsfahrverbot ohnehin schon immer ein Dorn im Auge ist – auf Kosten der Beschäftigten, die am Sonntag dann fahren mussten.

Doch trotz der Hetze vorher blieb am Montag weitgehend alles ruhig. Die Berliner “Bild-Zeitung” B.Z. titelte sogar direkt “Mau-Streik statt Mega-Streik”. Wo vorher gehetzt wurde, wird der Streik jetzt kleingeredet. Die relativ lange Vorankündigung von ver.di und der EVG hat dazu sicherlich einen Teil beigetragen. Unternehmen und Einzelpersonen konnten sich darauf einstellen, Home Office machen oder Tickets kostenfrei auf andere Tage umbuchen. Dennoch war es einer der größten Streiks der letzten 30 Jahre in Deutschland. Dass die Deutsche Bahn den Fernverkehr vollständig einstellen musste, ist beispiellos.

Verständnis für die Streikenden

Insgesamt war das Verständnis in der Bevölkerung für diesen Streik vergleichsweise hoch. Selbst bei einer Umfrage der Bild-Zeitung, die sonst eher für gewerkschaftsfeindliche Hetze bekannt ist, sagten bei 80.000 Teilnehmer:innen rund 40 Prozent, dass sie Verständnis für die Streikenden hätten. Auch wer heute durch Berlin gefahren ist, hat größtenteils in entspannte Gesichter geschaut. Auch wenn die U-Bahnen, Busse und Straßenbahnen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), die heute nicht im Streik waren, natürlich voller als gewöhnlich waren.

Dass das Verständnis so groß ist, hängt auch mit der Krise und besonders der Inflation zusammen, die den überwiegenden Teil der Bevölkerung treffen. Zusätzlich muss man sich vergegenwärtigen: Die Forderungen der EVG – unter anderem 650 € Lohnerhöhung als Festbetrag – klingen sehr hoch. Aber die unteren Lohngruppen verdienen nicht einmal den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von zwölf Euro. Das sogenannte Angebot der Deutschen Bahn hätte daran auch nichts geändert. Statt der geforderten zwölf Monate Laufzeit, hat die Bahn 27 Monate vorgeschlagen, um nur zwei Dreistigkeiten zu benennen. Bahn-Chef Richard Lutz kann sich dieses Jahr hingegen sogar über weitere zehn Prozent mehr Gehalt freuen. Bei einem bisherigen Grundgehalt von 900.000 Euro sind das satte 90.000 Euro mehr.

Für weitere Streiks von ver.di und EVG

Trotz dieses beeindruckenden Streiktags ist die EVG-Führung direkt auf die Bremse getreten. Über die Osterfeiertage seien keine Warnstreiks geplant und man würde wirklich gerne zurück an den Verhandlungstisch. Auch wenn weitere Warnstreiks bis dahin nicht ausgeschlossen wurden, gibt es keine konkrete Ankündigung. Und das obwohl die gewaltige Machtdemonstration heute vor allem durch die Verbindung mit den Streiks im öffentlichen Dienst zustande kam. Diese Verbindung muss weiter ausgebaut werden. Besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Verhandlungen im öffentlichen Dienst in Potsdam, die noch bis Mittwoch gehen, ist es dringend notwendig, gemeinsame Strukturen der Koordinierung von Beschäftigten der EVG und ver.di aufzubauen, die das weitere Vorgehen in den Tarifverhandlungen diskutieren und auf Versammlungen von Beschäftigten demokratisch darüber abstimmen, wie weiter gemeinsam gestreikt werden kann.

Dabei wäre es beispielsweise ein starkes Zeichen an alle Streikenden und auch an Beschäftigte in anderen Sektoren, wenn die EVG und ver.di es eben nicht nur bei einem symbolischen gemeinsamen Streiktag belassen, sondern gemeinsam den Erzwingungsstreik vorbereiten und keine Abschlüsse annehmen, bevor nicht alle Forderungen bei der Bahn UND im Öffentlichen Dienst erfüllt sind. Doch das wird nur möglich sein, wenn sich die Kolleg:innen selbst organisieren, auf Versammlungen demokratisch, verbindliche Beschlüsse treffen und ihre Gewerkschaftsführungen so unter Druck setzen. Die Streikversammlungen der Berliner Kliniken sind dabei ein wichtiges Beispiel, wie solche Strukturen aussehen können. Ein guter Schritt könnte sein, beispielsweise bei der nächsten Streikversammlung auch Kolleg:innen der EVG und Lehrer:innen, die aktuell in Berlin auch immer wieder streiken, einzuladen und Resolutionen über weitere gemeinsame Streiktage einzubringen, darüber zu diskutieren, wie man sich gegen eine mögliche Schlichtung im Öffentlichen Dienst wehren kann und wie weitere koordinierte Streiks realisiert werden können.

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