Bombe in Istanbul: Terrorisiert das türkische Regime seine eigene Bevölkerung?

15.11.2022, Lesezeit 6 Min.
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Quelle: ANF News

Am Sonntag ereignete sich in Istanbul ein Bombenattentat. Die türkische Regierung beschuldigt die PKK, die den Anschlag entschieden ablehnt und verurteilt. Der Ablauf der Ereignisse wirft Fragen auf, ob die türkische Regierung involviert war.

Am Sonntag, dem 13.11. um 16:20 Uhr explodierte in der Einkaufsstraße Istiklal in Istanbul eine Bombe. Nach Angaben der türkischen Regierung wurden sechs Menschen getötet und 81 weitere verletzt. Obwohl sich noch niemand zu der Tat bekannt hat, hat die türkische Regierung schon einen Schuldigen präsentiert: die PKK.

Zusammen mit der Meldung, dass die kurdische Befreiungsorganisation PKK hinter dem Anschlag stecke, wurde eine angebliche Täterin präsentiert, die schwer misshandelt als Sündenbock herhalten muss. Auffällig ist, dass sie in Rekordzeit – innerhalb weniger Stunden – gefunden und festgenommen werden konnte, und in ihren Aussagen angeblich nicht nur behauptet, im Auftrag der PKK gehandelt zu haben, sondern ganz gezielt aus Rojava geschickt worden sei.

Demgegenüber bestreitet die PKK, für den Anschlag verantwortlich zu sein. In einer Stellungnahme heißt es, dass die PKK militärische Handlungen verurteilt, die sich direkt gegen Zivilist:innen richten. Dies entspricht auch seit mehr als zehn Jahren der Linie der PKK und ist deshalb auch als glaubwürdig einzuschätzen. Zumal die PKK keinerlei Interesse hätte, in der aktuellen Lage vor den Wahlen, die Position der Regierung durch erstarkenden Nationalismus und Verstärkung des Repressionsregimes politisch zu stärken.

Seit dem Anschlag werden in türkischen Medien, die weitgehend von Kapitalist:innen kontrolliert werden, die dem Erdogan-Regime nahe stehen, eine systematische Kampagne gegen Kurd:innen und kurdische Politiker:innen geführt. Die ultranationalistische und faschistische Partei MHP fordert erneut, dass die parlamentarische linke und pro-kurdische Partei HDP verboten wird.

Das Attentat am Sonntag ist nicht das erste, das Zweifel an der offiziellen Version der türkischen Behörden aufwirft. 2015 wurde im von der Türkei besetzten nordkurdischen Suruç ein Massaker verübt, als eine Delegation der Föderation sozialistischer Jugendvereine, die sich aufmachen wollte, um beim Wiederaufbau Kobanês zu helfen, von einem Selbstmordattentäter attackiert wurde. 32 Aktivist:innen kamen zu Tode, über 100 weitere wurden verletzt. Da während der Versammlung entgegen üblicher Vorgehensweise keine Polizei anwesend war, und die vom Anschlag ausgelöste Verschärfung des Konfliktes in Kurdistan im Interesse der AKP-Regierung lag, deren anti kurdische Hetze wesentlich für ihren Wahlerfolg im November 2015 war, ist es common sense bei den Linken in der Türkei, die türkische Regierung in den damaligen Anschlag involviert zu sehen.

Ähnliches wird auch aktuell vermutet, da ein Anschlag und damit eine äußere Bedrohung gerade Recht für das AKP-Regime kommen. Die heutige Meldung, dass Mehmet Emin İlhan, Lokalpolitiker der MHP (Koalitionspartnerin der AKP), am Tag des Anschlags Kontakt mit der Attentäterin hatte und deshalb von der Polizei vernommen wurde, gibt der Theorie, dass das türkische Regime in den Anschlag involviert sein könnte, weiteren Auftrieb. Im aktuellen Wahltrend fehlen der AKP 10 Prozent im Vergleich zur letzten Wahl 2018 und es gibt weitläufige Spekulationen, dass ein Wahlbündnis um die kemalistische CHP die nächsten Wahlen gewinnen könnte. Die allgemeine Wirtschaftskrise trifft die Türkei besonders hart, mit Inflationsraten wie beispielsweise 70 Prozent im Frühjahr. Eines der Mittel Erdoğans und der AKP, um trotzdem die Kontrolle zu behalten, ist Demagogie gegen Kurd:innen und der fortgesetzte Krieg gegen die von PYD und PKK kontrollierten kurdischen Gebiete in Syrien und dem Irak. Seit Beginn dieses Jahres vergeht kein Monat ohne Luftschläge und Drohnenangriffe, und selbst vor dem Einsatz von Chemiewaffen und mutmaßlich taktischen Atomwaffen schreckt das türkische Regime nicht zurück, um mit außenpolitischen Erfolgen die türkische Bevölkerung für sich zu gewinnen.

Während international weitestgehend ignoriert wird, dass ein NATO-Land einen unfassbar brutalen Krieg führt, bekommt die kurdische Befreiungsbewegung im Rahmen der Proteste im Iran, in denen die kurdische Parole “Jin – Jiyan – Azadi” (Frauen – Leben – Freiheit!) einen der zentralen inhaltlichen Ausdrücke der Bewegung darstellt, immer mehr Aufmerksamkeit.  Ein Anschlag auf Zivilist:innen in der größten türkischen Stadt ist deshalb nicht nur ein gutes Mittel, um die Bevölkerung in einer Bedrohungssituation auf Regimelinie einzupeitschen, sondern auch Faustpfand für Erdoğan auf seiner Reise zum G20-Gipfel in Indonesien ab dem 15. November, um dort international weitere Repressionen gegen die kurdische Bewegung einzufordern und seinen Krieg international zu rechtfertigen. Angesichts dieser Situation wird berechtigterweise vermutet, dass das türkische Regime selbst den Anschlag inszeniert haben könnte, um ihn der PKK in die Schuhe zu schieben. 

Mit Deutschland als einem der wichtigsten Waffenlieferanten der Türkei fällt uns eine besondere Verantwortung zu, international gegen das türkische Regime zu kämpfen. Wir müssen auf die Straße gehen, und gegen Waffenexporte in die Türkei einstehen und einen Stopp von Waffenexporten explizit in die Kämpfe der Kolleg:innen in der Logistik und der Metallindustrie mit einbeziehen. Nur die politische Aktion der Arbeiter:innenklasse kann dem deutschen Imperialismus Einhalt gebieten. Aber auch in der Türkei ist der Kampf der Arbeiter:innenklasse vonnöten. Selbst wenn die CHP die Wahlen gegen Erdoğan und die AKP gewinnen sollte, heißt das nicht, dass darauf eine weniger chauvinistische Politik folgt. Die blutigen Wurzeln des Kemalismus und die Äußerungen führender CHP-Politiker, wie ihres Vorsitzenden, dem allein das Wort “Kurdistan” schon unangenehm sei, lassen nicht darauf hoffen. Stattdessen muss auch in der Türkei die organisierte Arbeiter:innenklasse mit Streiks und Blockaden das Regime erschüttern und schlussendlich zu Fall bringen.

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