Mitten in Corona-Krise: Ekelhafte Zustände im Berliner ÖPNV

07.04.2020, Lesezeit 7 Min.
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Während deutschlandweit Sicherheitsvorkehrungen nach dem Infektionsschutzgesetz durchgesetzt werden, liefern die Berliner Verkehrsbetriebe ihre Mitarbeiter und ihre Fahrgäste dem Virus schutzlos aus.

Bild: Kim Pollin

Ein Blick in unseren Stamm-Supermarkt: die Kasse wurde zum Bankschalter hochgerüstet – der Kassierer sitzt hinter einem dicken, hohen Schutzglas und reicht mir durch eine kleine Öffnung das Kartenterminal. Vor den Pommesbuden wird in großzügigem Sicherheitsabstand zueinander gewartet. Die Regeln des Infektionsschutzgesetzes und des gesunden Menschenverstands scheinen sich im öffentlichen Raum weitgehend etabliert zu haben. Doch ausgerechnet der öffentliche Nahverkehr ist davon ausgenommen.

Ekelhaft und gefährlich: Berliner Nahverkehr in Corona-Zeiten

Bahnhof Treptower Park: es ist gar nicht so leicht, den Abstand zu anderen Wartenden zu wahren, immerhin stehe ich an der frischen Luft. Es ist kurz vor 18 Uhr, die Leute möchten nach Hause. Noch 10 Minuten wird es dauern, bis sie sich endlich in die engen Waggons bewegen können. Als die Bahn endlich einfährt, finde ich, ganz im Sinne des “Social Distancing” zwar ein leeres Sitzabteil – neue Nachbarn lassen aber nicht lange auf sich warten. Viele tragen Mundschutz, versuchen einander so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Und nicht einmal mit dem Raum selbst möchte man in Kontakt kommen: der Boden ist sehr fleckig, an den Wänden sind Tags. Ist das wirklich die Art, auf die wir uns in Zeiten der Corona-Krise durch den öffentlichen Raum bewegen sollten?

Mein Heimweg geht weiter, über den U-Bahnhof Herrmannstraße. Ein moderner, durchgehend begehbarer Zug fährt ein, um hier, an einem Endbahnhof, auf Passagiere, Reinigung und Abfahrt zu warten. Die Passagiere steigen ein, die Reinigungskräfte nicht. In alltäglichen Zeiten würden sie jetzt mit einem Besen zwischen den Reihen patrouillieren, die Zigarettenstummel, die Taschentücher und das Supermarktprospekt auf dem Boden beseitigen. Jetzt, in Corona-Zeiten, hätte ich eine mit Desinfektionsmitteln bewaffnete Person in Schutzmaske und Handschuhen erwartet.

Am 9. März wurde veröffentlicht, dass der neuartige Corona-Virus mehrere Tage auf verschiedenen Oberflächen überleben kann. Stehend, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, starre ich während der Fahrt gebrauchte Taschentücher auf den Sitzen an.

Ich steige um in die U7, Menschen mit Mundschutz lehnen hier an beschmierten Wänden. Beschmierte Wände im Waggon? In der Tat, der Wagen ist voll mit Tags, wie schon in der S-Bahn.

Genug gesehen, den Rest zu Fuß! Die Straßen Berlins sind auffällig leer. In einer Umfrage gaben letztens 48% der Befragten an, Menschenansammlungen zu meiden. Wer es jetzt vermeiden kann, den Nahverkehr zu nutzen, tut es auch. Die anderen müssen zur Arbeit, wo sie oft ebenfalls einem unnötigen Infektionsrisiko ausgesetzt werden. Oder zum Arzt, weil sie sich ohnehin schon krank fühlen. Diese Menschen sind auf die BVG angewiesen, und das öffentlich-rechtliche Unternehmen steckt sie in ungepflegte, verdreckte Fahrzeuge.

Die Antwort der BVG auf die Corona-Krise: Fahrplankürzungen statt Raum für Social Distancing

Man könnte den Eindruck gewinnen, die BVG hätte die Corona-Krise verschlafen. Ganz treffend wäre dieser Vorwurf nicht: Man hat durchaus Maßnahmen eingeleitet, allerdings dienen sie eher der Sparpolitik des Unternehmens als der Sicherheit der Fahrgäste.

Laut einem Bericht der Berliner Zeitung wurden Bus- und Tramlinien eingestellt. Der U-Bahnverkehr ausgedünnt, unter anderem auf viel frequentierten Strecken. Gerechtfertigt wird dies mit der niedrigen Fahrgastzahl. Was auf den ersten Blick schlüssig klingt, entpuppt sich als undurchdacht, was im Artikel zitierte Passagiere bestätigen. Ein Fahrgast aus Spandau beschreibt zum Beispiel, wie er sich morgens um 5:30 in einen vollen Bus quetschen musste: Es war “so eng, das sich die Türen kaum noch schließen konnten”. Obwohl die BVG doppelstöckige Fahrzeuge besitzt, kam ein einstöckiges Fahrzeug auf der stark genutzten Linie zum Einsatz.

Ver.di-Führung ruft den Burgfrieden aus

Und die Gewerkschaft? Anstatt genau jetzt angemessene Löhne, Sicherheit und Schutz für die Beschäftigten – und auch Schutz für die Fahrgäste – zu fordern, setzt die ver.di-Führung unter Jeremy Arndt, der für die BVG zuständig ist, die Tarifverhandlungen aus und ruft nach Solidarität mit den Bossen. Auf der Webseite des Fachbereichs Verkehr heißt es:

Angesichts der dramatischen Entwicklung der Corona-Pandemie wird die Tarifkampagne #tvn2020 in Abstimmung mit den Tarifkommissionen vorerst ausgesetzt. Wir halten die Uhr an, denn für uns steht jetzt an erster Stelle, in dieser Krise mit einmaligem Ausmaß verantwortungsvoll zusammen zu stehen und Gesundheit und Einkommen zu sichern.

Diese Politik erinnert an den Burgfrieden der Sozialdemokratie im Kaiserreich. In einer großen Krise müsse die Nation zusammenhalten, während die Beschäftigten gefährdet werden und kapitalistische Konzerne sich bereichern.

Dabei kämpfen Arbeiter*innen seit Jahren gegen das Outsourcing im öffentlichen Dienst, nicht nur gegen ihre eigenen schlechten Arbeitsbedingungen und zu niedrigen Löhne, sondern auch, damit die Betroffenen – Fahrgäste, Patient*innen, Studierende, … – nicht darunter Leiden, dass die Systeme durch den Profitzwang ausgehöhlt werden und in Zeiten der Krise vollkommen zusammenbrechen.

Auch an der Alice-Salomon-Hochschule – die sich in der Öffentlichkeit damit profiliert, eine besonders soziale und verantwortungsvolle Hochschule zu sein – ist die Reinigung outgesourct. Es gibt Löhne, die nicht zum Leben reichen, befristete Verträge, regelmäßig tauscht das beauftragte Unternehmen die Standorte der Beschäftigten aus, damit diese isoliert bleiben.

Diese Beispiele zeigen, dass es gerade jetzt noch viel mehr als sonst notwendig ist, nicht die Füße still zu halten.

Wir lassen uns nicht gefährden!

Die BVG geht offensichtlich fahrlässig mit ihrer Funktion als öffentliche Einrichtung um. Viele Supermärkte kennzeichnen den Schlangenbereich mit Abstandslinien und begrenzen die Anzahl an Kunden im Markt. An den Bahnsteigen Berlins herrscht währenddessen das gewohnte Durcheinander. Obwohl es deutlich weniger Fahrgäste gibt, sind die Waggons verdreckter als sonst.

In den Berliner Verkehrsbetrieben wird die Reinigung meist von outgesourcten Firmen übernommen: Beschäftigte stehen unter befristeten Verträgen kleiner Subunternehmer und haben nur wenig Möglichkeiten, sich zu organisieren, um sich zum Beispiel gegen gesundheitliche Gefahren im Betrieb zu wehren.

Vor ein paar Tagen habe ich ein Interview mit einer Busfahrerin aus Paris übersetzt. Sie berichtet von untragbaren hygienischen Zuständen in den Bussen, von Reinigungspersonal ohne Desinfektionsmittel und Kollegen ohne Mundschutz. Nadia spricht offen aus, dass die RATP die Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen und ihrer Fahrgäste im Profitstreben aufs Spiel setzt, und appelliert an die Beschäftigten, die Kontrolle über die Lage selbst in die Hand zu nehmen.

Auch hier in Deutschland dürfen wir nicht zulassen, dass unsere Sicherheit den Profitinteressen der ÖPNV-Betreiber*innen untergeordnet wird! Wir müssen nicht nur die outgesourcten Beschäftigten bei möglichen Arbeitskämpfen unterstützen, sondern auch öffentlichen Druck auf die BVG aufbauen.

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