Lasst uns über die DDR sprechen – aber ehrlich

09.11.2019, Lesezeit 6 Min.
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Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls schallt es über alle Kanäle: "Der Unrechtsstaat ist gefallen." Im Triumphgeheul der BRD bleibt eine ernste historische Einordnung auf der Strecke. Was bedeutete der entstellte Sozialismus der DDR wirklich?

Frühjahr 1945: Während die Schlacht um Berlin noch läuft, übernehmen lokale antifaschistische Ausschüsse in vielen Orten einfache Verwaltungsaufgaben. Sie verteilen Lebensmittel und Wohnraum, sammeln Waffen ein oder halten Nazi-Funktionäre fest. Doch bald nach dem Krieg lässt die sowjetische Militäradministration die Komitees auflösen und in die entstehende bürokratische Verwaltungsstruktur überführen.

Weltweit war der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg in Misskredit geraten. Breite Massen forderten den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, selbst die CDU musste angesichts des Drucks der Massen 1945 in ihre Leitsätze einen „wirtschaftlichen Sozialismus auf demokratischer Grundlage“ aufnehmen.

Für Stalin war die aufkeimende rätedemokratische Organisierung jedoch eine Gefahr, die sowohl im Widerspruch zu seiner eigenen bürokratischen Kontrolle stand, als auch das Bündnis mit den Westalliierten in Frage stellte. Für ihn waren die neuen Satellitenstaaten in Osteuropa lediglich ein Puffer gegenüber dem Westen. Für Deutschland schwebte ihm zunächst keine sozialistische Umgestaltung vor, sondern eine kapitalistische Demokratie. Jedoch machten ihm der Druck der Massen von unten sowie die vom Westen aufgezwungene Teilung mit Währungsreform und Staatsgründung einen Strich durch die Rechnung.

Die Verstaatlichung der Produktionsmittel in den Ostblockstaaten und in der Sowjetischen Besatzungszone dienten dem Ziel, eine solche Pufferzone aufzubauen und zugleich die Massen zu kontrollieren, indem diese Verstaatlichung bürokratisch, von oben, durchgeführt wurde. 1945 wurde in der Sowjetischen Besatzungszone eine Bodenreform durchgeführt, bei der die Großgrundbesitzer*innen enteignet wurden. Es folgten die Verstaatlichung der Versorgungsbetriebe wie Wasser-, Gas und Elektrizitätswerke sowie der Schlüsselindustrien. Diese für jede sozialistische Umwälzung notwendigen Maßnahmen wurden ohne demokratische Mitbestimmung umgesetzt.

Heute mögen bürgerliche Kommentator*innen die Enteignungen in einer Reihe mit Stasi und Mauerbau als „Unrecht“ bezeichnen. Direkt nach dem Krieg jedoch stand die Stimmung in der breiten Bevölkerung deutlich gegen die Wiederherstellung der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Als in der britisch-amerikanischen Besatzungszone die Preiskontrollen aufgehoben wurden und die Preise stark anzogen, führte dies 1948 zum Generalstreik: 9 Millionen Beschäftigte legten ihre Arbeit nieder, der Streik wurde jedoch von den Gewerkschaftsbürokratien im Westen verraten und erfuhr von der stalinistischen Bürokratie im Osten keinerlei Unterstützung. Um einem Konflikt mit den Westmächten aus dem Weg zu gehen, ließ die Sowjetunion die Wiedereinführung der Marktwirtschaft im Westen zu und akzeptierte damit die deutsche Teilung. Dabei hätte sie nicht einmal eine direkte Auseinandersetzung eingehen müssen. Die KPD im Westen hätte für die Umsetzung der Streikforderungen mobilisieren und so die Perspektive eines sozialistischen Deutschlands aufwerfen können.

Stattdessen beschränkte sich die DDR darauf, einen Rumpf-Sozialismus in einem Land aufzubauen. Mit der Verstaatlichung von Industrie und Boden hatte sie zwar wichtige Schritte unternommen, die aber ohne die politische Macht der Arbeiter*innen unvollständig bleiben mussten und auf ein Land beschränkt eine Mangelverwaltung bedeuteten. Doch obwohl die Planwirtschaft von Anfang an bürokratisch deformiert war, konnte sie in den ersten Jahren der DDR bedeutende Erfolge erzielen: Während der Westen mit den Milliarden des Marshall-Plans wiederaufgebaut wurde, hatte die Sowjetunion in ihrer Besatzungszone viele Produktionsanlagen als Kriegsreparationen demontiert. Die Planwirtschaft in der DDR baute binnen weniger Jahre jedoch eine funktionierende Volkswirtschaft auf.

Zudem gab es in der DDR einige bedeutende Fortschritte, die bis heute in der BRD nicht erreicht sind: Wohnungen und Arbeit für alle, eine umfassende und kostenlose Kinderbetreuung und weiterreichende Frauenrechte: Ab 1971 legale Abtreibung in den ersten drei Monaten, kostenlose Verhütungsmittel und gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Diese Errungenschaften ermöglichten den Massen in der DDR stabile Lebensverhältnisse, jedoch ohne große Perspektive auf Veränderungen und politische Teilhabe. Nach anfänglichen Erfolgen stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung in den 1970er Jahren, da unter der bürokratischen Verwaltung die Eigeninitiative der Beschäftigten abgewürgt wurde. Dies war letztlich der Grund, weshalb die sozialistischen Staaten nicht mehr mit dem Kapitalismus Schritt halten konnten und Ende der 1980er Jahre zerfielen.

Doch schon zuvor machte sich die bürokratische Umklammerung der Arbeiter*innenklasse in der DDR voll bemerkbar. Der von oben diktierte Plan sah die Produktion für den Export vor, um mit den Devisen den „Sozialismus in einem Land“ aufzubauen. Im Juni 1953 wurde die Erhöhung der Arbeitsnormen dekretiert, wogegen die Beschäftigten massenhaft auf die Straße gingen. Der Aufstand am 17. Juni 1953 wurde blutig niedergeschlagen, der Wille der Bürokratie gegen die Massen durchgesetzt.

Die Mangelwirtschaft und die Kontrolle aller Lebensbereiche verwehrten den Massen die Perspektive des sozialen Aufstiegs, die sie im Westen der Nachkriegsjahre beobachten konnten. Viele wanderten in den Westen ab und so reagierte die Staatspartei SED 1961 mit dem Mauerbau – euphemistische als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet – ein Eingeständnis, dass der „Sozialismus in einem Land“ gescheitert war und nur durch Zwang aufrecht erhalten werden konnte.

Mauer und Stasi sind wohl die dunkelsten Kapitel in der Geschichte der DDR. Die Bevölkerung wurde massenhaft ausgespäht, besonders scharf von der Repression betroffen waren „Republikflüchtige“, aber auch rebellische Jugendliche und linke Oppositionelle. Es soll nicht beschönigt werden: Das Leben in der DDR war beengt und von ständiger Vorsicht geprägt. In einer solchen Gesellschaft konnte sich der Sozialismus nicht voll entfalten, der sich, wie Leo Trotzki schrieb, „im Unterschied zum Kapitalismus […] nicht automatisch [entwickelt], sondern […] mit Bewußtsein aufgebaut“ wird. Der stalinistischen Bürokratie ist zu verdanken, dass die DDR nicht als Vorposten des Sozialismus diente, sondern von den kapitalistischen Staaten als abschreckendes Beispiel genutzt werden konnte.

Was ist also die Bilanz der DDR? Als Arbeiter*innenstaat muss sie sich fragen lassen, welche Stellung sie der Arbeiter*innenklasse sowohl im nationalen Rahmen als auch für den internationalen Klassenkampf verschafft hat. Die DDR hat zum ersten Mal in einem Teil Zentraleuropas das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben und hätte damit die besten Voraussetzungen gehabt, um die westliche Arbeiter*innenklasse zu unterstützen. Doch lieber verschanzte sich die Bürokratie hinter ihrer eigenen Mauer – sich sehr wohl bewusst, dass die Macht der Arbeiter*innen nicht nur den Kapitalismus in der BRD, sondern auch sie selbst hinwegfegen könnte. Unfreiwillig gibt die DDR damit den folgenden Generationen eine wichtige Lehre: Einen Sozialismus in einem Land kann es nicht geben – die Revolution muss international ausgeweitet werden.

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