Aus den Archiven des Marxismus: Die deutsche Linke und der Bolschewismus

Was unterschied Rosa Luxemburg von Lenin? Einen bemerkenswerten Beitrag zu dieser alten Debatte lieferte 1939 der Trotzkist Walter Held.
Einleitung
Kaum eine historische Debatte beschäftigt die sozialistische Linke wie die über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Rosa Luxemburg und W.I. Lenin. Die bürgerliche Ideologie der reformistischen Linken unterscheidet gern zwischen dem „Diktator“ Lenin und der „Demokratin“ Luxemburg. Wie wir an anderer Stelle dargelegt haben, ist der Versuch, Luxemburg zu einer Pazifistin, zu einer „demokratischen Sozialistin“, zu einer Gegnerin der Russischen Revolution zu machen, nichts als Verleumdung.
Doch es gab wichtige strategische und theoretische Unterschiede zwischen den zwei unsterblichen Revolutionär:innen. Ihre jeweiligen Konzepte wurden auch in proletarischen Revolutionen auf die Probe gestellt – so müssen sie auch von Marxist:innen beurteilt werden. In diesem Sinn veröffentlichen wir dieses Essay von Walter Held, das zum 20. Jahrestag der deutschen Novemberrevolution am 9. November 1938 verfasst wurde. Der Text erschien im Februar 1939 in Unser Wort, der Exilzeitung der deutschen Trotzkist:innen, die in Antwerpen herausgegeben wurde. Eine englische Übersetzung erschien gleichzeitig in New International in New York.
Der Autor, Walter Held, wurde 1910 als Heinz Epe geboren. 1932 wurde er aus der Kommunistischen Partei Deutschlands ausgeschlossen, und er wurde Teil der Linken Opposition. Nach der Machtübergabe an die Nazis ging Held ins Exil – er landete schließlich in Norwegen – und wurde zu einer führenden Figur der trotzkistischen Exilorganisation. Er vertrat auch die trotzkistische Jugend im Internationalen Büro revolutionärer Jugendorganisationen in Oslo, wo er neben Willy Brandt als Vertreter der Jugend der Sozialistischen Arbeiterpartei saß.
Dieser Artikel war eine Antwort auf einen Artikel von Max Shachtman in der Zeitschrift New International. Ob Shachtman jemals antwortete, wie er in einem Notiz unter diesem Artikel in New International ankündigte, ist nicht klar. Die Debatte ging weiter mit einem Beitrag von Held, „Once Again Lenin and Luxemburg“, der auf einen Artikel in der Presse der dänischen Sektion der Vierten Internationale antwortete. Zwei Jahre später hatte Walter Held eine deutlich andere Vision der deutschen Revolution entwickelt, und er verteidigte das Erbe Paul Levis in dem Artikel „Why the German Revolution Failed“. Auf Helds Text antwortete der Sekretär der Vierten Internationale, Jean Van Heijenoort, mit dem Artikel „The German Revolution in the Leninist Period“.
Held konnte diese Debatte nicht mehr verfolgen. Nach der deutschen Besetzung Norwegens floh er nach Schweden und machte den waghalsigen Versuch, über die Sowjetunion in die USA zu fliehen. Vom sowjetischen Geheimdienst erkannt, wurde Held verhaftet, verhört – er war schließlich ein enger Mitarbeiter Trotzkis gewesen – und 1942 erschossen. Helds Gedanken bleiben interessant für Marxist:innen heute. Wir haben den Text so belassen, wie er in Unser Wort erschien. Es ist interessant, dass Held das Wort “katastrofal” nutzt – das entspricht nicht der damaligen deutschen Rechtschreibung, aber wohl der norwegischen.
— Nathaniel Flakin
Walter Held: Die deutsche Linke und der Bolschewismus
Das geistige Leben in der Sowjetunion bestand unter der ganzen Herrschaft der Epigonen ausschliesslich im Kampf gegen den «Trotzkismus», bis es an dieser Kost schliesslich krepiert ist und heute nichts anderes als eisige Grabesluft aus Stalins Reich zu uns herüberströmt. Im Kampf gegen Trotzki, der im Zeichen der Kanonisierung Lenins und des Bolschewismus, wie Stalin ihn verstand, geführt wurde, stiess man auch auf den störenden Schatten Rosa Luxemburgs. Und auf den Ukas des grobschlächtigen Banausen und Analfabeten, dem die wenig ehrerbietige Geschichte durch einen ihrer kuriosen dialektischen Bocksprünge das Erbe eines der genialsten wissenschaftlichen Geister aller Zeiten anvertraut hatte, stürzte sich eine Meute kleiner Kläffer über den ihnen vorgeworfenen Kadaver der grossen Revolutionärin. Zu jener Zeit war es selbstverständliche Pflicht eines jeden marxistischen Publizisten, der seine Aufgabe ernst nimmt, schützend vor das Andenken der grossen proletarischen Führerin zu treten und ihre progressiven Seiten, ihre unsterblichen Verdienste nach Gebühr hervorzuheben. Im Gegensatz zu den von Stalin ausgehaltenen Bürschchen besass Rosa Luxemburg in hervorragendem Grade die Eigenschaften, die einen wirklichen revolutionären Führer auszeichnen: wissenschaftlichen Ernst bei der Behandlung jeder Frage, selbstloses Aufgehen in der Sache, Selbstdisziplin und beispielhaften Mut.
Wird jedoch heute von Neuem die Frage nach dem Inhalt der Differenzen zwischen Lenin und Rosa Luxemburg gestellt — und sie muss von neuem gestellt werden, insofern diese Frage die Lösung der Gegenwartsaufgaben betrifft — können wir uns nicht mit einer einfachen Verbeugung vor dem Andenken Rosa Luxemburgs zufrieden geben. Ausserdem hiesse es heute das Andenken Rosas schänden, statt es zu ehren, würden wir die Diskussion über dieses Thema von den stalinistischen Publikationen im geringsten beeinflussen lassen. Anwürfe von dieser Seite können Rosa Luxemburg nichts anhaben. Als ideologische Strömung ist der Stalinismus tot. Er steht nicht als Ankläger, sondern als Angeklagter vor der Geschichte.
Andererseits gibt es heute zahlreiche Strömungen. die der bolschewistischen Konzeption sozusagen eine Luxemburgische Konzeption gegenüberstellen. Diese Herrschaften sehen in Stalins totaler Polizeidiktatur und den Moskauer Prozessen das direkte Resultat des Leninschen «Zentralismus» und leiten daraus ab, dass Rosa Luxemburg in ihrer Polemik gegen Lenins angebliche Ueberschätzung der zentralisierten Führung recht behalten habe. Diese auf den ersten Blick bestechende Argumentation übersieht jedoch. dass, wenn man Lenin für Stalin verantwortlich machen will, es mindestens ebenso berechtigt ist, Rosa Luxemburg die Verantwortung für die Herrschaft… Hitlers aufzubürden. Und tatsächlich liegt in beiden Behauptungen ein Körnchen Wahrheit, nur ein Körnchen, aber eben dieses Körnchen gilt es zu entdecken.
Genosse Max Shachtman hat in einem ausserordentlich interessanten Artikel zu diesem Thema («Lenin and Rosa Luxemburg», «The New International», Mai 1938) versucht, die Differenzen zwischen Lenin und Luxemburg aus der historischen Verschiedenartigkeit der russischen und deutschen Zustände zu erklären. Nun ist selbstverständlich eine solche Untersuchung des objektiven Hintergrundes der Divergenzen zu ihrem Verständnis durchaus notwendig, jedoch kann und darf die Untersuchung dabei nicht stehen bleiben; denn sonst droht uns die Gefahr, in Austromarxismus zu verfallen, d.h. in einen Marxismus. der sich darauf beschränkt, mit Hilfe der marxistischen Methode (einer Karrikatur der marxistischen Methode) nachzuweisen, dass alles so gekommen ist, wie es kommen musste. und der auf diese Weise die Verantwortung des subjektiven Faktors aus der Geschichte eliminiert. In Wirklichkeit wissen wir jedoch alle. dass die bisherige revolutionäre Arbeiterbewegung nicht an der objektiven Lage als solcher, sondern an ihrer subjektiven Bewältigung gescheitert ist, Wollen wir also die Krise der Arbeiterbewegung überwinden, so müssen wir schonungslos die letzten Ursachen dieses subjektiven Versagens blosslegen und das Fazit dieser so teuer bezahlten historischen Erfahrungen zum unveräusserlichen theoretischen Kapital der vierten Internationale machen.
Zur Verteidigung des Luxemburgischen «Anti-Bolschewismus» weist Genosse Shachtman mit Recht darauf hin, dass ja auch Lenin sich in der Einschätzung der Fraktionen der ch deutschen Sozialdemokratie geirrt habe. Lenins grosser Irrtum bestand darin, dass er seinen organisatorischen, literarischen, strategischen und taktischen Plan nur auf Russland anwandte und nur innerhalb der russischen Bewegung mit letzter Konsequenz verfolgte, ja dass er den Bolschewismus als die Vertretung der Richtung Bebels und Kautskys auf russischen Boden betrachtete. So gross war Lenins Vertrauen zu Kautsky, dass er der 1910 auftauchenden Divergenz zwischen Kautsky und der deutschen Linken keine Beachtung schenkte und so eine denkbar günstige Gelegenheit versäumte, dem Bolschewismus eine feste Stütze in Deutschland zu schaffen, den bolschewistischen Plan international zu erweitern. Und letzten Endes ist dieser Irrtum, dieses Versäumnis, diese ausschliesslich nationale Anwendung des seinem Wesen nach internationalen bolschewistischen Plans, die tiefste Ursache für die Isolierung der russischen Revolution und damit für den Stalinschen Thermidor und bevorstehenden Untergang der Sowjetunion. Oder mit anderen Worten: Die genialen Leninschen Schriften: «Was tun?» und «Ein Schritt vorwärts, zwei Schritt zurück» aus den ersten Jahren dieses Jahrhunderts haben keineswegs spezifisch-russische — wie auch Gen. Shachtman anzunehmen scheint — sondern internationale Bedeutung. Die in diesen Büchern entwickelten Ideen über das Verhältnis von Spontaneität zu bewusstem Plan, über Rolle, organisatorischen Aufbau und Aufgaben der revolutionären Partei und deren Verhältnis zum Proletariat und den übrigen Klassen der Gesellschaft, das Verhältnis von marxistischer Wissenschaft und Arbeiterbewegung, alle diese Ideen haben nichts spezifisch-russisches. In seiner drei Jahre nach dem Sieg der Oktoberrevolution erschienenen Schrift: «Die Kinderkrankheiten des Kommunismus» versuchte dann auch Lenin, die bolschewistische Konzeption von 1903 den westeuropäischen Arbeitern zugänglich und verständlich zu machen. Die Frage, weshalb dieser Versuch misslang, wäre in Verbindung mit dem unglückseligen Märzabenteuer der deutschen Kornmenistischen Partei neu zu stellen, und wir behalten uns dies für einen späteren Aufsatz vor. Hier kommt es nur auf folgendes an: wer die «Kinderkrankheiten» aufmerksam studiert und mit den Frühschriften Lenins vergleicht, wird hier dieselben Ideen und dieselbe Konzeption wiederfinden, wenn auch in stark popularisierter Form. Damit wäre aber doch die Ansicht widerlegt, Lenin habe seine Ideen von 1903 nicht als «Exportware» betrachtet. Im Jahre 1903 dachte Lenin nur deshalb an keinen Export, weil er sich vorstellte, er importiere die in dem «fortschrittlichen» Deutschland längst zu unausgesprochenen Selbstverständlichkeiten gewordenenen [sic] Ideen Kautskys und Bebels nach dem «rückständigen» Russland, um ihnen gegen die revisionistischen, opportunistischen und zentristischen Strömungen der Martynow und Martow Geltung zu verschaffen. während es sich in Wirklichkeit darum gehandelt hätte, die bolschewistische Konzeption, das Programm von «Was tun?». der gesamten Theorie und Praxis der Zweiten Internationale sowohl Bernsteinscher wie Kautkyscher [sic] und Luxemburgischer Richtung gegenüberzustellen.
Nun wäre es jedoch falsch, wollte man den gewaltigen qualitativen Unterschied in den historischen Irrtümern Lenins und Rosa Luxemburgs verkennen. Während es Lenin gelang, die erste wirklich marxistische Partei zu schaffen, die das russische Proletariat auf die Höhen der Macht führte und dadurch dem Weltproletariat einen ungeheuren Antrieb und ein gewaltiges Mass neuer Gesichtspunkte, Erfahrungen und Lehren mitteilte, während Lenins Konzeption von 1903 im planmässig geführten Oktoberaufstand ihre höchste Bestätigung fand. erlitt die Konzeption Rosas im Januar 1919 furchtbaren Schiffbruch, bescherte uns die deutsche Linke neben einer Reihe bewundernswerter Charaktere und Märtyrer für die Sache nur die bittere Lehre einer neuen Niederlage.
Im Grunde konzentriert sich der verhängnisvolle Irrtum Rosa Luxemburgs in der Frage der Rolle der Partei in der Definition der Sozialdemokratie «als der eigenen Bewegung der Arbeiterklasse». die sie der glänzenden Leninschen Definition vorn revolutionären Sozialdemokraten als den mit der Arbeiterklasse verbundenen Jakobiner gegenüberstellt. «Die Sozialdemokratie als die eigene Bewegung der Arbeiterklassen» kann nie etwas anderes sein als ein in die politische Sphäre übertragener Tradeunionismus. Eine solche Sozialdemokratie wird niemals die bürgerliche Gesellschaft aus den Angeln heben, sie wird entweder vergeblich gegen die soliden Mauern des bürgerlichen Staates anrennen oder freiwillig sich dessen Gegebenheiten unterwerfen. Die proletarische Klasse als Gesamtheit ist unter den Verhältnissen des Kapitalismus nicht imstande, sich zu einer solchen Höhe dles Bewusstsein zu erheben, dass sie der Bourgeoisie auf allen Gebieten überlegen entgegentreten, die bürgerliche Autorität vernichten und durch die proletarische Autorität ersetzen kann. Der Kapitalismus wäre nicht Unterdrückung, Ausbeutung und Sklaverei, wenn dem nicht so wäre. Eben deshalb kommt darauf an, aus mit der Arbeiterklasse eng verbundenen Spezialisten eine fest disziplinierte Organisation zu schaffen, die mit Hilfe des marxistischen die Rüstzeugs die bürgerliche Autorität zunächst in der Theorie und dann In der praktischen Wirklichkeit vernichtet und die «Eigenbewegung» der Arbeiterklasse über die ihr gesetzten Grenzen hinausführt.
Nun hatte Rosa Luxemburg vor Lenin voraus, dass sie die deutsche Partei mehr aus der Nahe betrachtete. Sie erkannte deshalb schon 1904 deren konservaviten Charakter. Sie sieht, dass die Partei in Traditionen festgefahren ist, sich weigert, neue Problemstellungen aufzuwerfen, hinter den Massen herhinkt. Und welche Schlüsse zieht sie daraus? «Die bewusste Initiative der Parteileitungen bei der Gestaltung der Taktik spielt nur eine geringe Rolle». «Die Kampftaktik der Sozialdemokratie […] ist das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe grosser schöpferischen Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes». «Das Unbewusste geht vor dem Bewussten. die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger». «Das einzige Subjekt dem jetzt die Rolle des Lenkers zugefallen, ist das Massen-lch der Arbeiterklasse». Kurz, in ihrer Verzweiflung über die konservative Trägheit des sozialdemokratischen Apparats in Deutschland schuf Rosa Luxemburg das, was Lenin mit vollem Recht als den «nicht ernst zu nehmenden Unsinn von der Organisation und der Taktik als Prozess» charakterisierte, wobei er allerdings übersah, wie wir bereits ‚hervorhoben, dass Rosa mit ihrer Charakteristik der deutschen Partei völlig im Rechte war. Aber auch hier beging Rosa den gröberen Fehler. Sie trennte die Form vom Inhalt, sie bekämpfte den Zentralismus als solchen, statt dem Zentralismus der Opportunisten denjenigen der revolutionären Marxisten gegenüberzustellen. Auf diese Weise wurde Rosa, trotzdem sie auf den internationalen Kongressen in den meisten politischen Fragen mit dem Bolschewismus übereinstimmte, in die gleiche Position gedrängt, zu der der Menschewismus vor der Leninschen Intransigenz seine Zuflucht nahm. Und die Geschichte bereitet beiden das gleiche Schicksal, entscheidet jedesmal auf ihre Art für den «Zentralismus»: während die Bolschewiki die Menschewiki aus den Sowjets vertreiben, gelingt es Noske, Spartakus aus dem Zimmer der deutschen Revolution hinauszuwerfen und die Tür hinter ihm zuzuschlagen.
Der Mangel an letzter Konsequenz begleitet Rosa durch ihr ganzes politisches Leben, während Lenin gerade wegen der Rücksichtslosigkeit, mit der er eine einmal erkannte Notwendigkeit zur Ausführung brachte, imstande war. seine historische Mission zu vollbringen. In ihrer 1899 verfassten Schrift «Sozialreform oder Sozialrevolution», die für immer eine Perle in der marxistischen polemischen Literatur verbleiben wird, forderte Rosa Luxemburg mit Recht den Ausschluss der Bernsteinianer aus der Partei. In der zweiten Auflage dieser Schrift, die 1908 erschien, liess sie alle diesbezüglichen Stellen fort. Der Bernsteinianismus hatte sich wie Pilz ins Fleisch der deutschen Partei hineingefressen, das Fleisch war verdorben. Aber welche neue Konsequenz zog Rosa? Gar keine. Sie droht den verknöcherten Instanzen: die Massen werden euch schon mores lehren! Aber wenn die Massen aus eigener Initiative die Irrtümer der Partei korrigieren werden, weshalb dann 1899 den Ausschluss Bernsteins fordern? Im Jahre 1910 durchschaut Rosa das pedantische Offizösentum Kautskys und attackiert ihn scharf in einer Reihe von Artikeln. Doch wieder zieht sie nicht die letzte Konsequenz aus ihrer Erkenntnis. Zwar stellt sie ihre Sonntagsbesuche bel Kautskys ein und legt so neues Zeugnis ab für ihren makellosen und vorbildlichen Charakter, doch politisch fehlt es ihr an dem gleichen Mass von Entschlossenheit. Wenn die Partei vom Bernsteinianismus verseucht und selbst das «marxistische Zentrum» der «Neuen Zeit» in der Routine der «seit 40 Jahren bewährten Taktik» festgefahren war, so galt es offenbar, das marxistische Banner neu und sichtbar aufzupflanzen, wobei die formale Frage eine mindere Rolle spielte, ob man sich gleich als neue Partei konstituierte oder als fest disziplinierte Fraktion noch innerhalb der Sozialdemokratie verblieb. Jedenfalls aber war es nötig, dem Reformismus und Zentrismus der Sozialdemokratie in jeder einzelnen Frage und permanent entgegenzutreten, ihn aus der Wirklichkeit zu verdrängen, statt sich von ihm verdrängen zu lassen. Diese Aufgabe hat die deutsche Linke sich nie klar gestellt, noch viel weniger besass sie einen festen Plan zu ihrer Lösung.
Man weiss, dass Lenin die Nummer des «Vorwärts», die den Bericht über die Abstimmung der deutschen Sozialdemokratie im Reichstag brachte, zuerst für eine hohenzollernsche Fälschung hielt. Dies ist nicht verwunderlich und in Uebereinstimmung mit seiner früheren Haltung, d.h. mit seinen Illusionen in bezug auf Kautsky und das deutsche Zentrum. Aber Rosa, die den opportunistischen Charakter der deutschen Partei schon 10 Jahre vorher durchschaut hatte, die vor allem auf dem Jenaer Parteitag von 1913 die schlimmsten Enttäuschungen erleben musste, wie verhielt sie sich? Sie bekam einen Weinkrampf auf der Vorwärtsredaktion, glaubte wahnsinnig zu werden, ja sogar der Gedanke an Selbstmord tauchte in ihr auf. Wiederum eine Reaktion, die uns die grösste menschliche Sympathie und Achtung für diese einzigartige Frau abzwingt, aber doch auch die politische Hauptschwäche der deutschen Linken klar zutage treten lässt. Sie hatte die Bernsteinianer und Scheidemänner, die Legiens und selbst die Kautskys und Hilferdinge durchschaut, und trotzdem war sie in Illusionen über die Sozialdemokratie befangen, trotzdem glaubte sie, diese Bernstein-Kautskysche Sozialdemokratie werde einer grossen historischen Prüfung standhalten. In Wirklichkeit hätte die deutsche Linke, wenn sie die letzte Konsequenz aus ihrer Kritik der offiziellen Sozialdemokratie gezogen hätte — und wer in der Politik nicht die letzten Konsequenzen zieht, gerät unfehlbar unter die Räder — auf den 4. August vorbereitet sein, ihn voraussagen und vor ihm warnen müssen. Es ist klar, dass in diesem Fall die Katastrofe des 4. August längst nicht diesen Umfang angenommen, die Reorganisierung der Avantgarde bedeutend leichter vor sich gegangen und der revolutionäre Reifeprozess ganz anders beschleunigt worden wäre, die deutsche Revolution überhaupt einen andern Verlauf genommen hätte. So liess sich selbst Liebknecht vom Beschluss der Reichstagsfraktion überrumpeln und es dauerte Monate, bis sich ein winziges Häuflein: Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Klare Zetkin, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, Paul Levi, von neuem sammelte. Der tiefere Grund für die Illusionen der deutschen Linken in bezug auf die Gesamtsozialdemokratie lag wiederum in ihrem Hauptirrtum begründet, in dem verhängnisvollen Verkennen der Wechselbeziehung zwischen Partei und Masse. Rosa Luxemburg und ihre Freunde hatten damit getröstet, in der grossen historischen Krise würden die Massen die Partei korrigieren und sie mitreissen. Jetzt mussten sie erleben, dass den Massen in dieser Situation nichts übrig blieb, als — wenn auch vielleicht zähneknirschend — den Weisungen der Partei zu folgen.
Doch während Lenin aus dem 4. August sofort mit gewohnter Schärfe die letzte Konsequenz zog: «Die zweite Internationale ist tot, es lebe die dritte!» und jetzt auch in der Internationale alle Keime zu einer bolschewistischen Auffassung der Dinge zu entwickeln sucht (s. z.B. Kritik der Juniusbroschüre), bleibt die deutsche Linke weiterhin in ihrem grundlegenden Irrtum befangen. Die gleichen irrigen Auffassungen, die Rosa Luxemburg 1904 über Rolle und Aufbau der Partei vertrat, kehren in einen Artikel wieder, den sie am 31, März 1917 in dem Duisburger Organ der USPD «Kampf» veröffentliche. «Die Richtung Spartakusbund», heisst es dort, «stellt der Unabhängigen Sozialdemokratie nicht ein anderes Programm und eine in ihren Grundlagen ganz verschiedene Taktik entgegen, die jederzeit und als ständige Einrichtung die Basis für eine gesonderte Parteiexistenz abgeben können (eben darauf wäre es angekommen! W.H.), sondern sie ist nur (l) eine andere historische Tendenz der Gesamtbewegung des Proletariats, aus der sich allerdings ein verschiedenes Verhalten fast in allen Fragen der Taktik und der Organisation ergibt. Die Meinung jedoch, dass daraus die Notwendigkeit oder auch nur die objektive Möglichkeit folgt, die Arbeiter heute in verschiedene sorgfältig getrennte Parteikäfige entsprechend den beiden Richtungen der Opposition einzupferchen, beruht auf einer Konventikelauffassung der Partei.»
Von dem «nicht ernst zu nehmenden Unsinn» von der Organisation als Prozess führt eine gerade Linie zu dieser nicht minder merkwürdigen Philosophie einer Organisation, die zwar der opportunistischen Richtung kein selbständiges Programm und keine in ihren Grundlagen ganz verschiedene Taktik gegenüberstellt, wohl aber eine «andere historische Tendenz» verkörpert. Mit so leichtem ideologischen Gepäck marschierte Spartakus in die deutsche Revolution. Der katastrofale Effekt konnte nicht ausbleiben.
Es kam der 9. November, die «spontane» Volksrevolution, gegen die sich die SPD bis zum letzten Augenblick gestemmt hatte, zu der aber auch weder USP noch Spartakus die Initiative ergriffen hatten. Ebensowenig wie die Februarrevolution in Russland konnte die Novemberrevolution in Deutschland das solide Gebäude des Kapitalismus stürzen, beide konnten nur den monarchistischen Zierat entfernen. Die wirkliche Arbeit begann erst nach dem November. Nun dient es zur Ehre von Spartakus, dass er dies erkannte und es ablehnte, sich am allgemeinen Verbrüderungsdusel zu beteiligen, der auf jede «von unten» organisierte, auf den ersten Wurf siegreiche Volkserhebung zu folgen pflegt und dem im Februar 1917 auch solche «Bolschewiken» wie Stalin verfielen. Doch beging Spartakus den umgekehrten Fehler und nahm den Massen gegenüber eine ultimatistische Haltung ein. Dieselbe Rosa Luxemburg, die in ihrer Kritik der russischen Revolution den Bolschewiki fehlende Demokratie und die Unterdrückung der Sowjetminderheit vorgeworfen hatte, lehnte es ab, sich zusammen mit Sozialdemokraten der Ebertrichtung in den Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte wählen zu lassen. *) Die Massen nahmen das Ultimatum des Spartakusbundes nicht an, und die Folge war ein Vollzugsrat ohne Spartakus. Das weitere Ergebnis war, dass Spartakus nicht den geringsten Einfluss auf die Wahlen zum ersten deutschen Rätekongress bekam und auch auf diesem ohne Vertretung blieb. Liebknecht musste sich auf ohnmächtige Versuche beschränken, den Kongress «von aussen» zu erobern. Diese Ereignisse hätten nun eigentlich genügen müssen, um Spartakus zu zeigen, was seine Aufgabe war, nämlich das Programm Lenins vom April 1917: Geduldig aufklären, die kleine revolutionäre Minderheit vor unüberlegten Schritten zurückhalten, in die Massenorganisationen und alle Klassen der Bevölkerung eindringen, Reformisten und Zentristen entlarven und polemisch vernichten, um schliesslich, im geschichtlich-reifen Augenblick, zum Aufstand zu schreiten. Der Gründungskongress der Kommunistischen Partei, der endlich Ende Dezember stattfindet, beschliesst jedoch, die Linie des Abstentionismus bis zur Absurdität zu treiben, die Wahlen zur Nationalversammlung zu boykottieren, ja die Delegierten diskutieren bereits den Austritt aus den Massengewerkschaften. Und Rosa passiert das Missgeschick, dass sie, die soeben erst die Bolschewiki angeklagt hatte, weil sie auf die Institution der Nationalversammlung nach dem Siege verzichteten, d.h. im Besitze der Macht die Diktatur ausübten, zur Gefangenen einer Partei wird, die vor dem Siege auf die Nationalversammlung verzichtet, die als kleine Minderheit den hoffnungslosen Versuch unternimmt, der gewaltigen Mehrheit ihr Ultimatum aufzuzwingen. Zwar trat sie selbst für Beteiligung an den Wahlen ein und beklagte «die Unreife» des Kongresses, doch erkannte sie nicht, dass hier ihre eigenen desorganisierenden Organisationsprinzipien Schiffbruch erlitten, dass sie auf ihre Art eine utopisch-radikale statt eine marxistische Partei geschaffen hatte. Mit einem stumpfen Messer kann kein Chirurg operieren, mit einer undiziplinierten, utopischen Partei kein Marxist handeln. Und doch wagt es Rosa wiederum nicht, den Bruch mit diesen utopischen Elementen zu vollziehen, wird sie selbst zum Opfer des Organisationsfetischmus, den sie Lenin fälschlich vorgeworfen, geht sie mit einem stumpfen Instrument an den Operationstisch der Geschichte. Möglich ist das nur, weil sie immer noch nicht begriffen hat, dass Gelingen oder Misslingen der Revolution von ihr selbst, von ihrer eigenen Politik abhängt. Und so finden wir denn auch in dem vom gleichen Kongress, der die Ablehnung an den Wahlen beschloss, bezeichnenderweise einstimmig angenommenen Spartakusprogramm die alten Irrtümer wieder. Man lese nur folgende Stellen: «In zähem Ringen mit dem Kapital, Brust an Brust in jedem Betriebe, durch unmittelbaren Druck der Massen, durch Streiks, durch Schaffung ihrer ständigen Vertretungsorgane, können die Arbeiter die Kontrolle über die Produktion und schliesslich die tatsächliche Leitung an sich bringen». «Der Spartakusbund ist keine Partei, die über die Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakusbund ist nur (!) der zielbewussteste Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist.» Es ergibt sich klar, dass Rosa Luxemburg vom Verlauf der proletarischen Revolution ein ganz und gar unzulängliches Bild hatte. Sie stellte sich die proletarische Revolution als eine Art neuer Novemberrevolution vor, als eine Kette von Streiks und Erhebungen, die schliesslich in einen allgemeinen Generalstreik oder auch Volksaufstand münden. Die Rolle der Partei beschränkt sich bei ihr darauf, die Massen zur Aktion zu rufen, dann wird schliesslich die Macht der Partei als reife Frucht in den Schoss fallen, etwa wie die Sozialdemokratie die Früchte der ersten Revolution geerntet hatte. Sie erkannte nicht, dass es die Aufgabe der Partei ist, die Massen zu sammeln und zu disziplinieren wie die Truppen zu einer Schlacht und dass die Führung der Partei gleich einem genialen Feldherren oder Generalstab den strategischen Schlachtplan im Kopfe haben und in die Wirklichkeit umsetzen muss.
Eben das Verkennen dieser Aufgabe der Partei verführte Spartakus zu dem schlimmsten Fehler, den eine revolutionäre Partei überhaupt begehen kann, nämlich mit dem Aufstand zu spielen. Denn nichts anderes als ein völlig planloses, geradezu unbegreiflich-naives Spielen mit dem Feuer des Aufstandes war die Spartakusinsurrektion vom Januar 1919, Die engstirnigen Konterrevolutionäre, hohenzollernschen Feldwebel, stupiden Ordnungsfanatiker und Bluthunde der Bourgeoisie Noske und Ebert stellten Spartakus eine Falle, und Spartakus tappte mit verbundenen Augen in diese Falle, Und so erlitten auch Liebknecht, Luxemburg und Jogiches das typische Schicksal aller deutschen Revolutionäre, das der hervorragend begabte, später dem Wahnsinn verfallene Dichter Oskar Panizza in dem unsentimentalen Satz zusammengefasst hatte: «Bis jetzt haben die Deutschen vom Köpfen leider immer nur die passive Form; das Geköpftwerden, kennen gelernt.» Wohingegen die Russen unter Führung der Bolschewiki zur Verwirklichung der bereits 1896 getroffenen Voraussage des gleichen Panizza schritten: «Rußland, dieses lauernde Gehirn, wird eines Tages fürchterlich hervorbrechen, und das Volk der Bakunine und Dostojewskis wird sich seine Freiheit erköpfen.» Zwischen Köpfen und Geköpftwerden aber, zwischen Aktiv und Passiv, zwischen Lenin und Luxemburg, gibt es keinen Kompromiss.
von Walter Held, 10. November 1938
Zuerst veröffentlicht in: Unser Wort 1 (92), Jg. 7 (Mitte Februar 1939), Antwerpen, S. 3–4. Englische Übersetzung in: New International 2, Jg. V, Februar 1939, New York, S. 46–49.
* Dieser Vollzugsrat ist nicht zu verwechseln mit der Ebert-Haase-Regierung, an der eine Beteiligung für revolutionäre Marxisten natürlich nicht in Frage kam. Die Bolschewiki standen in unversöhnlicher Opposition zur Kerenskiregierung, gleichzeitig sassen sie jedoch im Exekutivkomité des Petersburger Sowjets heben Kerenski.