„Die Nashörner“ im Volkstheater: Antikonformismus für Konformist:innen

06.05.2025, Lesezeit 8 Min.
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Foto: pixel creator/shutterstock.com

Im Münchner Volkstheater wird Ionescos absurdes Stück mit viel Musik und Gesang aufgeführt. Das Ziel: Der Rechtspopulismus. Warum Regisseurin Anna Marboe damit in ihre eigene Falle tappt. Eine Rezension.

Unerwartet wird ein Nashorn gesichtet. In der Stadt. Die Umstehenden diskutieren aber nicht, warum ein Nashorn in der Stadt ist, ja was hier überhaupt passiert, sondern wie das Nashorn zu kategorisieren ist: afrikanisch oder indisch, wie viele Hörner, waren vielleicht schon zwei verschiedene Nashörner zu sehen? Derweil tobt das Nashorn durch die Stadt. So beginnen „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco, uraufgeführt 1959 in Düsseldorf, bis 20. Juli zu sehen im Münchner Volkstheater, dem Tempel des Klamauk.

Im Laufe des Stücks tauchen immer mehr Nashörner auf und es stellt sich heraus, dass sie frühere Menschen sind – sie haben sich in Nashörner verwandelt, die in einer Herde leben. Denn anders als das biologische Nashorn ist das Ionesco’sche Nashorn ein Herdentier, das jeden Trend bereitwillig mitgeht und sich urtümlich anmutenden Überlegenheitsgefühlen seiner Herde unterwirft. „Die Nashörner“ ist eine Kritik am Konformismus. Soweit zum Material von Ionesco.

Nun zur Aufführung in München: Leute gehen ins Volkstheater, um Nashörner tanzen zu sehen. Und das bekommen sie auch, obwohl auf dem Plakat ein Nilpferd prangt. Ein Nashorn ist hier ein Nashorn und läuft als Nashorn auf der Bühne herum. Nach jeder Szene kommt ein generisches KI-Musikstück, das uns zeigt, wie manipulierbar durch Social Media wir alle sind: „Das Leben als Nashorn, das Leben macht Spaß!“ Nicht zu viel Abstraktion, keine Untertöne, man will verstanden werden und wird es.

Rechtspopulistische Nashörner

Wir können in der Inszenierung die Verwandlung der Menschen in Nashörner verstehen als das Fallen der „Brandmauer gegen Rechts“. Die Hauptfigur Behringer gibt sich dabei die Schuld am Nashornwerden seines Freundes Hans, mit dem er übel gestritten hat, wie viele Hörner das erste gesichtete Nashorn hatte. Die Inszenierung kritisiert hier nur wenig durch die Blume das „Sorgen und Nöte der Menschen Verstehen“, das die extreme Rechte nur immer stärker macht. 

Alle bis auf die Hauptfigur Behringer verwandeln sich nach und nach in Nashörner. Behringer ist dabei kein Held der Menschheit, sondern mehr ein Antiheld, Alkoholiker und Individualist, der sich dem Nashorn-Trend widersetzt, weil er nicht konform sein möchte, zu keinem Kollektiv gehören will. Das einzig störende, nicht konforme Element.

Die in den Originaltext eingefügten Anspielungen sind so vielfältig wie eindeutig: Eine Figur schimpft über die „Lügenpresse“; eine meint in Anspielung auf die Corona-Pandemie, es gebe noch „keine Langzeitstudien zur Rhinozeritis“; einmal fällt der berüchtigte Satz „Ich bin ja kein Rassist, aber“; ein anderes Mal kommt eine Anspielung auf den Trump-Wahlkampf mit „They’re killing the cats“ (Sie töten die Katzen), einem rassistischen Hoax gegen Haitianer:innen.

Dies ist ein Stück gegen Rechtspopulismus (implizit gleichgesetzt mit Kritik an der autoritären Corona-Politik der Regierung), der durch ständige Wiederholung, KI-Manipulation auf Social Media und einen inneren Wunsch nach Überlegenheit Überhand greift: „Um diese Massentauglichkeit auf die Spitze zu treiben, habe ich angefangen, mich mit KI-generierter Musik auseinanderzusetzen […], weil die Musik nichts Menschliches hat“, so Regisseurin Anna Marboe im Interview. Am Ende soll das Publikum die Nashorn-KI-Songs mitsingen – eine hörbare Minderheit singt tatsächlich, wenn auch etwas schambehaftet, wie es in München eben so ist. Alles Teil der Inszenierung, wie auch die Nashorn-Merchandise-Artikel mit Aufschrift „Brrrrrrrrr“ im Foyer: Das Publikum bekommt seine eigene „Verführbarkeit“ vor Augen geführt, falls es das bis zum Ende immer noch nicht verstanden hat.

So weit, so harmlos. Das linksliberale Publikum fühlt sich wohl, wenn es klatscht, geht gerne durch die Katharsis der Verführbarkeit durch Faschismus und Rechtspopulismus, lacht herzhaft über die Anspielungen auf Corona-Gegner:innen und Rassist:innen und kann guten Gewissens einen Aperol Spritz in der hauseigenen Bar trinken gehen. Ja, die Nashörner könnten wir sein. Aber es sind eben doch die Anderen. „Ein kluger Kracher“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. 

Kritik an „Totalitarismus“ – oder an Faschismus und Kolonialismus?

Marboe interpretiert Ionesco als Kritik nicht an einer spezifischen Ideologie oder Bewegung, sondern als Kritik an einem konformistischen Kollektivismus schlechthin: „Es geht nicht darum, wem man nachläuft, sondern warum man so gerne gemeinsam läuft.“ Diese (gängige) Lesart legt eine Art Totalitarismustheorie aus dem Inneren des Menschen nahe, ein urtümliches Bedürfnis nach Unterwerfung unter das eigene „Nashorn“ – und verklärt damit die konkreten politischen Inhalte von Ideologien und Bewegungen.

Einen Kollektivismus im Allgemeinen gibt es gar nicht: Der Faschismus hat als Klasseninhalt die Megalomanie des vom Großkapital zerdrückten Kleinbürger:innentums, das sich mit Gewalt gegen das Proletariat wendet, um es zu atomisieren. Der koloniale Chauvinismus hat als Klasseninhalt die Überschussgewinne des Großkapitals, das mittels Rassismus seine herrschende Klassenstellung gegenüber dem eigenen Proletariat gewährleistet. Die Schwammigkeit der Kollektivismus- und Totalitarismus-Kritik, die „Die Nashörner“ bei Deutschlehrern wirklich aller Couleur beliebt macht, liegt schon bei Ionesco selbst, der das Stück abstrakt hält. Mit einer Kritik am Kollektivismus „im Allgemeinen“ kann man antifaschistisch sein oder antikolonial, aber auch antikommunistisch, wenn man will.

Umso mehr ist es eine bewusste Entscheidung der Regie, mit welchem Inhalt die Leerstelle Ionescos „Nashörner“ gefüllt wird. Zumal im Deutschunterricht seltener zur Sprache kommt, dass das Theaterstück selbst 1959 erschien, mitten im Algerienkrieg. Dies legt neben der offensichtlichen biographischen Referenz auf den von Ionesco in Rumänien miterlebten faschistischen „Eisernen Garde“ auch eine dezidiert antikoloniale, antirassistische Lesart gegen den grassierenden großfranzösischen Chauvinismus im Kolonialkrieg gegen Algerien nahe. Doch dieser Ton taucht in der Inszenierung von Marboe nicht auf und das ist nicht nur schade, es nimmt dem Stück seine Spitze.

Die Nashörner der deutscher Staatsräson

Die Schranke an der Inszenierung ist nicht nur sein individualistisches, psychologisierendes Faschismusverständnis, das auch schon bei Ionesco durchklingt und deshalb der Regie kaum angelastet werden kann. Die Schranke ist noch mehr die konformistische Begrenzung des Themas der Inszenierung. Es wäre so naheliegend gewesen, eine anti-konformistische Aufführung zu machen: Was ist denn der Algerienkrieg unserer Zeit? Der Genozid in Palästina. Wer sind da unsere Nashörner? Die bürgerlichen Zeitungsredaktionen, die tagein tagaus von Israels „Selbstverteidigungsrecht“ schreiben. Die Parteien und Bürokrat:innen, die das Mantra von der „deutschen Staatsräson“ beten. Die bewaffneten und kulturellen Blockwarte, die eine Kufiya zum „Hasssymbol“ erklären.

Bevor nun gleich einer der Linksliberalen ruft: „Whataboutism! Es kann nicht immer um Palästina gehen!“ sei darauf hingewiesen, dass die vielzitierte Brandmauer nicht erst durch Friedrich Merz’ gemeinsamer Abstimmung mit der AfD im Januar 2025 nicht mehr existiert, sondern bereits spätestens seit dem 12. Oktober 2023. Hier stimmte der Deutsche Bundestag von Linkspartei bis AfD für eine Solidaritätserklärung mit Israel, die die Kriminalisierung der Palästina-Bewegung vorbereitete. Noch die Ampel machte im Juni 2024 mit dem „Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts“ den Weg frei für die Möglichkeit der Aberkennung von Einbürgerungen, die zum „Existenzrecht Israels“ falsche Angaben gemacht haben sollen – keine Einbürgerung ohne Staatsräson. Nirgendwo werden von der AfD ständig geforderte rassistische Elemente so stark in die bundesrepublikanische Rechtspraxis eingeführt wie in der Kriminalisierung von Palästinenser:innen und allen, die mit ihnen solidarisch sind. Auch in Frankreich wird ein skandalöser Schauprozess gegen den linken Präsidentschaftskandidaten Anasse Kazib geführt, weil dieser Israel kritisierte.

Eine weniger individualistische und weniger konformistische Lesart des Materials wäre: Die Figuren in Ionescos Stück sind Repräsentant:innen. Sie vertreten Klassen, Schichten und Funktionen in der kapitalistischen Gesellschaft, etwa die Bourgeoisie, das Kleinbürger:innentum, die Gewerkschaftsbürokratie. Mit der Nashornwerdung schließen sie eine heilige nationale Einheit – typisch für eine Gesellschaft im Zustand der Aufrüstung, einer Gesellschaft, in der nahezu alle offiziellen Institutionen einen Genozid gutheißen. Das wäre eine Chance gewesen, der „offiziellen“ liberalen und konservativen Gesellschaft das rassistische Nashorn zu zeigen, dem sie aufsitzt. Behringer in der Schlussszene mit Kufiya als Verteidiger der Menschenrechte: „Ich bin der letzte Mensch! Ich werde es bleiben bis zum Ende! Ich kapituliere nicht!“ Das wäre ein Skandal gewesen. Aber wo kämen wir denn da hin, ein Skandal im absurden Theater? Brrrrrrr. 

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