Kommt der heiße Herbst von rechts oder links?

03.10.2022, Lesezeit 10 Min.
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Es war ein erster linker Vorstoß, auf den bislang zu wenig folgt: die Kundgebung auf dem Leipziger Augustusplatz Anfang September. Bild: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Zehntausende gehen in Ostdeutschland Montag für Montag gegen steigende Energiepreise und die Russland-Sanktionen auf die Straße, nicht selten unter rechter Führung. Die Bundesregierung reagiert mit der Gaspreisbremse. Wie kann eine Antwort von links aussehen?

32.000 in Sachsen, 12.900 in Sachsen-Anhalt, 11.000 in Mecklenburg-Vorpommern, 24.000 in Thüringen, 13.000 in Brandenburg. Nach behördlichen Angaben haben in Ostdeutschland am Montag vor einer Woche über 90.000 Menschen demonstriert. Die größten Kundgebungen versammelten einige Tausend Menschen. Die Masse kam durch die Ausdehnung zustande: Nicht nur in den Zentren, auch in etlichen Kleinstädten und Gemeinden wurde demonstriert. Auch am Tag der deutschen Einheit gehen die Proteste weiter. Dabei zeigt das aktuelle Protestgeschehen, dass es mit dieser Einheit nicht weit her ist.

Der Charakter einer so verzweigten Protestbewegung ist nicht leicht zu bestimmen. Während einige der Proteste nicht offiziell angemeldet waren, gingen die Aufrufe zu den Kundgebungen an manchen Orten von lokalen Unternehmer:innen aus, deren Geschäfte unter hohen Energiepreisen leiden.

Diese kleinbürgerliche Prägung wird am Beispiel des Protests in der Kreisstadt Annaberg-Buchholz im Erzgebirge deutlich, über die der Deutschlandfunk berichtete. Fahnen und Plakate waren nicht erwünscht, man wolle die Energiesorgen nicht den Rechten überlassen. Ein Stand der rechtsextremen Kleinpartei Freie Sachsen fand sich dennoch am Rande des Marktplatzes. Die dortige Kundgebung wurde von einem Busunternehmer angemeldet, es sprachen neben weiteren Kleinunternehmer:innen auch der örtliche Bürgermeister von den Freien Wählern. Dieser forderte im Interesse der Unternehmerschaft eine Energiepauschale, einen Energiepreisdeckel und die Nutzung aller verfügbaren Energieträger, auch Braunkohle und Kernkraft. Waffenlieferungen an die Ukraine kritisierte er und forderte „Diplomatie statt Kriegstreiberei“.

Während die organisierten Rechten in Annaberg-Buchholz am Rand blieben, spielen sie andernorts eine prominentere Rolle. Nach übereinstimmenden Berichten gab es offene Beteiligung von faschistischen Organisationen. Die junge Welt schreibt gar: „Faschisten vielerorts führend dabei“. In Leipzig kam es am Rande der dortigen Demonstration zu gewaltsamen Übergriffen auf Antifaschist:innen.

Auch die AfD versucht von der aufgeheizten Stimmung zu profitieren. Ihr Diskurs knüpft daran an, was auch in Annaberg-Buchholz präsent war: Die Teuerungswelle treffe „die Schwächsten der Gesellschaft, aber auch den Mittelstand – das Rückgrat unserer Wirtschaft.“ Auch die Forderung nach der Öffnung von Nord Stream 2 greift die AfD auf. Für den 8. Oktober ruft die Partei unter dem Motto „Unser Land zuerst!“ zu einer Demonstration durch Berlin-Mitte auf.

Diese Politik schlägt sich bereits sichtbar in den Meinungsumfragen nieder. Die Sonntagsfrage des INSA-Meinungstrends vom 26. September sieht die AfD mit einer Zustimmung von 27 Prozent der Befragten als stärkste Kraft in Ostdeutschland. Sie liegt damit einen Prozentpunkt vor der CDU.

Warum aber brechen die Proteste gerade in Ostdeutschland aus? Dabei spielt das, verglichen mit den alten Bundesländern, noch immer deutliche Gefälle in den Lebensbedingungen eine zentrale Rolle. Eine aktuelle Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass derzeit 29 Prozent der Beschäftigten im Osten, die Anspruch auf den Mindestlohn haben, weniger als 12 Euro pro Stunde verdienen. Die Sorge vor steigenden Gaspreisen schlägt hier offensichtlich besonders stark durch. Auch existiert eine Kontinuität mit den rechten Protesten gegen die staatliche Coronapolitik, die insbesondere in Teilen Ostdeutschlands monatelang zum politischen Geschehen gehörten.

Gleichzeitig ist jedoch auch die Wirtschaft in den neuen Bundesländern stärker auf Russland ausgerichtet. Deutlich wird dies am Fall der Raffinerie PCK Schwedt an der Grenze zu Polen. Diese versorgt weite Teile des Ostens mit Treibstoff und bezieht bislang ihr Öl aus einer russischen Pipeline. Das kommende Ölembargo, das Teil des Wirtschaftskriegs zwischen Russland und dem Westen ist, stellt die Raffinerie vor ein akutes Problem. Sie wird unter Kontrolle des Bundes gestellt, gleichzeitig läuft die Suche nach alternativen Möglichkeiten, Öl in die Uckermark zu bekommen, auf Hochtouren – vorerst jedoch mit bescheidenem Erfolg.

Im Freitag merkt David Begrich an, dass hier historische Verbindungen in Richtung Osten nachwirken. „Unzählige Firmen verdanken ihren bescheidenen Wiederaufstieg nach den Transformationsjahren den alten Geschäftsbeziehungen nach Russland.“ Diese wirtschaftlichen Abhängigkeiten führen selbst in der sächsischen CDU zu einem Kurs in der Russlandpolitik, der sich deutlich von der Bundespartei unterscheidet. Ministerpräsident Michael Kretschmer pocht weiterhin auf eine Verständigung mit Putin, immer wieder kritisierte er die Sanktionspolitik. Trotz innerparteilicher Kritik bekräftigte er diese Position vor wenigen Tagen erneut im Deutschlandfunk. 

Welche Antwort gibt die Linke?

Nico Popp beklagt in einem Kommentar für die junge Welt die fehlende Verbindung der Linken „zu den – um ein altmodisches Wort zu verwenden – ‚Massen'“. Den bundesweiten Aktionstag der Partei DIE LINKE am 17. September nennt er zu Recht „ein Fiasko“. In Halle an der Saale, wo der Parteivorsitzende Martin Schirdewan auftrat, kamen dürftige 200 Protestierende zusammen. Die einzige größere Kundgebung, die aus den Reihen der Partei angestoßen wurde, jene in Leipzig, liegt bald schon einen Monat zurück. Wie allerdings soll eine solche Verbindung, wie sie Popp vorschwebt, zustande kommen?

In der Partei DIE LINKE versuchen immerhin manche Teile, auch um die Unzufriedenen in Ostdeutschland zu werben. Am Samstag sprachen der Parteivorsitzende Martin Schirdewan und mit Gregor Gysi eines der letzten verbleibenden Gesichter der Partei auf einer Kundgebung in Schwedt. Dieses Gesicht jedoch scheint noch eine gewisse Strahlkraft zu haben. Wie nd berichtet, kamen annähernd 1000 Menschen auf dem Platz der Befreiung zusammen, um Gysi sprechen zu hören. Wie Gysi die Raffinerie jedoch retten will, darüber schweigt sich das Linkspartei-nahe Medium aus. Die Liste der Forderungen, mit der DIE LINKE zu der Kundgebung einlud, bleibt in dieser Frage maximal vage. Man fordert „eine stabile und tragfähige Zukunftsperspektive für das PCK und seine Beschäftigten.“ Die Frage der Sanktionen jedoch sprach Gysi direkter an: „Ich habe nichts gegen Sanktionen gegen die russische Führung, nichts gegen Sanktionen gegen das russische Militär.“ Nicht aber sollten sich solche Strafmaßnahmen gegen die russische Bevölkerung wenden. In der Praxis jedoch ist diese Unterscheidung ganz unmöglich.

Da gibt es die bekannten Versuche breiter zivilgesellschaftlicher Bündnisse. Am 22. Oktober plant ein solches, unter anderem getragen von den Gewerkschaften GEW und ver.di, der NGO Campact und dem Umweltverband BUND, parallel mehrere Demonstrationen. In Berlin, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt, Hannover und Stuttgart wird demonstriert werden. Das Motto lautet „Solidarisch durch die Krise – Soziale Sicherheit schaffen und fossile Abhängigkeiten beenden“, der obligatorische Hashtag #SolidarischerHerbst. Das Bündnis fordert neben Entlastungsmaßnahmen wie einem Mietenstopp, einer Erhöhung des Bürgergeldes, einem Nachfolger für das Neun-Euro-Ticket und einer 500-Euro-Soforthilfe auch massive Investitionen in erneuerbare Energien und den öffentlichen Nahverkehr.

Nur ein kleines bisschen weniger minimal sind die Forderungen der Kampagne „Genug ist Genug“. Statt 500 sollen es 1000 Euro Einmalzahlung sein oder statt einem Nachfolger für das Neun-Euro-Ticket dessen Weiterführung. Nach dem Vorbild der britischen Initiative „Enough is Enough“ hat das Magazin Jacobin dieses Projekt ins Leben gerufen. Inzwischen beteiligen sich neben vielen Aktiven etwa aus der Berliner Krankenhausbewegung aber auch Strukturen der Regierungsparteien. Die Grüne Jugend ist mit an Bord, das offene Auftakttreffen des Bündnisses in München organisiert die SPD-Direktkandidatin bei der letzten Bundestagswahl Seija Knorr-Köning. Die Einladung zu jenem Treffen endet konsequenterweise mit dem Hinweis, dass bei dem Treffen weder die Sanktionen gegen Russland noch der Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine zur Debatte stünden.

Was beide Initiativen also gemein haben: Die Frage der Wirtschaftssanktionen und der Krieg als ein zentraler Treiber der Energiekosten werden ausgespart. Das Bündnis #SolidarischerHerbst schreibt von steigenden Energiepreisen als „Folgen von Putins Angriffskrieg“. Dass Deutschland und die Staaten der NATO auf den russischen Angriff auf die Ukraine jedoch mit einem „Energiekrieg“ (Robert Habeck) geantwortet haben, verschweigt das Bündnis. Die Formulierung, man stehe in der Krise solidarisch an der Seite der Ukraine (nicht etwa an der Seite der ukrainischen Bevölkerung), ist nichts weniger als ein Bekenntnis zu dieser eskalativen Politik der deutschen Regierung.

Keine Angst vor den richtigen Forderungen!

Bezeichnend ist ein kurzer Austausch auf einem vorbereitenden Online-Treffen von Genug ist Genug. Ein älterer Aktiver der Partei DIE LINKE antwortet auf die Frage, ob man das Thema des Krieges und der Sanktionen denn ignorieren solle, dass er zwar selbst sanktionskritisch eingestellt sei. Seine Partei aber zerreiße es gerade in dieser Frage. Man solle sich doch im Interesse der Zusammenarbeit auf soziale Fragen konzentrieren.

In der Regel ist das Hauptargument dafür, warum Bündnisse mit ihren Forderungen nicht zu weit gehen sollten, dass man auf diese Weise breiter mobilisieren könne. Doch den Zusammenhang zwischen Energiepreisexplosion und Wirtschaftskrieg stellen bereits viele Menschen her. Mitte September gaben in einer repräsentativen Umfrage nur mehr 53 Prozent der Befragten an, die Sanktionen gegen Russland zu unterstützen, wenn dies persönlichen Verzicht bedeutet – dass dieser „Verzicht“ jedoch längst Realität ist, belegt die Inflation.

Zu glauben, man könne die „Verbindung zu den Massen“ leichter herstellen, wenn man die Frage des Krieges außen vor lässt, ist also eine Illusion. Ist das Problem aber, dass es auch Rechte gibt, die ein Ende der Sanktionen fordern? Die Rechten stellen diese Forderung, ebenso wie Sahra Wagenknecht, weil sie sich als Retter der deutschen Wirtschaft präsentieren wollen. Die Linke muss die Sanktionen jedoch ablehnen, weil sie nicht die Mächtigen in Russland, sondern die Massen treffen – hier wie dort. Unsere Perspektive kann auch nicht eine diplomatische Lösung des Krieges sein, wie es die AfD ebenso fordert wie Kretschmer oder Wagenknecht. Die aufflammenden Proteste in Russland gegen die Mobilmachung geben uns eine Idee davon, wie der Krieg wirklich mit einem fortschrittlichen Ergebnis enden kann. Die Sanktionen helfen der russischen Antikriegsbewegung jedoch kein Stück, sich gegen ihr eigenes Regime zur Wehr zu setzen – vielmehr schüren sie die nationale Einheit. Diese Proteste mit aller Kraft zu unterstützen, ist eine der zentralen Aufgaben der Linken im Westen und das bedeutet auch und vor allem, die Sanktionspolitik unserer eigenen Regierung zu bekämpfen.

Die Abgrenzung gegen die Rechten erreichen wir Linke nicht, indem wir uns nur selbst versichern, dass wir keine Rassist:innen und Nationalist:innen auf unseren Demonstrationen dulden, sondern indem wir die soziale Demagogie der Rechten entlarven, ihnen ein überlegenes Programm entgegenstellen und damit ernsthaft um die Führung der Bewegung kämpfen. Zu einem solchen Programm gehört die Forderung nach bedingungsloser Aufnahme, Aufenthaltsrecht und die Anerkennung ihrer Abschlüsse sowohl für ukrainische Geflüchtete, die russischen Deserteure und für alle anderen Geflüchteten, ebenso wie eine Antwort auf die Klimakatastrophe. Schließlich folgt aus der Sanktionspolitik auch der Import von besonders klimaschädlichem Flüssiggas und die weitere Nutzung von Kohlekraft. Bei der Forderung nach einer Verstaatlichung des gesamten Energiesektors unter der Kontrolle von Beschäftigten und Verbraucher:innen geht es also nicht nur darum, dass damit die Versorgungssicherheit der Privathaushalte und der kleinen Unternehmen gesichert werden kann. Sie würde auch erlauben, demokratisch zu diskutieren, wie und wofür die Energie produziert wird, und einen ökologischen Umbau im Interesse der Mehrheit statt der Konzerne vorantreiben.

Noch ist offen, wohin die Bewegung sich entwickeln wird. Genügt die Gaspreisbremse der Bundesregierung, um Dampf vom Kessel abzulassen? Gewinnt die Rechte weiter an Einfluss? Wie die Antworten auf diese Fragen lauten, hängt auch von uns ab.

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