Karneval des Widerstands: Militäreinsatz in Rio, Rückzug der Rentenreform – die Regierung taumelt

26.02.2018, Lesezeit 7 Min.
1

Präsident Michel Temer ist angeschlagen: der nach Umfragewerten unbeliebteste brasilianische Präsident aller Zeiten musste seine neoliberale Rentenreform nach massivem Widerstand zurückziehen. Als Antwort auf seine Schwäche beschloss er den ersten Militäreinsatz im Inland seit dem Ende der Diktatur.

Karneval in Rio de Janeiro – der traditionelle Umzug an der Copacabana wird von den hiesigen Medien häufig als ein exotisches Fest mit Gesang und Tanz dargestellt. Doch dieses Jahr kam neben der feierlichen Stimmung auf den Straßen der zweitgrößten Stadt des Landes eine politische Nachricht an den Präsidenten Michel Temer und das gesamte politische Establishment hinzu.

In den nahe gelegenen Vierteln wurden Transparente mit kritischen Botschaften gegen den Obersten Gerichtshof und den Abgeordneten der extremen Rechten Jair Bolsonaro ausgehängt. Dieser hatte sich mit der Forderung unbeliebt gemacht, man müsse mit Sturmgewehren in die Favelas (Armenviertel) einmarschieren. Auf dem Umzug selbst wurde immer wieder der institutionelle Putsch, bei dem Temer mithilfe der Rechten und den bürgerlichen Medien an die Macht kam und seine flexibilisierende Arbeitsmarktreform, sowie die allgegenwärtige Korruption angegriffen. All das wurde begleitet von den schon zur Gewohnheit gewordenen Rufen „Fora Temer“ (Temer raus).

Das Politische Establishment ist bankrott

Auch wenn die großen Medien versuchten bei der Übertragung des Karnevals diese Bilder zu verdecken, drückte der Umzug in Rio de Janeiro die allgemeine Stimmung im Land gut aus. Fast zwei Jahre nach seiner Amtsübernahme wird er von breiten Teilen der Bevölkerung für seine harten Sparmaßnahmen kritisiert, die besonders die ärmeren Schichten der Arbeiter*innen und Jugendlichen treffen. Besonders die Arbeitsmarktreform öffnete der Prekarisierung Tür und Tor. Gleichzeitig liegen gegen ihn und die Mehrheit seiner Minister*innen Korruptionsvorwürfe vor, die es ihm verwehren, bei den Präsidentschaftswahlen Ende des Jahres zu kandidieren.

Zudem wurde der härteste Konkurrent der rechten Parteien, der Ex-Präsident Lula von der sozialdemokratischen „Arbeiter*innenpartei“ (PT) in einem undemokratischen und politisch motivierten Urteil wegen Korruption und Geldwäsche verurteilt. Damit hat auch er keine Möglichkeit, zu den Wahlen anzutreten, obwohl er nach aktuellen Umfragen mit 37 Prozent weit vor den anderen Kandidaten wie João Dória, Pablo Geraldo Alckmin oder dem reaktionären Bolsonaro liegt. Die gleichen Umfragen sehen voraus, dass die Zahl der Nicht-Wähler*innen bei den anstehenden Wahlen ein Rekord-Hoch von mehr als 30 Prozent erreichen würde – und das obwohl in Brasilien Wahlpflicht herrscht, Nicht-Wähler*innen also mit einer Strafe zu rechnen haben.

Die PT konnte zwar nach dem institutionellen Putsch und der Rückkehr Lulas in die aktive Politik an Zustimmung zurückgewinnen. Doch immer noch nehmen ihr viele ehemalige Wähler*innen die Kürzungspolitik in Dilma Rousseffs letzter Amtszeit, sowie die Verstrickungen in den Korruptionsskandal um den halb-staatlichen Ölkonzern Petrobras übel, in den nun auch Lula selbst verwickelt ist. Es handelt sich also um eine weitreichende und strukturelle Krise des gesamten politischen Establishments.

Mit Militärintervention zur Rentenreform

Trotz fehlender parlamentarischer Unterstützung hielt Temer noch bis vor kurzem an einer Reform des Rentensystems fest, die von der Großbourgeoisie gefordert wird. Sie sieht die Einführung eines Renteneintrittsalter von 62 Jahren für Frauen und 65 Jahren für Männer vor. Bisher können Frauen nach 30 und Männer nach 35 Jahren Einzahlung in die Rentenkasse in Rente gehen. Die Festlegung eines Renteneintrittsalters würde einer enormen Verlängerung der Lebensarbeitszeit gleichkommen und die Beschäftigten dazu zwingen, bis in den Lebensabend hinein zu arbeiten. Die Lebenserwartung liegt für Männer bei 71 und für Frauen bei 78 Jahren.

Um die Unterstützung der Abgeordneten der extremen Rechten für seine Projekte zu bekommen und sein Bild in der Öffentlichkeit zu verbessern, hat Temer eine Ablenkungskampagne gestartet. Mit dieser versucht er, das Thema der öffentlichen Debatte weg von seinen unsozialen Reformen und hin zu einem für ihn nützlicheren Thema wie der „Kriminalität“ zu lenken. Tatsächlich ist die Zahl der Morde seit 2016 alleine in Rio de Janeiro um 26 Prozent gestiegen. Doch natürlich sieht die Regierung die Schuld dafür nicht bei den brutalen Angriffen, die immer größere Teile der Bevölkerung in Armut und soziale Unsicherheit stürzen. Im Gegenteil erklären sie diesen Anstieg aus ihrem blinden Hass gegen die Arbeiter*innenklasse und die Armen heraus, zu denen überproportional viele Frauen und nicht-weiße Menschen gehören.

Unter dem Vorwand der Bekämpfung der Kriminalität beschloss Temer deshalb vor zwei Wochen den Einsatz des Militärs im Bundesstaat Rio de Janeiro. Es handelt sich um die erste Militärintervention im Inland seit dem Ende der Diktatur in den 80er Jahren und einen undemokratischen Präzedenzfall in direkter Kontinuität zum Putsch von 2016. Der General Braga Netto ist nun verantwortlich für alle Fragen der „öffentlichen Sicherheit“ in Rio, vereint die Kontrolle aller Sicherheitsorgane auf sich und untersteht Temer direkt.

Seitdem die Militärintervention vom Senat angenommen wurde, haben sich 8.500 Soldat*innen in Rio installiert und halten die Favelas quasi militärisch besetzt. Es handelt sich um einen qualitativen Sprung in der Verfolgung gegen die Bevölkerung der Armenviertel, der sie bisher von Seiten der Polizei ausgesetzt waren. Szenen wie die Kontrolle von Schulranzen von Grundschüler*innen durch Soldat*innen und die Aufnahme der persönlichen Daten sowie Fotos aller Bewohner*innen einzelner Viertel wurden seitdem zur brutalen Gewohnheit eines wahrhaftigen Kriegszustandes gegen die arbeitenden und armen Massen von Rio.

Erfolgreicher Widerstand trotz zögernder Führung

Bisher scheint es nicht so, als dass es Temer gelingen würde mit dieser Maßnahme Unterstützung für seine Regierung zurückzugewinnen. Es ist ein weiterer Schritt in der Einschränkung demokratischer Rechte und Freiheiten und könnte in einer anderen Situation auch gegen soziale Bewegungen und Arbeitskämpfe eingesetzt werden. Deshalb wurde die Maßnahme von einer breiten Reihe gewerkschaftlicher und linker Organisationen zurückgewiesen.

Am vergangenen Montag organisierte der Gewerkschaftsdachverband CUT einen Streik- und Protesttag in São Paulo, der sich sowohl gegen die Rentenreform als auch gegen die Militärintervention richtete. Arbeiter*innen aus den verschiedensten Branchen beschlossen in Versammlungen, sich an den Streiks zu beteiligen. Auch wenn die Gewerkschaftsbürokratie einige dieser Arbeitsniederlegungen unterbinden konnte, machte der Protesttag die Kampfbereitschaft der Arbeiter*innenklasse deutlich. Im Industriegürtel um São Paulo, dem sogenannten ABC paulista, standen die großen Fabriken der Automobilriesen VW, Mercedes, Toyota, Ford und vielen mehr still. Auch die Bankangestellten und die Busfahrer*innen beteiligten sich an den Demonstrationen und Straßenblockaden, die den Verkehr der größten südamerikanischen Stadt stark einschränkten.

Nach dieser Machtdemonstration legte Temer die Pläne der Abstimmung über die Rentenreform vorerst aufs Eis. Sie machte deutlich, dass es sich nicht um eine rein passive Ablehnung gegenüber der Regierung und derjenigen Politiker*innen handelt, die im Dienste der Bosse stehen. Doch die Gewerkschaftsführungen und die reformistische PT verhindern es, dass sich die breite Unzufriedenheit mit der Regierung in einen aktiven Widerstand verwandelt und setzt hingegen auf massive, aber beschränkte Maßnahmen, die etwas Druck von der Basis ablassen.

Weder Lula noch ein anderes Gesicht der PT können die Forderungen der Arbeiter*innen und Jugendlichen erfüllen. Dafür braucht es aktive Kampfmaßnahmen und Beispiele wie das der Lehrer*innen von São Paulo, die anlässlich des Internationalen Frauenkampftags am 8. März in den Streik treten werden. Die Aufgabe linker Organisationen wie der Bewegung Revolutionärer Arbeiter*innen (MRT) in dieser Situation besteht darin, die Infragestellung der Regierung und des Establishments weiter voranzutreiben, und die Gewerkschaftsbürokratie mit Forderungen nach einem Generalstreik und einem politischen Kampfplan herauszufordern.

Mehr zum Thema