Entnazifizierung: Warum es sie nicht gab und wie sie durchgesetzt werden kann

08.05.2020, Lesezeit 10 Min.
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Am 8. Mai 1945 - vor 75 Jahren - kapitulierte das deutsche Militär. Einmalig macht Berlin den 8. Mai zum Feiertag. Viel zu feiern gibt es aber nicht: Noch nie seit dem Krieg waren die faschistischen Ideen in Deutschland so stark verbreitet wie heute. Wie kann Deutschland überhaupt entnazifiziert werden?

Bild: Die Zeppelintribüne des Nürnberger Parteitagsgeländes der NSDAP wurde im Juni 1967 gesprengt. Aber der Faschismus nicht mit ihr.

Über die Verbrechen der Nazis gegen Unterdrückte ist viel bekannt. Doch auch gegen Arbeiter*innen, besonders organisierte, gingen die Faschist*innen hart vor: Gewerkschaften wurden zerschlagen, Mitglieder von SPD und KPD von der SA entführt und gefoltert. Ein flächendeckender Lohnstopp verschlechterte die Situation der Arbeiter*innen, die Anerkennung einer Berufsunfähigkeit wurde erschwert.

Die Arbeitslosigkeit ging zwar zurück, das war allerdings nur eine Folge der Vorbereitungen auf den kommenden Weltkrieg. Das soziale Sicherheitsnetz wurde enorm abgebaut und eine Konformität mit den Werten der Faschist*innen geknüpft, wie beispielsweise das Leisten von Reichsarbeit, der staatlich verordneten Zwangsarbeit.

Der ohnehin schon hochgekochte Antisemitismus erlaubte es, etliche Revolutionär*innen, Kommunist*innen und Arbeiteranführer*innen zu ermorden oder zumindest aus dem Land zu jagen. Sowohl gegen die Sowjetunion: “Nicht die Diktatur des Proletariats besteht heute in der Sowjetunion, sondern Diktatur des Judentums über die gesamte Bevölkerung.” (auf dem Reichsparteitag der NSDAP von 1936), als auch gegen jüdische Revolutionär*innen außerhalb der Sowjetuntion wurde Stimmung gemacht. Diesen Ansatz hatten schon die Konterrevolutionäre in Russland gegen die Bolschewiki verwendet, in Deutschland bekam er eine neue, tödliche Ausprägung.

Der Faschismus war also gegen die Arbeiter*innenklasse gerichtet, und so waren es letztendlich nicht die Arbeiter*innen, auch nicht die in der NSDAP organisierten, die vom Faschismus profitierten. Statt dessen waren es Kapitalist*innen, Staat und Militärs, die den Faschismus als “letzte Trumpfkarte” ermöglichten, um ihren Kapitalismus zu retten.

Entnazifizierung nach 1945 – Eine kritische Bestandsaufnahme

Am 8.5.1945 – heute vor 75 Jahren – kapitulierten die verbliebenen Befehlshaber der nazideutschen Armee: Das Ende des zweiten Weltkriegs in Europa und der militärische Sieg über den deutschen Faschismus.

Nach dem militärischen Ende des Krieges begann die mühsame Aufgabe, die ideologischen Folgen von zwölf Jahren Gleichschaltung aus dem Land zu bekommen. Die Maßnahmen unterschieden sich je nach Besatzungszone und beinhalteten das Verbot der NSDAP, das Entfernen von Symbolen, Straßennamen, Büchern. In “Spruchkammern” entschied man über das einfache Volk, für die “großen Fische” gab es die Nürnberger Prozesse. In ihnen versuchte man am Internationalen Militärgerichtshof die Verantwortlichen des Nazi-Regimes und seiner Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen – mit ernüchterndem Ergebnis. In einem Land mit über 60 Millionen Einwohner*innen, das fest in der Hand des Faschismus war, wurden nur 24 Menschen in den Hauptprozessen angeklagt, weitere 185 in den Nachfolgeprozessen.

Schon wenige Jahrzehnte später zeigte sich deutlich, wie unzureichend dieser Prozess der Entnazifizierung geführt wurde. Richter, Ärzte, Lehrer*innen, Militärs, etliche dieser Positionen werden bis weit in die 70er hinein von Alt-Nazis bekleidet. Dass dies heute nicht mehr der Fall ist, liegt in erster Linie an dem Wegsterben der Alt-Nazis, nicht an einer Aufarbeitung oder einer Entfernung dieser Personen aus dem Dienst.

Aber die Entnazifizierung scheiterte nicht nur daran, dass nicht konsequent geurteilt wurde. Die größten Profiteur*innen des Krieges und Unterstützer*innen Hitlers, die Großkapitalist*innen, kamen im Westen ungeschoren davon. Die Wirtschaftsbosse hatten an den Enteignungen der Jüdinnen*Juden, am Krieg und an der Zwangsarbeit sehr viel verdient. Konzerne wie VW basierten auf der staatlich geförderten Kriegswirtschaft und es gab kaum ein Großunternehmen, das nicht von Zwangsarbeit profitierte. Ihre Raubgewinne durften sie nach dem Krieg behalten.

In den Augen der Arbeiter*innen hatte der Kapitalismus zusammen mit dem Faschismus nach dem Krieg eigentlich ausgedient. 1948 gab es in den westlichen Zonen einen Generalstreik für die Vergesellschaftung der großen Industrie. Aber die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbürokratie verhinderten, dass die Arbeiter*innen den Kapitalismus los wurden. Stattdessen boten sie den Arbeiter*innen im Westen die “Sozialpartnerschaft” an, einen in den Staat fest verankerter Klassenkompromiss, der die deutsche Arbeiter*innen bis heute lähmt. Man habe sich dieser Partnerschaft zu fügen, denn dann würde es den Arbeiter*innen auch mit Kapitalist*innen gut gehen, so das falsche Versprechen. Und mit dem Kapitalismus blieb der Keim für den Faschismus, der in dessen Krisen erwächst und von dessen rassistischer Ungleichheit genährt wird.

Entnazifizierung und Wiederbewaffnung in der BRD waren unvereinbar. Die Wehrmacht führte den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion aus, die selben Offiziere wurden dann im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion gebraucht und bauten die Bundeswehr und den Auslandsgeheimdienst (Bundesnachrichtendienst) wieder auf. Keime des Faschismus lebten auf diese Weise im Militär- und Geheimdienstapparat seit dem Krieg vom Staat beschützt weiter.

Die gleichen Kapitalist*innen, die vom Faschismus profitierten, beuteten nun wieder aus, die gleichen Militärs, Geheimdienste und Polizei gab es weiter. Das Kapital war nur vorsichtiger geworden und weniger waghalsig, weil es zwei Weltkriege hintereinander verloren hatte, und gab sich pazifistisch und demokratisch. Auch in den „68ern“ gab es den Versuch, die Entnazifizierung zu Ende zu führen. Damals äußerte sie sich in einer Herausforderung der alten Nazi-Eliten durch die Jugendbewegung. Als Folge wurde der Staat zeitweise liberaler. Aber der „Marsch durch die Institutionen“, der Versuch das System von innen heraus zu reformieren, scheiterte mit dem Neoliberalismus ab den 1980ern.

Der Ausverkauf der DDR und der rechte Terror

Durch einen rechten Terroristen wurden in Hanau am 19. Februar 2020 zehn Menschen ermordet. Es war der vorläufige Höhepunkt einer Serie faschistischer Anschläge, wie in Halle an der Saale am 9. Oktober 2019 auf eine Synagoge, wie der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni 2019. Die Terrorakte reihen sich in hunderte Brandanschläge und Überfälle, die es besonders seit 2015 auf Geflüchtete und Geflüchtetenunterkünfte gibt, ein. Nazis haben besonders in Westdeutschland nie aufgehört ihr Unwesen zu treiben. Im September 1980 ermordete ein angeblicher “Einzeltäter” (wir hören dieses Wort auch heute oft in Zusammenhang mit der Relativierung von rechtem Terror), am Oktoberfest 13 Menschen – die Regierung vertuschte Zusammenhänge des Täters mit der Wehrsportgruppe Hoffmann, die in die Bundeswehr führten.

Die bürgerliche Restauration (also kapitalistische Wiederherstellung) der DDR löste einen Sprung in der faschistischen Gewalt aus. Dieses Unternehmen geschah in stillen Bündnissen des westdeutschen Staats mit faschistischen Banden, während die sogenannte Treuhand das Land verscherbelte. Ab 1994 wurde von der CDU in Thüringen ein Verfassungsschutz-Präsident mit Nähe zum Faschismus eingesetzt, als der NSU sich entwickelte. Die absichtliche Deindustrialisierung des Ostens schuf einen sozialen Boden voller Verzweiflung. Die Kapitalist*innen, die in der DDR enteignet worden waren, wurden durch neue aus dem Westen ersetzt. Westdeutsche Nazi-Kadern bauten in Zusammenarbeit mit westdeutschen Geheimdiensten im Osten rechtsradikale Organisationen auf. Der Nazi-Terror, bei dem in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 eine Unterkunft für Geflüchtete und ehemalige vietnamesische “Vertragsarbeiter*innen” angegriffen und angezündet wurde, fand direkt vor den Augen der Polizei statt. Dieser Terror wurde zur Rechtfertigung des „Asylkompromisses“ verwendet.

In der Zeit des Ausverkaufs der DDR an die Kapitalist*innen entstand unter Duldung des Staats auch der “Nationalsozialistische Untergrunds” (NSU). Das Wiedererstarken des Faschismus war aber nie ein “Ost-Problem”, wie der Mordanschlag im nordrhein-westfälischen Solingen bewies, bei dem im Mai 1993 fünf Menschen getötet wurden, oder das weitläufige Netzwerk des NSU im Westen. Skandale wie der „NSU 2.0“ zeigen, dass es im Staat noch viele weitere faschistische Zellen gibt. Ebenso zeigte die fahrlässige und unvollständige Aufarbeitung des NSU-Komplexes, dass mit dem deutschen Staat keine Wahrheit und Gerechtigkeit zu finden ist. Auch die Bundeswehr ist als ein bewaffneter Teil des Staates eine Brutstätte für rechten Terror, besonders seit sie durch die Abschaffung des Wehrdienstes und die Einsätze im Ausland eine Besatzungs- und Berufsarmee ist.

Aber es gibt nicht nur personelle Verstrickungen von Berufsarmee und Polizei zur extremen Rechten. Auch die Polizei ist tief verstrickt mit den faschistischen Umtrieben. Sie ist es, die rassistische und arbeiter*innenfeindliche Gesetze wie das sogenannte “Bayerische Integrationsgesetz” oder die Asylgesetze durchzusetzt, die unsere Kolleg*innen wegen ihrer Herkunft mit Abschiebung in Kriegs- und Krisengebiete bedroht. Diese erzwungene Ungleichheit, gesetzlich und sozial, ist eine Grundlage des Rassismus in Deutschland.

Wie sieht eine Antwort auf den Faschismus heute aus?

Der kapitalistische Staat trägt den Keim des Faschismus immer in sich. In Deutschland ist die Kontinuität des Faschismus ungebrochen. Der Staat, der vorgibt, uns vor Faschismus und Rechtsruck zu schützen, ist der gleiche Staat, der den rechten Terror duldet und durch rassistische Gesetzgebungen fördert. Die demokratischen Parteien Union und FDP ließen Anfang des Jahres in Thüringen den Testballon Kemmerich der AfD steigen, um eine linke Regierung zu verhindern.

Der kapitalistische Staat ist nicht reformierbar, nicht entnazifizierbar. Er kann den Faschismus nicht besiegen. Erstens, weil er das Kapital nicht enteignen kann, und der Faschismus aus den Krisen des Kapitalismus hervorgeht. Zweitens, weil die bewaffneten Teile des Staates – die Polizei, die Berufsarmee, die Geheimdienste – selbst Nester des Faschismus sind. Wenn der Staat also den Faschismus nicht besiegen kann, muss es jemand anders tun.

Und dieser jemand sind die Arbeiter*innen selbst. Die Arbeiter*innen haben viele Gründe, sich gegen den Faschismus zu organisieren. Die rassistische Ideologie der Nazis ist ein direkter Angriff auf uns: auf migrantische, geflüchtete, muslimische, jüdische, behinderte oder LGBTI*-Kolleg*innen. Die Nazis schafften am 2. Mai 1933 die Gewerkschaften ab und schickten die organisierten Arbeiter*innen – aller Arbeiter*innenparteien, der SPD und der KPD – in Konzentrationslager, zusammen mit den Unterdrückten der Gesellschaft. Damit retteten die Nazis, eine kleinbürgerliche Bande, dem Kapital in der großen Krise der 1930er den Kragen.

Dafür, dass die Arbeiter*innenklasse es schaffen kann, einen faschistischen Militärputsch zu verhindern, gibt es schon ein sehr gutes Beispiel aus der deutschen Geschichte: es waren Vorbot*innen der Nazis, die 1920 den Kapp-Lüttwitz-Putsch organisierten und Berlin besetzten. In nur hundert Stunden wurde der Putsch zu Fall gebracht – von der organisierten Arbeiter*innenklasse mit einem Generalstreik. Mit den Mitteln ihrer Klasse – Streik, Betriebsversammlung, Blockade, Massendemos – kann die Arbeiter*innenklasse den Staat dazu zwingen, notwendige Schritte gegen die Nazis und auch gegen den Rassismus, der ihnen so viel Raum gibt, einzuleiten. Wenn alle Nationalitäten und Ethnizitäten in Deutschland gleichgestellt sind, vor dem Gesetz und im Leben, büßt der Rassismus seine demagogische Kraft ein. Nur so können wir den Faschismus bekämpfen und letztendlich verhindern.

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