Arbeitsmigration in der BRD: Wie das Proletariat fragmentiert werden konnte

07.05.2020, Lesezeit 10 Min.
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Die Erfahrungen der Arbeitsmigration in der Nachkriegszeit weisen auf eine spezifische Kombination von Unterdrückung und Ausbeutung hin. Da die Spaltung der Arbeiter*innenklasse eine strategische Hürde für den Klassenkampf darstellt, müssen wir bestimmte Lehren aus den Erfahrungen der Arbeitsmigration in der BRD ziehen.

Arbeitsmigration hat in Deutschland eine lange Tradition. Sie geht zurück auf die Anfänge des Deutschen Reiches 1871, als polnische Arbeiter*innen ins Land geholt wurden, von denen die Mehrheit jüdischen Glaubens war. Sie waren von einer aggressiven „Germanisierungs“-Politik betroffen, weil Bismarck gleichzeitig die nationale Einheit konstituierte.

Deutschland ist auch schon lange ein Auswanderungsland, weil Millionen von Deutschen zeitgleich in die Vereinigten Staaten ausgewandert sind. Dies hat das Land grundlegend verändert und zu widersprüchlichen Dynamiken innerhalb seiner Arbeiter*innenklasse geführt, die früh zu einer multiethnischen Gesellschaft wurde, obwohl dieser Aspekt lange Zeit gehemmt blieb.

Nach der Niederschlagung des deutschen Faschismus durch die Alliierten 1945 wurde die Bundesrepublik Deutschland (BRD) – durch die Intervention des US-amerikanischen (Marshall-Plan), französischen und britischen Imperialismus in einem Kompromiss mit der Bürokratie der Sowjetunion – neu aufgebaut: die sogenannte Jalta-Ordnung. Aufgrund der Vernichtung der Produktivkräfte im besiegten Deutschland hatte die deutsche Bourgeoisie einen hohen Bedarf an Arbeitskräften. Viele der im Krieg zusammengebauten Industrieanlagen blieben dem deutschen Kapital indes erhalten, was die Grundlage für den Aufschwung der 1950er Jahre bildete. Schwerwiegender waren die Schäden bei Wohnraum und Transport. Die Arbeitskräfte waren also vor allem notwendig, um ab 1955 mit den Migrationsabkommen die Kapazitäten der Industrie voll zu nutzen.

1955, als das erste Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Italien unterzeichnet wurde, erlebte die BRD einen Wirtschaftsboom. Dem folgten in den 60ern weitere Abkommen mit Ländern wie der Türkei, Spanien, Griechenland etc. – mit einer Gesamtzahl von 14 Millionen Gastarbeiter*innen. Die Gewerkschaftsführungen haben die Anwerbeabkommen unter der Bedingung unterstützt, dass deutsche Arbeiter*innen weiterhin Vorrang vor ausländischen Arbeiter*innen haben sollten. Schon in den 1950er und 1960er Jahren war die allgemeine Haltung der Gewerkschaftsführer*innen, im Rahmen der Klassenkompromisspolitik der „Sozialpartnerschaft“ zu bleiben. Sie taten alles, um Konflikte mit der Regierung zu vermeiden.

Die Erfahrungen der Arbeitsmigration sind damit in unterschiedlichen Migrationsperioden ungleich und kombiniert: je nachdem, in welchen Sektoren, mit welcher Qualifikation oder in welchem Umfang die deutsche Bourgeoisie ausländische Arbeitskraft benötigte. Die ersten “angeworbenen” Arbeiter*innen kamen in die deutsche Gesellschaft als schlecht bezahlte Arbeitskräfte – ungelernt oder qualifiziert. Die Ankunft der Gastarbeiter*innen wurde unter der Voraussetzung des Inländerprimats („Deutsche zuerst“) organisiert und von der Regierung als ein temporäres Migrations- und Arbeitsregime geplant.

In der Bundesrepublik waren im Jahr 1967 75 Prozent der “Gastarbeiter*innen” laut dem Erfahrungsbericht der Bundesanstalt als ungelernte Arbeitskräfte beschäftigt. Der griechische Autor Marios Nikolinakos stellt in seinem Buch “Politische Ökonomie der Gastarbeiterfrage” fest, dass der Anteil der Gastarbeiter, die es zum Facharbeiter bringen konnten, im Jahr 1968 nur 2 Prozent betrug: “Die Gastarbeiter konkurrieren also mit den einheimischen Arbeitern auf dem Arbeitsmarkt nicht. Im Gegenteil, sie füllen die Lücken, die durch den beruflichen und sozialen Aufstieg der einheimischen Arbeiter entstehen.”

Im Jahr 1972 waren 550.000 Gewerkschaftsmitglieder Migrant*innen, aber keine*r von ihnen war Delegierte*r des Bundeskongresses des DGB. Auf diesem Kongress wurde anerkannt, dass deutsche und ausländische Arbeiter*innen die gleichen Rechte haben sollten: eine Herstellung der symbolischen Gleichheit aller Teile der arbeitenden Bevölkerung vor der deutschen Gewerkschaftsbürokratie, ohne jeglichen konkreten Kampf, Streiks oder Mobilisierungen der gesamten Belegschaften für die Forderungen ihrer migrantischen Kolleg*innen.

Migrantische Arbeiter*innen als Motor des Klassenkampfes

In Zeiten der wilden Streiks von 1973 waren die sogenannten Gastarbeiter*innen der Motor der Arbeiter*innenbewegung. 1973 wurden 335 Streiks registriert, an denen 375.000 Arbeiter*innen beteiligt waren – davon überwiegend die Gastarbeiter*innen. Die Gastarbeiter*innen bildeten im Schatten des rassistischen Arbeitsregimes spätestens in den 1970er Jahren eine Avantgarde des Kampfes, die beispielsweise beim Autozulieferer Pierburg in Neuss beweisen konnte, dass ein Bündnis aus besonders unterdrückten migrantischen Frauen und gut organisierten männlichen Facharbeitern in der Lage war, gemeinsame Errungenschaften gegen die Kapitalist*innen zu erreichen.

Warum haben aber die unterschiedlichen Kämpfe der 70er, die vor allem von den migrantischen Arbeiter*innen angestoßen wurden, es nicht geschafft, die gesamte Arbeiter*innenbewegung gegen die Bürokratie mit sich zu ziehen?

Dazu gehören drei wesentliche Aspekte:

Erstens blieben die Kämpfe der migrantischen Arbeiter*innen auf halbem Wege stehen, da sie sich auf ein Teilprogramm beschränkten (demokratische Forderungen kombiniert mit der Anklage der ökonomischen Ungleichheit). Sie standen an der Spitze der Streikbewegung mit den spezifischen Forderungen nach einer Reduzierung der Bandgeschwindigkeit, nach besseren Springerregelungen für Schichtarbeit oder für längeren zusammhängenden Urlaub. “Gerade solche Forderungen waren charakteristisch für die migrantischen Interessen in den Fabriken. Migrant*innen standen an den Fließbändern und sie waren es, die einen langen Urlaub verlangten, um in ihre Heimatländer fahren zu können” (Serhat Karakayali, Gespenster der Migration)

Zweitens: Wenn die “Gastarbeiter*innen” die „aristokratischen“ Grenzen der Bürokratie übersprangen und als politisches Subjekt auftraten, trat die Bürokratie als Repressionsorgan auf. Ein historisches Beispiel hier ist die Niederschlagung des Ford-Streiks durch von der Bürokratie angeheuerte Schlägertrupps im Bündnis mit der Polizei und die darauffolgende Abschiebung der streikenden Beschäftigten. Die türkischen Gastarbeiter*innen machten 12.000 der 24.000 Mitarbeitenden des Unternehmens aus. Die Kraft des Streiks war explosiv. Die Gewerkschaftsbürokratie unterstützte dann die Polizeiintervention und schickte sogar Schergen gegen die Streikenden, um die Bewegung mit Gewalt zu unterbinden. Deutsche und türkische Arbeiter*innen waren gespalten. Als der Streik unter Polizeieinsatz endete, titelte die Presse: „Sie sind keine Gäste mehr / sie sind nicht mehr willkommen!“

Es fehlte also an der gemeinsamen Koordinierung der Streiks mit allen Arbeiter*innen. Koordinierungskomitees hätten den streikenden Arbeiter*innen ermöglicht, ihre Kämpfe zu vereinen, Fabrikkomitees, Streikposten und Streikversammlungen aufzustellen, ihre Kolleg*innen in den anderen Betrieben zu mobilisieren, gegen die Polizeirepression eine effektive Verteidigung zu organisieren und eine unabhängige Gegenmacht zur bürokratisch-reformistischen Führung innerhalb der Arbeiter*innenklasse zu bilden. Vor allem der letzte Aspekt, nämlich der Kampf gegen die politische Herrschaft des Reformismus und seiner Bürokratien über die Arbeiter*innenklasse, hätte eine zentrale Wende bedeuten können. Mit der Standortlogik und dem Chauvinismus stellt der Reformismus die Kämpfe so dar, dass sie nicht im Interesse der Arbeiter*innenklasse eine Einheit bilden können.

Drittens fehlte es an einer revolutionären Organisierung, die mit einer solchen sowjetischen Strategie in die Streiks interveniert. Sie müsste sich die Aufgabe aneignen, die Selbstorganisierung der Arbeiter*innen in Komitees auszubauen, mit der Avantgarde der Streikbewegung zu verschmelzen und anhand eines Hegemonieprogramms, das durch Volkstribune und eine Zeitung artikuliert wird, die Führung im Kampf gegen das chauvinistische Regime zu bilden. Eine solche revolutionäre Organisierung unterscheidet sich von allen anderen Arbeiter*innenparteien, dass sie gegen die rassistische oder sexistische Fragmentierung ein Programm der Arbeiter*innenklasse insgesamt aufstellt, welches ihr die Möglichkeit gibt, um die Macht zu kämpfen.

Die Zeit nach der Niederlage

Nach Erfahrungen der Niederlage hat die BRD einen Anwerbestopp eingeleitet. Serhat Karakayali beschreibt die Phase als den Übergang zum Asylregime: “Die Jahre zwischen 1973 und 1977, also der Zeitraum unmittelbar nach dem Anwerbestopp, war eine Phase der Thematisierung des “Asylmissbrauchs” (…) Der Missbrauchsvorwurf, der zunehmend öffentlicher diskutiert wurde, diente seit dem Ende der Anwerbemigration der Verschlechterung der Bedingungen des Asylverfahrens. Er rechtfertigte im Rahmen von Verfahrens-Novellierungen zahlreiche Restriktionen gegenüber Flüchtlingsmigrant*innen, die entweder in einer Beschleunigung des Verfahrens, der Verkürzung und Reduzierung der Rechtswege und/oder einer Verschlechterung der sozialen Leistungen für Flüchtlinge bestanden.”

Im Jahr 1993 wurde das Asylrecht gemeinsam von CDU/CSU, FDP und der SPD ausgesetzt, als „Antwort“ auf den rechten Terror von Rostock-Lichtenhagen.

Der Teil der Gastarbeiter*innen, die längerfristig in der BRD blieben, stimmte dennoch mehrheitlich für die SPD, in der Hoffnung, dass ihr Lohnrecht durch starke Präsenz der SPD in der Gewerkschaftsbürokratie anerkannt würde. Nach der Niederlage ist also das politische Bewusstsein hinter die heroischen Kämpfe zurückgefallen.

An dieser Stelle ist es notwendig, auf die Ursprünge der Grünen Partei hinzuweisen: Der Maoismus, der sich die Befreiung der Unterdrückten auf die Fahne schrieb, löste sich größtenteils in den Grünen auf. Der Nullpunkt der Strategie der Linken in Deutschland liegt mitunter in der völligen Unterwerfung gegenüber den Grünen begründet.

Die Grünen betrachten es heute als ihre Hauptaufgabe, die kleinbürgerlichen Schichten aus der Migration an den imperialistischen Staat anzubinden, um eine Revolte der “Anderen” in Deutschland zu vermeiden. Ihr Programm entspricht der Konzeption der passiven Revolution. Die passive Revolution besagt, dass der alte Staatsapparat sich erneuert, indem er die bisherigen Ausgeschlossenen aufnimmt – unter der Voraussetzung, dass diese Erneuerung von oben kommt. So ist es den Grünen gelungen, einen beträchtlichen Teil der Autonomen und der Antikriegs- und Umweltbewegung über einer lange Periode hinweg in den Staatsapparat zu integrieren. Gleichzeitig stürzte diese Partei einen beträchtlichen Teil des migrantischen Proletariats mit der Agenda 2010 ins Elend und eröffnete riesige migrantische Niedriglohnsektoren. Die Agenda-Politik war in ihren Effekten gegenüber dem migrantischen Teil des Proletariats die Fortsetzung des „Gastarbeiter*innen“-Regimes auf neoliberaler Basis. Auch verweigerten sie in den Regierungen die Verallgemeinerung der staatsbürgerlichen Rechte für Ausländer*innen und setzten die Abschiebepraxis fort.

Der Reformismus nahm zwar bestimmte Forderungen wie das Kommunalwahlrecht auf, die Kommunen gewährten Ausländerbeiräte, die Bürokratie der Gewerkschaften erlaubte später Migrationsausschüsse. Es gab tatsächlich einen Teil der Gastarbeiter*innen, der sozial durch Bildung und den zeitweisen Wirtschaftsaufschwung aufsteigen konnte und seinen Kindern in den nächsten Generationen ein besseres Leben ermöglichte. Aber der Neoliberalismus schüttete diese Hoffnungen wieder zu. Die Hoffnungen basierten, wie die Sozialpartnerschaft, auf der Idee, dass es ein gemeinsames Interesse zwischen deutschen Konzernen und Arbeiter*innen in Deutschland geben könnte. Diese Hoffnung hatte ein reaktionär-chauvinistisches Gesicht, aber auch ein reformistisch-liberales in den rot-grünen Parteien, die mit „Integration“ Anerkennung und Gleichheit versprachen.

Das Programm, um die Fragmentierung aufzuheben

Heute beschäftigt sich die politische Landschaft erneut mit der Frage, inwieweit sie die Bedürfnisse deutscher Konzerne nach günstigen und qualifizierten Arbeitskräften erfüllen kann, ohne dabei die Abschottungsmaßnahmen mindern zu müssen. Das Heranschaffen von billigen Arbeitskräften aus dem Ausland wird heute erneut als „notwendige Maßnahme im Interesse aller Klassen“ präsentiert. Die chauvinistischen Bürokrat*innen empfehlen der Bundesregierung den sogenannten Spurwechsel, um den qualifizierten Teilen unter den Geflüchteten die „Integration“ zu ermöglichen. Dieser Rassismus der Nützlichkeit heißt Integration in Deutschland, während Entrechtung und Ausbeutung gleichzeitig die Säulen des Migrationsregimes bilden.

Arbeitsmarkt-Gesetze, wie die Maxime „Deutsche zuerst“, die heute gegen Geflüchtete von den Bürokratien der Gewerkschaften mitgetragen werden, galten auch schon gegen die “Gastarbeiter*innen”. Der entrechtete Teil unserer Klasse, die Geflüchteten, werden in Lagern eingesperrt, um schneller abgeschoben zu werden. Obwohl heute Geflüchtete als Billigarbeitskräfte zum Teil in die Schlüsselsektoren integriert werden, bilden sie vor allem in den outgesourcten und prekarisierten Bereichen eine wichtige Masse.

Die Trennung zwischen „deutschen“ und „nicht-deutschen“ Arbeiter*innen hat viel zu lange existiert und die faschistische Demagogie begünstigt. Heute geht es darum, dass die Gewerkschaften und alle ihre Mitglieder realisieren, dass die Arbeiter*innenklasse in Deutschland multiethnisch ist – und ein Angriff von Rechten oder der Regierung ein Angriff auf uns alle ist.

Die demokratischen Forderungen auf Anerkennung aller Asylanträge, vollständiges Bleiberecht und volle Bewegungsfreiheit in der ganzen BRD, volles Arbeitsrecht, das Recht auf eine Wohnung statt Einsperrung in Heimen und Lagern und die Schließung der Asylbewerber*innenheime sowie weitere Forderungen wie nach dem Recht auf mehrfache Staatsbürgerschaft, dem Wahlrecht auf allen Ebenen und der Anerkennung aller im Ausland gemachten Schulabschlüsse sind deshalb untrennbar ein Teil der Forderungen der Arbeiter*innenklasse. Es kommt darauf an, sie mit einem Programm gegen Prekarisierung, gegen die kapitalistische Krisenpolitik und gegen die Regierung zu verbinden.

Wir kämpfen innerhalb der Arbeiter*innenbewegung dafür, diese Forderungen als eigene Forderungen der Klassen aufzunehmen und mit den Mitteln der Arbeiter*innenklasse – Streiks, Mobilisierungen, Versammlungen, Besetzungen und Blockaden – durchzusetzen. Zugleich kämpfen wir innerhalb der antirassistischen Mobilisierungen, ebenso wie in allen anderen sozialen Bewegungen, dafür, die Arbeiter*innenklasse als strategische Führung über die demokratischen Kämpfe in den Kampf hineinzuziehen.

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