Corona: Es trifft doch nur die Alten und Kranken?

16.03.2020, Lesezeit 5 Min.
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Ist das euer Ernst? Ein Kommentar von Anja Bethaven.

Bild: alman_memes2.0

Inzwischen hat Corona Deutschland ohne jeden Zweifel erreicht: Über 5000 bestätigte Fälle gibt es, und das obwohl wegen niedriger Testabdeckung nur ein Teil der Infizierten ermittelt werden kann. Die Reaktionen in der Bevölkerung schwanken zwischen blinder Panik und einem gewissen Fatalismus – es treffe ja nur die Alten und Kranken, “wir” müssen uns also keine Sorgen machen.

Mal abgesehen davon, dass auch “wir” gesunde, junge Deutsche alte oder kranke Verwandte, kleine Kinder oder schwangere Partner*innen haben, existiert dieses “wir” nicht.

In einer Umfrage gaben 48 Prozent (!!) der Befragten an, eine chronische Krankheit zu haben, die regelmäßige Behandlungen benötigt.

6,7 Millionen Deutsche (und das sind immerhin über 8% der Bevölkerung) haben Diabetes, dazu kommen über 200.000 Multiple Sklerose-Diagnosen, etwa 800.000 Menschen mit aktiver Epilepsie, knapp 90.000 Menschen, die HIV positiv sind, 1,7 Millionen Deutsche mit Krebserkrankungen in den letzten 5 Jahren, davon eine halbe Millionen Neuerkrankungen. Diese Aufzählung deckt nur einen Bruchteil der Krankheiten ab, die eine Corona-Infektion tödlich gefährlich machen.

Was soll das also? Wie kommt ihr dazu, zu glauben, es wäre egal, wenn Alte und Kranke sterben? Dass das irgendwas zu tun hätte mit natürlicher Auslese und einer angemessenen Antwort auf “Überbevölkerung”?

Spätfolgen der fehlenden Entnazifizierung

Die “Vernichtung unwerten Lebens” war einer der Stützpfeiler der NS-Ideologie und fand ihren Ausdruck unter anderem in der systematischen Ermordung kranker und behinderter Menschen, eingeschlossen Kindern und Säuglingen, unter dem Namen “Aktion T4”.

Die unzureichende Abrechnung mit dem Nazi-Regime schloss auch die Medizin ein. Viele der Ärzte machten nach dem Krieg einfach weiter, exemplarisch seien an dieser Stelle genannt: Fritz Lenz, der ab 1952 Professor für “Menschliche Erblehre” an der Universität Göttingen war; Eugen Fischer, der nach dem Krieg Ehrenmitglied der deutschen Gesellschaften für Anthropologie und Anatomie wurde; und Friedrich Panse, der bis 1967 als Kinderpsychiater arbeitete und zwischenzeitlich sogar Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde war. In dessen Nachruf legte die Psychiatrische Universitätsklinik Düsseldorf einen beachtlichen Zynismus an den Tag und schrieb: „Ein Leben der Arbeit im Dienst leidender Mitmenschen … ist vollendet.“

Bis weit in die Nachkriegszeit hinein bestimmten diese Vorstellungen die Medizin in Deutschland. Sie führten unter Anderem zu Fehlmedikationen, grausamen und wirkungslosen Behandlungsverfahren, fahrlässigen und absichtlichen Tötungen. Bis weit in den 70er hinein wurden Menschen in Heimen und Psychiatrien auf offizieller Grundlage ihrer angenommenen Minderwertigkeit gequält, und auch heute herrscht dieser Geist in vielen Einrichtungen vor.

Dass diese Ideologie sich bis heute gehalten hat, wundert nicht. Eine Abrechnung mit den Nationalsozialist*innen und ihren menschenverachtenden Ideen und Taten steht bis heute aus.

Müssen wir wirklich beweisen, dass wir leben dürfen?

Ich könnte eine lange Liste Kranker und Behinderter anführen, die einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft leisteten und leisten, irgendwas von Stephen Hawking oder John Nash. Ich könnte lange und breit darüber schreiben, dass so viele von uns krank oder behindert sind, dass die Gesellschaft schlicht nicht funktionieren würde ohne uns. Aber darum geht es nicht.

Wir, wie jeder andere Mensch, egal ob in Deutschland oder außerhalb, haben das Recht, zu leben. Wir müssen uns dieses Recht nicht dadurch erkämpfen, besonders produktiv oder nützlich zu sein.

Wir, wie jeder andere Mensch, egal ob in Deutschland oder außerhalb, müssen nicht beweisen, nicht “lebensunwert” zu sein.

Das gilt immer. Egal, ob wir gerade eine Pandemie haben oder nicht.

Neoliberalismus und Faschismus gleichermaßen bekämpfen

Und heute? Spätestens seit der “Wende” mischt sich eine weitere Zutat in diesen giftigen Boden: Der Neoliberalismus.

Unter dem Deckmantel der “Befreiung” der Märkte vom “bösen Realsozialismus”, also der bürgerlichen Restauration, wurden breite Teile der Gesundheitssysteme weltweit privatisiert. Man diskutiert darüber, bis zu welchem Alter sich das Transplantieren von Spenderorganen “lohnen” würden, oder wie eine Mutter es wagen kann, auf pränatale Diagnostik zu verzichten.

Und diese Mischung aus nie aufgearbeitetem Faschismus und seiner strukturellen Kontinuität bis heute, sowie den mörderischen Auswirkungen des Neoliberalismus führen zu einer Gesellschaft, in der es vollkommen normal ist, zu sagen: “Nicht so schlimm, es sterben doch nur die Alten und Kranken.”

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