[Video] Chile: „30 Jahre Erbe der Pinochet-Diktatur, 30 Jahre Neoliberalismus“

01.11.2019, Lesezeit 5 Min.
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Interview mit Dauno Totoro, Anführer der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) in Chile, über die aktuelle Situation und die politischen Perspektiven in dem lateinamerikanischen Land.

Ich bin Dauno Totoro, Anführer der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) in Chile.

Zunächst möchte ich einen brüderlichen, internationalistischen und herzlichen Gruß an die Jugend schicken, die in all diesen Monaten und Jahren in Europa aufsteht: in Frankreich gemeinsam mit den Gelbwesten gegen Emmanuel Macron oder auch in Spanien, wo sie sich dem autoritären monarchischen Spanischen Staat entgegenstellt.

In Chile erleben wir seit einer Woche historische Tage, revolutionäre Tage, in denen ein großer Teil der Bevölkerung gegen eine Preiserhöhung des Nahverkehrs aufstand.

Vor diesem Hintergrund antwortete die rechte neoliberale Regierung von Sebastián Piñera zunächst mit harter Repression. Danach kündigte sie jedoch Zugeständnisse in Form einer “Sozialagenda” an, gezwungen durch die Kraft der Mobilisierungen, die sich landesweit ausbreiteten. Es handelt sich jedoch nur um kleine Krümel, neoliberale Subventionen, die weithin abgelehnt werden. Die Bevölkerung auf der Straße, die Arbeiter*innen und die Jugend fordert den Rauswurf Piñeras und das Ende des Ausnahmezustands und der Ausgangssperre, weil die Regierung die Demonstrierenden, unterdrückt, ermordet und verprügelt.

Die Toten werden zu Dutzenden gezählt, ebenso wie verschwundene Gefangene. Es gibt schreckliche Fälle von Folter und Vergewaltigung innerhalb von Polizeistationen und auch an geheimen Orten.
Dennoch hört die Stärke der Bewegung nicht auf: Am vergangenen Freitag nahmen wir an einer historischen Demonstration teil, der größten in der Geschichte Chiles, wo sich allein in Santiago, der Hauptstadt des Landes, 1,5 Millionen Menschen “raus mit dem Militär, raus mit Piñera und seinen Ministern” forderten.

In diesem Szenario schlagen die Kommunistische Partei und der Frente Amplio, der mit Podemos im Spanischen Staat vergleichbar sein könnte, eine völlig kriminelle Politik vor.
Zuerst hatten sie gesagt, dass sie einen “legislativen Streik” starten würden, das heißt, dass sie im Parlament keine Gesetze erlassen würden, bis sich das Militär von den Straßen zurückgezogen habe. Sie hielten ihr Wort nicht und setzten sich hin, um im Parlament Gesetze zu erlassen. Und heute fordern sie, Teil eines runden Tischs zu werden, um mit der Regierung von Sebastián Piñera zu verhandeln.

Wir glauben, dass dies eine kriminelle Politik ist, nicht nur, weil es bedeutet, mit einer Regierung zu verhandeln, deren Hände mit Blut befleckt sind, sondern gleichzeitig sehen wir, dass wir uns nicht hinsetzen können, um über Krümel zu verhandeln. Es gibt die Kraft, noch viel mehr zu erreichen. Die Toten des Volkes können nicht gegen die neoliberalen Subventionen eingetauscht werden, die uns die Regierung heute anbietet.

Angesichts dieses Szenarios schlagen wir von der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen, gemeinsam mit Hunderten von Aktivist*innen auf nationaler Ebene in verschiedenen Städten des Landes, einen unbefristeten Generalstreik vor, mit einem Kampfplan, um die Regierung von Sebastián Piñera zu Fall zu bringen – ohne Vertrauen in dieses Parlament, dieser Diebeshöhle, und ohne einen Verhandlungstisch mit dieser mörderischen Regierung.

Mit dieser Perspektive haben wir Koordinationsorgane, Versammlungen zur Stärkung der Mobilisierung und des Kampfes, Koordinationen zwischen Studierenden, Arbeiter*innen, Jugendlichen und Künstler*innen eingerichtet. In der nördlichen Stadt Antofagasta, einer Bergbaustadt, in der Genoss*innen wie Nicolás Bustamante oder Patricia Romo an vorderster Front stehen, haben wir ein großes Sicherheits- und Schutzkomitee gegründet, in dem sich die Lehrer*innen, die Bergbaugewerkschaften, die Studierenden und Aktivist*innen organisieren, die einen wichtigen Widerstand gegen die Repression der Regierung von Sebastián Piñera organisieren.

Wir haben dies auch in der Mitte des Landes getan, im Zentrum von Santiago, zusammen mit der Gewerkschaft des Kulturhauses GAM, der Gewerkschaft des Museums für Erinnerung und haben Dutzende von Aktivist*innen mit der Perspektive des Generalstreiks und des Sturzes der Regierung Sebastián Piñeras koordiniert.

In der Stadt Valparaíso kämpfen wir als Teil des „Tisches der sozialen Einheit“ dafür, dass es eine erweiterte Koordinierung wird, mit Hunderten von Studierenden und Arbeiter*innen, damit sie die Richtung der Politik bestimmen können. Dort wurde auch für einen unbefristeten Streik bis zum Sturz der Regierung gestimmt.

Gleichzeitig sehen wir, dass die Kraft, die sich zu dieser Zeit auf den Straßen gezeigt hat und der Zorn gegen dieses Regime, dem Erbe der Militärdiktatur, gegen die Repression nicht nur der Polizei, sondern auch des Militärs, eine enorme Perspektive eröffnet.

Deshalb schlagen wir vor, uns auf einen Generalstreik vorzubereiten, um die Regierung zu stürzen und in ihrer Asche, auf den Trümmern dieser Regierung, eine Freie und Souveräne Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Diese darf keine Institution dieses verfaulten Staates sein, sondern in ihr müssen wir Studierenden, Arbeiter*innen und Jugendliche über die Perspektiven diskutieren, dieses Erbe der Militärdiktatur zu stürzen.

Denn, wie die Schilder auf den Demonstrationen es ausgedrückt haben, geht es nicht um die Fahrpreiserhöhung von 30 Pesos von vor ein paar Wochen. Es sind 30 Jahre Erbe der Pinochet-Diktatur, 30 Jahre Neoliberalismus, Ungleichheit, Elend, Ausbeutung und ein System, das gegen die Armen und Jugendlichen aufgebaut wurde.

Heute haben wir die Möglichkeit, all das niederzuwerfen und beim Aufbau einer anderen Gesellschaft voranzukommen.

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