Der Krieg in der Ukraine und die Zerwürfnisse in der Weltlage

18.11.2022, Lesezeit 60 Min.
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Bild: Izquierda Diario

Spannungen zwischen den Weltmächten, eine schwere Wirtschaftskrise und neue Klassenkämpfe: Wo steht die Welt im Herbst 2022?

Dieser Artikel ist eine gekürzte Version des Diskussionspapiers zur internationalen Situation, das der Autor für den Gründungskongress von Révolution Permanente vorbereitet hat, der im Dezember in Frankreich stattfindet. Er erschien zuerst am 23. Oktober 2022 bei Ideas de Izquierda.

Der Krieg in der Ukraine hat die geopolitischen Spannungen zwischen den Hauptpolen des Weltsystems verschärft und gleichzeitig die Aussicht auf eine schwere Wirtschaftskrise eröffnet. Dies sind Faktoren, die die Spannungen und Krisen der Regime beschleunigen, was einen Sprung im Klassenkampf ankündigt, auch wenn dies im Moment das rückständigste Element der Situation ist.

Die Krise des kapitalistischen Gleichgewichts

Im Dokument für die internationale Diskussion des 19. Kongresses der argentinischen Partei Sozialistischer Arbeiter:innen (PTS) erklärte Claudia Cinatti, die Verfasserin des Dokuments, Anfang Juni, dass:

Mit der kapitalistischen Krise von 2008, die den Jahrzehnten der neoliberalen Hegemonie ein Ende setzte und die durch die Pandemie und die Klimakrise verschärft wurde, ist eine Periode angebrochen, in der die tiefgreifenden Tendenzen der imperialistischen Epoche der Kriege, Krisen und Revolutionen (Lenin) wieder an der Tagesordnung sind. Der Krieg in der Ukraine bestätigt diese Entwicklung.

In den 1920er Jahren analysierte Trotzki die Aussichten der internationalen Situation in den Begriffen eines ‚kapitalistischen Gleichgewichts‘: ein dynamisches Konzept, das sich aus der Betrachtung der internationalen Situation als Gesamtheit, als dialektische Beziehung zwischen Wirtschaft, Geopolitik und Klassenkampf ergab, um die tieferen Tendenzen zu verstehen, die dieses instabile Gleichgewicht durchbrechen könnten.1

Wenn man diese Definitionen Trotzkis aufgreift, zeigen die strategischen Konsequenzen des Ukraine-Krieges, dass wir zumindest mit einer erheblichen Verschlechterung (oder gar Bruch?) des ‚kapitalistischen Gleichgewichts‘ konfrontiert sind. Das bedeutet, dass sich die Spielräume für eine evolutionäre Entwicklung verringern und dass Krisen, der Militarismus der Großmächte sowie Tendenzen zur Revolution und Konterrevolution in die Logik der Situation eingebettet sind. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine/NATO ist heute der wesentliche Faktor in der internationalen Lage und wird es auch in der kommenden Periode bleiben.

Ferner schrieb sie auch, dass:

Trotz dieses erheblichen Maßes an Unbestimmtheit ist klar, dass es sich um einen Konflikt mit einer strategischen Dimension handelt, der bereits zu geopolitischen Neuordnungen und historischen Wendungen geführt hat, wie die Wiederaufrüstung Deutschlands oder die Aufgabe der Neutralität durch Schweden und Finnland, die ihre Aufnahme in das von den USA hegemonial geführte atlantische Bündnis forderten.

Kurzfristig profitiert die Regierung von Joe Biden vom Krieg in der Ukraine und nutzt die russische Invasion, um die Hegemonie der USA gegenüber den EU-Mächten neu zu formieren, mit Blick auf den Streit mit China, der die größte Herausforderung für die Führungsrolle der USA darstellt. Die Aussicht auf einen langwierigen Krieg, der das wahrscheinlichste Szenario zu sein scheint, belastet jedoch den westlichen Block und bringt die konkurrierenden Interessen der imperialistischen Mächte zum Vorschein.

Aber auch außerhalb des ‚Westens‘ hat der Krieg die Grenzen der US-Führung aufgezeigt. Den USA ist es nicht gelungen, andere wichtige Verbündete wie Indien, Mexiko und Brasilien zu einer automatischen Blockbildung zu bewegen, einschließlich strategischer Verbündeter wie Israel, die sich aus verschiedenen Gründen nicht der Abstimmung der USA gegen Russland in der UNO angeschlossen haben.

Kurz gesagt, der Krieg in der Ukraine ermöglichte kurzfristig eine Stärkung der US-Führung, die durch den chaotischen Rückzug aus Afghanistan und die Jahre der Präsidentschaft Trumps geschwächt war. Aber das allein reicht nicht aus, um den Niedergang der US-Hegemonie umzukehren und eine ’neue Weltordnung unter Führung des US-Imperialismus‘ zu begründen, wie Biden behauptet.2

Seitdem ist nicht nur der Krieg in der Ukraine weitergegangen. Auch die bedrohliche Aussicht auf den Einsatz von Atomwaffen ist im Verlauf des Konflikts immer deutlicher geworden. Der Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan und die Reaktion Pekings haben ebenfalls die Risiken des geopolitischen Streits zwischen den Vereinigten Staaten und China deutlich gemacht. Kurzfristig und für den gesamten Planeten ist der Anstieg der Inflation ein neues Merkmal. Diese ist nicht konjunkturell bedingt, sondern spiegelt das Ungleichgewicht und die Veränderungen in der Weltlage wider. Sie eröffnet die unmittelbare Aussicht auf eine Rezession in der internationalen Wirtschaft im Jahr 2023. In einigen großen Volkswirtschaften könnte diese sogar schon früher eintreffen, was durch die starken geopolitischen Spannungen, insbesondere den offenen Krieg in der Ukraine, noch verstärkt wird.

Insbesondere die strukturelle Krise, in die die kapitalistische Wirtschaft gerät, kann den noch rückständigsten Faktor der Situation beschleunigen – den Klassenkampf. Wie Trotzki im bereits zitierten Bericht sagt:

Infolgedessen verschärft sich auf Grund des abnehmenden Nationaleinkommens der Klassenkampf. Darin liegt der ganze Sinn. Je kleiner das materielle Fundament unter den Füßen wird, desto mehr müssen die Klassen und Gruppen um ihren Anteil an diesem Nationaleinkommen kämpfen. Dieser Umstand darf keinen Augenblick außer Acht gelassen werden. Wenn Europa in seinem Nationalvermögen für dreißig Jahre zurückgeschleudert ist, so heißt es nicht, dass es um dreißig Jahre jünger geworden ist. Nein, es wurde um 30 Jahre ärmer, aber im Sinne der Klassen wurde es um 300 Jahre älter. So steht es mit dem Wechselverhältnis zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie.3

Diese Dynamik hat bereits begonnen und wird sich in dem von der Krise am unmittelbarsten betroffenen Kontinent, nämlich Europa, noch verstärken. Länder wie Deutschland, das bislang und auch in früheren Krisen ein Pol der Stabilität war, werden allen Prognosen zufolge auf eine lange Phase des Niedergangs zusteuern.

Über die Dynamik des Krieges und die Aussichten

Seit September sind wir in eine dritte Phase des Konflikts eingetreten,4 in der die ukrainischen Streitkräfte in die Offensive übergehen, einen Teil des verlorenen Gebietes zurückgewinnen und eine große Unruhe in den russischen Reihen und ihrem Generalstab auslösen. Die russische Seite reagiert darauf mit einer Teilmobilmachung von Reservisten und immer offeneren nuklearen Drohungen.

Die wiederholte Ankündigung einer ukrainischen Gegenoffensive bei Cherson im August gab den Anstoß für die strategische Neupositionierung der russischen Divisionen im Sommer. Viele der im Oblast Charkiw stationierten Truppen wurden an die Südfront verlegt, wodurch die ukrainische Ostfront unzureichend verteidigt wurde. Kiewer Strategen schufen mit Hilfe westlicher Militärgeheimdienste ein für sie günstiges, zahlenmäßiges Übergewicht an Truppen und Material, das die Grundlage für die schnelle Rückeroberung der Gebiete um die zweitgrößte Stadt der Ukraine bildete. Die Befreiung von Charkiw war zwar kostspielig, hat aber die Moral selbst der am meisten geprüften Einheiten im Donbass wiederhergestellt. Sie gingen in die Offensive und eroberten die Stadt Lyman zurück, ein wichtiges Zentrum für die Logistik. Es handelt sich um das erste Zentrum, das seit der Ankündigung der Annexion der vier südöstlichen Oblaste Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk an die Russische Föderation fiel. Derzeit ist der Großteil der Moskauer Truppen im Oblast Saporischschja stationiert. Sie befürchten, dass die wiedererstarkten ukrainischen Truppen ihre Linien durchbrechen, indem sie die Hafenstadt Berdjansk am Asowschen Meer ins Visier nehmen und so den Landkorridor zwischen Russland und der Krim unterbrechen, der in den ersten Monaten des Konflikts nur mühsam hergestellt werden konnte. In diesem Fall wäre die militärische Niederlage nicht taktisch wie im Fall von Charkiw, sondern strategisch.

Diese militärischen Rückschläge veranlassten Putin zu einer Teilmobilmachung von Reservisten. Doch sehr „teilweise“ scheint sie wohl nicht zu erfolgen, obwohl sie immer noch selektiv und nicht vollständig ist. 300.000 scheint eine plausible Zahl zu sein, während es starke Gerüchte gibt, dass es sich nur um die erste Welle handelt und die Gesamtzahl mehr als 1.000.000 betragen könnte. Die Mobilisierung ist stark auf Dörfer und Kleinstädte konzentriert, wo bis zu zehn Prozent der erwachsenen Männer (außer alte Menschen) betroffen sind, während der Anteil in größeren Städten viel geringer ist und in Moskau am geringsten ausfällt. Die Zahlen sind bei ethnischen Minderheiten tendenziell höher: Tataren, Burjaten, Tuwiner und andere Minderheiten sind bei der Rekrutierung im Vergleich zur slawischen Bevölkerung unverhältnismäßig stark vertreten, eine Unterscheidung mit eindeutig rassistischem Inhalt.

Mit dieser Entscheidung versucht Putin einen reaktionären Krieg zu führen, ohne das Leben der großen Mehrheit der Bevölkerung zu stören, die dem Krieg bisher gleichgültig gegenüberstand. Dennoch geht er vorsichtig vor und versucht, keine Gruppen zu verärgern, die sich organisieren könnten. Die unmittelbar betroffenen Gruppen sind die politisch am stärksten benachteiligten. Gleichzeitig sind die Grenzen fließend, der Kreml will die Menschen nicht in die Enge treiben. Studierende an öffentlichen Universitäten haben eine Galgenfrist erhalten. Im Moment versucht ein großer Teil der Bevölkerung mehr schlecht als recht, seine Gleichgültigkeit in dem Glauben aufrechtzuerhalten, dass er nicht betroffen sein wird. Doch das könnte sich rasch ändern, wenn Putin mit den nächsten Mobilisierungswellen fortfährt. Seine Flucht nach vorn und die Radikalisierung der kriegstreiberischsten Sektoren könnten dazu führen, dass der implizite Pakt zwischen den Massen und der Macht gebrochen wird. Dieser bestand darin, der Autokratie als Gegenleistung für die Stabilität nach den katastrophalen und traumatischen 1990er Jahren zuzustimmen. Die parasitäre herrschende Kaste, die sich die Beute der ehemaligen UdSSR im Einvernehmen mit privaten Oligarchen angeeignet hat, fürchtet die Möglichkeit, dass diese Unterstützung brechen könnte. Ein Erwachen der russischen Massen angesichts der hohen Kosten dieses reaktionären Krieges könnte den Zyklus verlorener Kriege und Revolutionen, der die Geschichte Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt hat, wieder in Gang setzen.

Für die USA haben die ukrainischen Vorstöße die Situation auf widersprüchliche Weise verkompliziert. Denn die russischen Rückschläge haben das folgende Dilemma konkretisiert: Wie kann man sicherstellen, dass Russland in der Ukraine nicht gewinnt und gleichzeitig keinen potenziellen globalen Atomkrieg auslöst? In seiner Rede zur Annexion der teilweise besetzten Gebiete der Ukraine (Donezk und Luhansk im Osten sowie Cherson und Saporischschja), im Süden) verwies Wladimir Putin auf den „Präzedenzfall“ von Hiroshima und Nagasaki. Darin zeigt sich sowohl die Bereitschaft Moskaus, zum letzten atomaren Mittel zu greifen, als auch die offensichtliche Ermüdung der russischen und prorussischen Truppen auf dem Schlachtfeld sowie die Notwendigkeit, auf immer größere Drohungen zurückzugreifen, um die Kriegsinitiative Kiews zu bremsen. Die Aufforderung des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, „präventiv“ militärisch gegen eine Atommacht vorzugehen, zeigt, wie hoch das Risiko ist, Atomsprengköpfe zu einer konventionellen Waffe zu machen. Es zeigt jedoch auch, wie groß Kiew die Bedrohung wahrnimmt.

Washington ist besorgt. Das zeigen die „Enthüllungen“ der New York Times über die Ermordung der russischen Nationalistin Darya Dugina, die im August für einiges Aufsehen sorgten. Die US-Geheimdienste machen für den Mord einen Teil der ukrainischen Regierung verantwortlich. Ebenso zeigt sich die Besorgnis der USA in den Äußerungen seines Präsidenten Joe Biden, der über Putin äußerte: „Ich schließe ein Treffen mit ihm auf dem G20-Gipfel in Indonesien nicht aus.“ Und: „Wir versuchen zu sehen, ob er einen Ausweg aus der von ihm durch die Invasion in der Ukraine geschaffenen Situation findet“. Mit dieser ausdrücklichen Botschaft, den Krieg nicht auf das Territorium der Russischen Föderation zu tragen, versuchen die USA, die Launen Kiews sowie ihrer eifrigsten europäischen Unterstützer – allen voran Polen – zu besänftigen, die darauf erpicht sind, einen endgültigen Schlag gegen die Russ:innen und Moskau zu führen. Die Supermacht hat die Ukrainer:innen bewaffnet, ausgebildet und finanziert und verfolgt dabei ein klares Ziel: Russland muss den Krieg verlieren, aber Putin darf seine Glaubwürdigkeit nicht verlieren. Andernfalls wird die Aussicht auf ein nukleares Armageddon plötzlich realistisch. Der gleichgültige Einsatz des atomaren Instruments in regionalen Konflikten würde die Weltordnung untergraben und die globalen Interessen der USA gefährden.

Der Angriff auf die Krimbrücke zeigt die oben beschriebene Dynamik. Die US-Presse berichtet, dass ukrainische Spezialkräfte hinter dem Anschlag auf das mit 18,1 Kilometern längste Viadukt Europas stecken, obwohl keine offiziellen Angaben gemacht wurden. Für Putin war diese Brücke, die er selbst einweihte, eine unüberwindbare „rote Linie“. Moskau sah sich gezwungen, eine Antwort zu geben, die vorerst nur konventionell, aber hart ist. Das Raketenfeuer verschonte keine ukrainische Region: von der Hauptstadt Kiew bis zur Hafenstadt Odessa (der „russischen“ Perle am Schwarzen Meer), vom größtenteils russischsprachigen Charkiw bis zum eher nationalistischen und mitteleuropäischen Lemberg. In dieser Machtdemonstration kam die Atombombe nicht zum Einsatz. Doch sie wird von den radikaleren Sektoren Moskaus immer häufiger gefordert. Putin sieht sich daher gezwungen, zu einfachen, aber umfassenderen Vergeltungsmaßnahmen zu greifen. Das Ausmaß der russischen Vergeltungsmaßnahmen wird durch die Tatsache unterstrichen, dass mindestens drei Marschflugkörper über dem Himmel der kleinen, verfassungsmäßig neutralen Republik Moldau flogen. Gleichzeitig hat die Vergeltung die zusätzliche Funktion, die Schwäche Russlands zu kaschieren, das nicht in der Lage ist, seine entscheidende logistische Infrastruktur angemessen zu schützen.

Die Vergeltungsmaßnahmen Russlands deuten auf ein baldiges Wiederaufflammen des bewaffneten Konflikts hin. Moskau könnte insbesondere zwei neue Ansätze verfolgen: Die Zerstörung der Kraftwerke des angegriffenen Landes und der Angriff auf Kommandozentren. Erstere Maßnahme könnte wenige Monate vor Wintereinbruch den Widerstandswillen des überfallenen Volkes brechen. Die Konsequenzen würden in erster Linie die Zivilbevölkerung betreffen, die aufgrund der Unterbrechung der russischen Gaslieferungen bald nicht mehr in der Lage sein könnte, Gebäude in Großstädten zu beheizen. Der zweite Punkt ist umso bedeutsamer, als Selenskyjs Präsidialdekret ausdrücklich jegliche Waffenstillstandsverhandlungen mit Russland untersagt. Die Existenz von gemeinsamen Dialogpartnern hat bisher verhindert, dass die russischen Offensiven Regierungsgebäude und den Präsidentenpalast anvisiert haben, aber das könnte sich ändern.

Die Auswirkungen des Krieges auf die sterbende Weltordnung der Nachkriegszeit

Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland hat den Zerfall dessen beschleunigt, was von der Weltordnung bis Anfang dieses Jahres noch übrig war. Wir sind jedoch noch nicht in den Dritten Weltkrieg eingetreten. Dieser würde nur dann stattfinden, wenn sich Großmächte wie die USA, China und Russland direkt bekriegen würden. Seit dem 24. Februar dieses Jahres hat sich der Wettbewerb zwischen ihnen jedoch verschärft. Wie es in dem von uns bereits zitierten Dokument heißt:

Vor diesem Hintergrund muss die Bedeutung des gegenwärtigen Krieges verstanden werden. Es ist nicht so, dass es früher keine Kriege gegeben hätte. Im Gegenteil. Mit dem US-amerikanischen Triumph im Kalten Krieg begann nicht die Ära der ‚friedlichen Globalisierung‘. Neben den imperialistischen Kriegen im Irak und in Afghanistan (und dem Krieg gegen den Terrorismus als Strategie) gab und gibt es zahlreiche regionale Konflikte (Jemen, Israel-Palästina-Libanon), in die Großmächte eingreifen, wie z.B. der Bürger:innenkrieg in Syrien. Sogar auf europäischem Boden fanden andere schreckliche Kriege statt, wie die Balkankriege. Im Allgemeinen handelte es sich jedoch um asymmetrische Kriege oder begrenzte Konflikte. Der Krieg in der Ukraine hebt sich von diesen Kriegen ab, weil er eine globale Dimension hat und weil die beiden großen Atommächte und Kontrahenten des Kalten Krieges beteiligt sind.

Peking seinerseits schätzt Moskaus Abenteuer nicht, weil es nicht gewillt ist, sich offen mit Washington anzulegen. Es kann es sich aber nicht leisten, Russland zu verlieren, weil es dann von feindlichen Mächten, angeführt von den Vereinigten Staaten, umzingelt wäre. Auf globaler Ebene hält es ein fragiles außenpolitisches Gleichgewicht aufrecht. China ist hin- und hergerissen zwischen seinem politischen Bedürfnis, das es mit Russland teilt, sich der von den USA entworfenen Weltordnung zu widersetzen, und seiner starken wirtschaftlichen und technologischen Abhängigkeit vom Westen. Das erklärt seine Zurückhaltung auf der internationalen Bühne. Russlands Schwierigkeiten im Krieg beschleunigen seinen Niedergang als Regionalmacht – wie es Aserbaidschans neuer Vorstoß gegen Armenien im Kaukasus zeigt. Dies ermöglicht China, Allianzen zu schmieden und die Energieversorgung in Zentralasien zu sichern, wie das jüngste Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand deutlich machte.

Sowohl Russland als auch China und die USA bemühen sich auf der internationalen Bühne fieberhaft um Verbündete, um sie im immer härter werdenden zwischenstaatlichen Kampf einzusetzen. Andere Länder, insbesondere Japan, Indien, die Türkei und Polen, nutzen währenddessen den Konflikt, um an Einfluss und Prestige zu gewinnen. Trotz der Absicht der USA, die Ost-West-Spaltung aus der Zeit des Kalten Krieges wiederherzustellen, ist ihre Reichweite über die europäische Bühne hinaus begrenzt. Das zeigt die große Bruchlinie zwischen Nord und Süd, die durch den Krieg in der Ukraine offen zutage getreten ist. Für China und Russland ist es eine einmalige Gelegenheit, in die ehemalige Dritte Welt einzudringen. Das Agieren der USA stärkt dort antiamerikanische Ressentiments, die sich zum Teil auch gegen die westlichen Mächte als Ganzes richten. Die Vereinbarung zwischen Saudi-Arabien und Russland, die Ölpreise zu erhöhen, ist ein akutes Beispiel hierfür und ein Schlag ins Gesicht für Joe Biden. Umgekehrt hat die UN-Vollversammlung im Oktober die von Russland in vier Regionen der Ukraine abgehaltenen Referenden als illegal verurteilt und die internationale Gemeinschaft aufgefordert, sie nicht anzuerkennen. Dabei haben 143 Länder die Abstimmung gebilligt. Dieser Vorstoß der USA stützt sich auf die Position vieler Länder, die Souveränität und territoriale Integrität von Staaten zu achten.

Der Einfluss der USA bleibt trotz ihres interventionistischen Sprungs auf der europäischen Bühne begrenzt. Dies ist auf die tiefe innere Zerrissenheit zurückzuführen, die sie seit der Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 plagt. Im Falle der Ukraine besteht eine schwierige Gratwanderung zwischen der Versuchung, den russischen Feind verbluten zu lassen, und der zuvor erläuterten Notwendigkeit, eine Eskalation des Konflikts zu verhindern, die ein direktes Eingreifen erforderlich machen würde. Das liegt auch daran, dass die chinesische Gefahr in den Augen der Amerikaner:innen die russische Gefahr überwiegt. Hierin liegt die Bedeutung der Verknüpfung des Quad-Abkommens mit Indien, Australien und Japan zur Eindämmung Chinas mit der Agenda der NATO, wie es auf dem Madrider Gipfel geschah. Was Europa anbelangt, so hat der Krieg nach einer turbulenten Zeit der transatlantischen Beziehungen unter der vorherigen US-Regierung die beiden Seiten der NATO wieder zusammengeführt. Mittelfristig existieren jedoch große Unsicherheiten, die auf die Achillesferse der US-Politik zurückzuführen sind: die angespannte interne Situation. Sollte Donald Trump oder ein anderer republikanischer Trumpist die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 gewinnen, wäre eine große Spaltung der EU in ein pro-amerikanisches und ein pro-„autonomes“ Lager zu erwarten. Im Gegensatz zur Trump-Präsidentschaft hat sich der parteiübergreifende Konsens gegen China jedoch gefestigt.

Die USA sind in eine Reihe von Fronten verwickelt, angefangen beim innenpolitischen Chaos, dem Krieg in der Ukraine und der immer härter werdenden Auseinandersetzung mit China. Dies gibt anderen Akteuren auf der internationalen Bühne und potenziellen neuen Konflikten, insbesondere in Europa, Raum. Wir beziehen uns nicht auf die Situation auf dem Balkan, eine Wunde, die immer und vor allem in letzter Zeit wieder aufzubrechen droht. Vielmehr verschärfen sich die gegenseitigen Bedrohungen zwischen Griechenland und der Türkei, was einen zweiten Krieg in Europa auslösen könnte. Griechenland ist entsetzt über den spektakulären geopolitischen Aufstieg der Türkei. Vor dem Hintergrund der relativen politischen Schwäche beider Regierungen und dem damit verbundenen Versuch, die nationalistischen Gefühle der jeweiligen Öffentlichkeit zu schüren, ist ein reaktionärer Konflikt nicht auszuschließen.

Chinas Schwächen kommen an die Oberfläche

Seit Jahrzehnten erlebt China eine Phase raschen Wirtschaftswachstums und des Aufstiegs zu einer regionalen und globalen Macht. Doch die historischen Spielräume der Pekinger Bürokratie schrumpfen erheblich. Außenpolitisch setzt ihnen das Schwächeln der neoliberalen Globalisierung und eine aggressivere US-Politik zu. Intern existieren zunehmende Schwierigkeiten beim Übergang zu einem neuen Wirtschaftsmodell. Durch die Zero-Covid-Politik haben diese sich noch verschärft und in der Mittelschicht, der wichtigsten reaktionären Unterstützungsbasis des Regimes, Misstrauen hervorgerufen.

Die Krise der neoliberalen Globalisierung wirkt sich in zweierlei Hinsicht auf China aus: Immer mehr imperialistische Länder versuchen, die Zufuhr chinesischer Waren in ihre Märkten zu beschränken, während sie gleichzeitig Investitionen und den Erwerb industrieller oder technologischer Güter seitens China immer stärker einschränken. Die USA und die EU wollen den Klimaschutz instrumentalisieren, um chinesische Unternehmen von ihren Märkten auszuschließen, und streben eine Einigung über gemeinsame Handelsregeln an, um den Marktzugang für Unternehmen zu beschränken, „die die Standards für niedrige Kohlenstoffintensität nicht einhalten“ (Joe Biden erklärte, das Ziel sei, „schmutzigen Stahl aus Ländern wie China“ zu blockieren). Noch gravierender ist, dass die USA den Druck auf die chinesische Chipindustrie verdoppelt haben, und zwar durch einen verspäteten, aber nichtsdestotrotz unternommenen Versuch, die Produktion von Halbleiterfabriken zurückzuholen und sie gleichzeitig in China zu verhindern. Sie bewerkstelligen dies durch Maßnahmen wie die Verschärfung der Ausfuhrbeschränkungen für Chipfertigungsanlagen und durch die kürzlich ins Leben gerufene „Chip 4“-Allianz, der auch Taiwan, Südkorea und Japan angehören und die darauf abzielt, eine auf die USA konzentrierte Halbleiterlieferkette zu schaffen, die das chinesische Festland ausschließt. Die neue US-Politik erlaubt es den chinesischen Chipherstellern zwar, ihre Kapazitäten für die Produktion von Chips der älteren Generation zu erweitern, so dass US-Unternehmen weiterhin Geräte auf diesem lukrativen Markt verkaufen können. Doch sie zielt darauf ab, chinesische Unternehmen an der Produktion von High-End-Halbleitern zu hindern oder zu bremsen, sodass ein dauerhafter, großer Abstand zwischen dem technologischen Niveau der USA und ihrer Verbündeten und dem Chinas besteht. Kurzum, es handelt sich um einen Schlag gegen den technologischen Fortschritt Chinas auf unbestimmte Zeit, eine Reihe von Maßnahmen, die nach Jahren der Kopplung zwischen den großen US-Tech-Unternehmen und dem Herstellungszentrum China wie ein Gegenschlag wirken, aber tödlich sein könnten: Nachdem die Trump-Regierung 2020 Beschränkungen für Chipexporte eingeführt hatte, war das weltweite Smartphone-Geschäft von Huawei am Boden zerstört. Andererseits hatte die Diversifizierung des verarbeitenden Gewerbes – auch im Zusammenhang mit den katastrophalen geschäftlichen Folgen der Zero-Covid-Politik – an Tempo gewonnen. Eine beträchtliche Anzahl multinationaler Unternehmen hatte ihre Investitionen eingestellt und ihre Bemühungen um die Entwicklung anderer internationaler Produktionsstandorte beschleunigt, China jedoch wegen der Bedeutung seines Binnenmarktes nicht aufgegeben.

Geopolitisch und militärisch versuchen die USA, eine Einkreisung Chinas voranzutreiben, indem sie vor allem die Angst vor dem asiatischen Riesen im Indopazifik nutzen. Die russische Aggression könnte die USA ebenso wie Japan, das seine militärischen Kapazitäten und Beziehungen zu Taiwan bereits verstärkt hat, und Südkorea, das in diesem Jahr einen pro-amerikanischen Präsidenten gewählt hat, davon überzeugen, ein künftiges ukrainisches Szenario für Taiwan zu vermeiden. Die Vereinigten Staaten stärken ihrerseits weiterhin die zuvor erwähnte Quad, eine Allianz gegen China mit Indien, Japan und Australien. Es sei daran erinnert, dass Washington mehr als 28.000 Soldaten auf der koreanischen Halbinsel und 57.000 Soldaten auf 120 Stützpunkten in Japan stationiert hat.

Im chinesischen Inland stellt die Krise des Konzerns Evergrande und anderer Unternehmen ein Beispiel für die historische Kreditblase und die Inflation von Vermögenswerten, Spekulationen und rücksichtslose schuldenfinanzierte Investitionen dar. Der Immobilienriese befindet sich in einem Umstrukturierungsprozess, mit über einer Million unvollendeter Häuser und einer Verschuldung von über 300 Milliarden Dollar, was 2 Prozent des chinesischen BIP entspricht. Dieser Prozess betrifft die gesamte chinesische Wirtschaft und zieht auch staatliche Unternehmen, lokale Regierungen und sogar private Haushalte in Mitleidenschaft.

Die Kapitalüberakkumulation in diesem Sektor und die übermäßige Verschuldung haben zu massiven unproduktiven Investitionen geführt. Kurz vor der globalen Krise 2008/9, aber vor allem danach, begann die Verschuldung Chinas schneller zu steigen als das BIP, was zu einer immer größeren Kluft zwischen den sich beschleunigenden Schuldendienstkosten und der sich verlangsamenden Schuldendienstfähigkeit führte – ein Beweis für systematische unproduktive Investitionen in großem Umfang. Solange China nicht einen völlig neuen Motor des Wirtschaftswachstums entdeckt, der den riesigen schuldenbedingten Wachstumsüberschuss ausgleicht, der jetzt in unproduktive Investitionen fließt, wird es keine produktive Lösung für dieses Problem geben. Zumal sich die Pekinger Bürokratie trotz ihres neuen Diskurses vom „gemeinsamen Wohlstand“, der schnell in den Hintergrund getreten ist, weigert, den Konsum durch eine massive Umverteilung der Einkommen zugunsten der normalen Haushalte anzukurbeln. Obwohl die chinesische Regierung seit Jahren von „Rebalancing“ spricht, hat sie nie versucht, den Anteil des Konsums am BIP zu erhöhen, was die Grundlage des chinesischen Modells, das auf der Überausbeutung der Arbeitskräfte beruht, grundlegend verändern würde.

Eine radikale Veränderung der Verteilung des Volkseinkommens kann nur durch einen Kampf von unten erzwungen werden. Daher rühren die Ängste der Bürokratie vor jeder unabhängigen Aktion der Massen und ihre demagogischen Reden, die versuchen, die bestehende Wut gegen die Reichen, die superintensiven Arbeitsrhythmen und die starke soziale Ungleichheit in Richtung kosmetischer Veränderungen zu lenken, aber innerhalb des gleichen Wirtschaftsmodells zu belassen.

Diese Schwierigkeiten beim Übergang zu einem neuen Wirtschaftsmodell schwächen den Gesellschaftsvertrag mit der Mittelschicht. Die Hunderten Millionen Chines:innen, die zu dieser Bevölkerungsgruppe gehören, haben von den Reformen profitiert, Zugang zu Universitäten und gut bezahlten Arbeitsplätzen erhalten, Bildung und Komfort für ihr einziges Kind gesichert und Immobilienvermögen angehäuft. Sie haben auch von einem ungezügelten Konsum und einem neuen Lebensstil profitiert, allerdings um den Preis eines verschärften Wettbewerbs aller gegen alle und eines starken Individualismus. Doch anders als in der Vergangenheit fällt es dem Regime heute immer schwerer, den Wunsch der Bevölkerung nach sozialem Fortschritt zu erfüllen. Die Universitäten bilden weiterhin Menschen für einen bereits gesättigten Arbeitsmarkt aus, was zu einer steigenden Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen führt, die gezwungen sind, schlecht bezahlte Jobs auf Marketingplattformen oder im Liefersektor anzunehmen.

Während Angestellte von Großunternehmen und Beamt:innen überleben können, gilt dies nicht mehr für Selbstständige und Kleinunternehmer:innen. Die Pandemie hat die Lebensgrundlage von Millionen kleiner und mittlerer Unternehmen untergraben, deren Margen bereits zuvor unter Druck geraten waren. In diesem Jahr kam es in der zentralchinesischen Provinz Henan zu einem friedlichen Protest von Hunderten von Sparer:innen, die vergeblich versuchten ihre Ersparnisse einzufordern, als fünf ländliche Banken die Konten von 300.000 Menschen einfroren. Später entwickelte sich eine Bewegung zum Boykott der Rückzahlung von Immobilienkrediten angesichts der verpassten Fristen für die Übergabe gekaufter Wohnungen.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Schwierigkeiten des Regimes, den Wunsch der Bevölkerung nach sozialem Fortschritt zu befriedigen, haben die drakonischen Maßnahmen des strikten Lockdowns in großen chinesischen Städten wie Schanghai zu einem gewissen Überdruss an dieser zunehmenden Einmischung des Staates in das Alltagsleben geführt, der sich in Form von Unruhen und einer größeren, auch öffentlich geäußerten Unzufriedenheit in diesem Sektor, der von den Reformen profitiert hat, niedergeschlagen hat. Stimmen für einen Bruch mit den Normen und Werten des sozialen Erfolgs um jeden Preis, des permanenten Wettbewerbs und des Kultes der Arbeit werden lauter. Diese Kluft könnte, wenn sie sich vertieft und zu einem Bruch führt, für das KPCh-Regime tödlich sein, da diese Sektoren seine wichtigste soziale Basis darstellen und es ihm ermöglichen, eine reaktionäre Führungsschicht über die Arbeiter:innen und insbesondere die Migrant:innen zu etablieren, die in Wirklichkeit für das chinesische Wunder verantwortlich sind.

All diese Widersprüche, die bisher verborgen waren, aber immer mehr zum Vorschein kommen, sorgten im Vorfeld des 20. Nationalkongresses der Kommunistischen Partei Chinas für ungewöhnlich viel Unmut. Auffallend ist, dass die Regionen, die am stärksten unter gesundheitlicher Beobachtungsmaßnahmen stehen, dieselben sind, die die wirtschaftliche Basis von Xis Rivalen bilden, wie die auf Außenhandel Städte Shenzhen und Shanghai, wo Xis Wirtschafts- und Außenpolitik eine echte Bedrohung darstellt. Ob diese Elemente auf eine Instabilität des Regimes hindeuten, muss sorgfältig geprüft werden.

Europa und Deutschland im Auge des geopolitischen und wirtschaftlichen Sturms

Das erste geopolitische Ergebnis des Krieges in der Ukraine ist, dass ein neuer Eiserner Vorhang errichtet wurde, der noch einige Zeit bestehen bleiben wird. Eine erste Folge ist der Bruch der gegenseitigen Energieabhängigkeit zwischen Deutschland und Russland, die vor einem halben Jahrhundert, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, von Bundeskanzler Willy Brandt und dem damaligen Präsidenten der UdSSR, Leonid Breschnew, initiiert wurde.

Dies wird die strategischen Pläne vereiteln, die der deutsche Block die letzten dreißig Jahre lang verfolgt hatte. Wie Marco D’Eramo in der New Left Review schreibt, argumentiert der australische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Halevi:

Seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der UdSSR hat sich Deutschland bemüht, eine Reihe voneinander abhängiger Volkswirtschaften aufzubauen, die heute im Wesentlichen ein einheitliches Wirtschaftssystem bilden. Dieser Zusammenschluss hat eine westliche (Österreich, Schweiz, Belgien und die Niederlande) und eine östliche (die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Polen und Slowenien) Flanke, die in unterschiedliche Rollen und Sektoren aufgeteilt sind. Die Niederlande fungieren als globale Plattform und Verkehrsknotenpunkt, die Tschechische Republik und die Slowakei als Sitz der Automobilindustrie, Österreich und die Schweiz als Produzenten von Spitzentechnologie und so weiter. Da Deutschland das hegemoniale Zentrum dieses Blocks ist, müssen wir unsere Auffassung von seiner geopolitischen Rolle und globalen Bedeutung revidieren. Insgesamt hat der Block 196 Millionen Einwohner – und nicht nur 83 Millionen in Deutschland –, und ein BIP von 7,7 Billionen Dollar – und nicht nur 3,8 Billionen Dollar aus Deutschland. Damit ist dieser Block die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt – kleiner als die USA und China, aber größer als Japan.5

In der Tat hat der Krieg, wie der Autor sagt, dem Traum eines gemeinsamen eurasischen Raums ein Ende gesetzt, denn er schwächt objektiv die Beziehungen Deutschlands zu China und schließt den russischen Kommunikationskanal zwischen den beiden Ländern. Er verhindert auch, dass Deutschland Russland als Rohstoffquelle nutzt.

Da die geopolitischen Folgen so gravierend sind, bedeuten sie in wirtschaftlicher Hinsicht eine Krise des alten deutschen Industriemodells. Dieses basierte auf dem umfassenden Zugang zu erschwinglichem russischem Gas, einem gut ausgebauten Netz kostengünstiger Zulieferer in Osteuropa (insbesondere in der Ukraine) und in Westeuropa sowie ferner auf dem Siegeszug der Globalisierung, von der Deutschland mit hochwertigen Industriegütern sehr stark profitieren konnte. Hinzu kommt die Überalterung der Bevölkerung in Deutschland, was den hartnäckigen Arbeitskräftemangel noch verschärft. So hielt ein Vorstandsmitglied des Reifenkonzerns Continental im vergangenen Jahr einen leidenschaftlichen und dringenden Appell zur Einwanderung. Es besteht die Gefahr, dass die relative Deindustrialisierung Europas, die sich in diesen neoliberalen Jahrzehnten entwickelt hat und von der Frankreich eines der am stärksten betroffenen Länder ist, auf Deutschland selbst übergreift. Es gibt Anzeichen dafür, dass dies bereits begonnen hat: Ein bekannter nationaler Toilettenpapierhersteller, Hakle, meldete aufgrund der Energiekrise Insolvenz an. Diese Krise macht den deutschen Stahlunternehmen zu schaffen und wird sich auf die Lieferketten in Deutschland auswirken, die auf dieses unverzichtbare Zwischenprodukt angewiesen sind. ArcelorMittal, das ein Stahlwerk im Hamburger Hafen besitzt, dessen Energieverbrauch so hoch ist wie der der beiden norddeutschen Städte Lübeck und Kiel zusammen, ist aufgrund der Energiepreise gezwungen, einige Produktionsbereiche zu schließen. Dies könnte sich letztlich auf die verschiedenen Segmente der Produktionskette auswirken, auf die Hersteller von Autoteilen, die von den steigenden Stahlpreisen betroffen sind, was sich letztlich auch auf die Autobauer selbst auswirken könnte. Strategisch gesehen bedeuten die neuen wirtschaftlichen Koordinaten, dass viele Geschäftsmodelle nicht mehr wettbewerbsfähig sind. So wird es zum Beispiel für Deutschland auch in Zukunft sinnvoll sein, Stahl zu produzieren, allerdings nur die höherwertigen Varianten. Der Übergang dürfte jedoch traumatisch sein, da viele Interessengruppen die Abzweigung der Ressourcen von den traditionellen Industrien, die bisher von den Regierungen verwöhnt wurden, verhindern.

Dieser Sprung in der Deindustrialisierung der führenden Macht Europas und seine zahlreichen politischen und wirtschaftlichen Folgen sind wirklich eine Zeitenwende. Der Höhepunkt des Wohlstands in Deutschland liegt hinter uns. Das Land steuert auf eine Verarmung zu. Dies zeigt auch die Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar. Inzwischen spricht die Regierung sogar von möglichen „Volksaufständen“ (Annalena Baerbock). Der Verlust des wirtschaftlichen Wohlstands, des eigentlichen nationalen Klebstoffs, könnte unvorhersehbare Folgen haben. Geopolitisch gesehen bedroht das innenpolitische Chaos den Automatismus des deutschen Gehorsams gegenüber dem westlichen Lager.

Während die soziale Krise das Potenzial hat, die Stabilität der Bundesrepublik zu untergraben, indem sie innere Risse offenlegt, Forderungen nach mehr Autonomie verstärkt und die Gegensätze zwischen den deutschen Bundesländern (zwischen Berlin und Bayern und vor allem zwischen Ost und West) verschärft, finden auf dem Alten Kontinent auch noch andere Spannungen und Neuordnungen statt. Insbesondere die Politik der deutschen Regierung, ihre Partner bei wichtigen Entscheidungen nicht zu konsultieren, führt zu neuen Spaltungen und der Gefahr einer Zersplitterung der EU.

Erster Paukenschlag: Am 27. Februar 2022 kündigte Olaf Scholz einen 100-Milliarden-Fonds zur Wiederbelebung der nach dem Ende des Kalten Krieges weitgehend abgerüsteten deutschen Streitkräfte und die Bereitstellung eines jährlichen Betrags von mindestens zwei Prozent des BIP für die Bundeswehr an, was Deutschland zur drittgrößten Macht der Welt in Bezug auf die Militärausgaben machen würde.

Zweiter Paukenschlag: Wenige Stunden, bevor sich die EU erneut gegen die Einführung einer EU-Gaspreisobergrenze aussprach, stellte Berlin einen 200-Milliarden-„Schutzschild“ bereit, um die hohen Inlandspreise einzudämmen. Das führte zu neuen Staatsschulden und verärgerte EU-Länder wie Italien, die dem nicht folgen können. Bereits vor dem Krieg und während der Pandemie, diesmal im Einvernehmen mit Frankreich, war ein Europäischer Wiederaufbaufonds eingerichtet worden.

Deutschlands überraschender Unilateralismus der letzten Jahre ist vorerst rein reaktiv, eine Reaktion auf exogene Schocks (erst Covid-19, dann die russische Invasion in der Ukraine). Auch wenn der Rahmen der strategischen Prioritäten noch nicht festgelegt ist, so steht doch fest, dass die Einigung mit anderen EU- und NATO-Mitgliedern, einschließlich der USA, nicht die zentrale Priorität zu sein scheint.

Gleichzeitig hat der Krieg in der Ukraine die Kontrolle, die das deutsch-französische Paar einst in der EU hatte, geschwächt, während der deutsche Unilateralismus Paris verärgert hat und zu einer schweren Krise in den Beziehungen der beiden Länder geführt hat.

Auf gewisse Art und Weise verlagert sich das Gewicht der europäischen Entscheidungsfindung nach Osten. Um diesen Trend zu stoppen, hat sich Deutschland gegen eine weitere Osterweiterung der EU ohne vorherige Reform ausgesprochen. Eine EU mit 30 oder 36 Mitgliedern (d.h. mit der Ukraine) wäre eine ganz andere Sache, warnte Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Abschaffung der Einstimmigkeit bei außenpolitischen Entscheidungen und der Rechtsstaatlichkeit forderte. Ein Führungsstil, der bei vielen Nachbarn der Deutschen – nicht nur in Frankreich, sondern vor allem in Polen – nicht unbemerkt bleibt. Polen, das durch seine strategische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten gestärkt wurde, nutzt die ernsten wirtschaftlichen und energiepolitischen Schwierigkeiten Deutschlands (Sabotage der Nord-Stream-Pipeline), um geopolitische Vorteile zu erzielen und seine unverzichtbare Rolle als Dreh- und Angelpunkt der NATO zu bekräftigen (der polnische Präsident hat bekannt gegeben, dass die Regierung Verhandlungen mit Washington über den Beitritt zum atomaren Austauschprogramm der NATO aufgenommen hat). Die Äußerungen des stellvertretenden Ministerpräsidenten Jarosław Kaczyński zeigen das angespannte Klima zwischen Warschau und Berlin. Anlässlich des Jahrestages des Nazi-Einmarsches am 1. September 1939 kündigte er an, Polen wolle die Verhandlungen mit Berlin über Reparationen für die Vernichtungen des Zweiten Weltkriegs wieder aufnehmen. Er forderte dabei die astronomische Summe von 1,3 Billionen Euro. Ein unrealistischer Vorschlag, der jedoch eine Vorstellung von der durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten deutsch-polnischen Konkurrenz vermittelt, die die Geschicke des Kontinents und das Gleichgewicht in der Europäischen Union beeinflussen wird.

Doch die Krise des deutschen Modells trifft auch Italien hart. Berlin bürgt in hohem Maße für die Schulden Italiens, aber nicht nur wegen der Interessen der deutschen Industrie, Italiens Verflechtung mit ihrem Exportapparat zu sichern. Diese Beziehung ermöglicht es Italien, der zweitgrößte Hersteller Europas zu bleiben. Die deutsche Krise stellt die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen in Frage, was die Entscheidungen über die von der neuen rechtsextremen italienischen Ministerpräsidentin Meloni angestrebte Überarbeitung des Stabilitäts- und Wachstumspakts beeinflussen könnte. Doch überraschenderweise stand in den letzten Tagen nicht Italien mit seiner untragbaren Verschuldung und seiner schwierigen Regierungsführung im Mittelpunkt der Debatte, sondern das Vereinigte Königreich. Hier beginnt der geopolitische und wirtschaftliche Gegenwind bereits seinen Tribut zu fordern. Dies zeigen die Wendung von einem expansiven Haushaltsprogramm zu einem harten Sparkurs nach einem Börsencrash und der Gefahr einer Finanzkrise sowie der Rücktritt von Liz Truss als Premierministerin in Rekordzeit. Die Schwäche, die Widersprüche und die Spaltung des britischen Imperialismus im Zusammenhang mit dem Brexit treten immer deutlicher zutage, und ein Ausweg ist nicht in Sicht.

Perspektiven der Politik und des Klassenkampfes

In dem oben erwähnten Dokument heißt es:

Seit der kapitalistischen Krise von 2008 hat es zwei große Wellen des Klassenkampfes gegeben, die sich international ungleichmäßig ausgebreitet haben. Die erste, als direkte Reaktion auf die Auswirkungen der Großen Rezession, fand ihren Höhepunkt im Arabischen Frühling, einer weit verbreiteten Rebellion gegen die pro-amerikanischen arabischen Diktaturen, ausgelöst durch nichts Geringeres als den Anstieg der Brotpreise. Diese Welle kam in Europa mit der Bewegung der Empörten in Spanien und den Dutzenden von Generalstreiks in Griechenland zum Ausdruck, die vor allem von neuen reformorientierten linken Gruppierungen wie Podemos und Syriza kapitalisiert wurden.

Die zweite Welle begann 2018 in Frankreich mit der Mobilisierung der ‚Gelbwesten‘ gegen die Benzinpreiserhöhungen, die sich zu einer großen Rebellion gegen die Regierung Macron entwickelte. Diese Welle erreichte Lateinamerika mit dem Aufstand in Ecuador (gegen die vom IWF angeordnete Erhöhung der Treibstoffpreise), den landesweiten Protesten und Streiks in Kolumbien und der Revolte in Chile im Oktober 2019, die den Weg zur Revolution hätte öffnen können, aber den Charakter der Revolte nicht überwunden konnte, und somit anschließend vom Verfassungskonvent und dann von der Regierung Boric vom Kurs abgebracht werden konnte.

Diese Welle wurde durch die Coronavirus-Pandemie unterbrochen, aber nach dem ersten Moment der Quarantäne ist der Klassenkampf mit dem Ausbruch der Black-Lives-Matter-Bewegung in den Vereinigten Staaten zurückgekehrt, einer Mobilisierung gegen die Ermordung von George Floyd, einem von der Polizei getöteten Schwarzen, an der sich mehr als 25 Millionen Menschen beteiligten.

Vor dem Hintergrund der durch die Pandemie verschärften Ungleichheit und Unsicherheit wirkt die Inflation – und vor allem der Anstieg der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise – als Auslöser für soziale und politische Konflikte. Es gibt bereits erste Reaktionen der Lohnabhängigen und der Bevölkerung auf diese neue Situation, die von Lohnverteilungskämpfen von Teilen der organisierten Arbeiter:innenklasse bis zu Aufständen und Revolten reichen.

Diese Dynamik, die sich zum Zeitpunkt der Verfassung jenes Dokuments bereits abzeichnete, hat sich in diesem Jahr zusammen mit den steigenden Lebenshaltungskosten und der Wirtschaftskrise noch verstärkt. In Sri Lanka haben die Massen nach mehr als viermonatigen Protesten mit einer Energie und Stimmung, die der des Arabischen Frühlings ähnelt, Präsident Gotabaya Rajapaksa aus dem Amt gejagt. Tausende von Demonstrant:innen drangen in den Präsidentenpalast ein und schufen Bilder, die die Begeisterung der Arbeiter:innen und Armen in der ganzen Welt hervorriefen.

Ausgehend von einer studentischen Revolte folgten später die Gewerkschaften und sogar wichtige Teile der Mittelschicht, die nur selten protestierten und sich zuvor gegen die Protestaktionen der Studierenden gestellt hatten, in einer allgemeinen Revolte um die politische Forderung „Gota Go Home!”. Es mangelte jedoch an einer klaren Führung und Strategie, die diese korrekte Forderung mit dem wirtschaftlichen und sozialen Ausweg verknüpft, den die Arbeiter:innen zur Überwindung der Krise des Landes durchsetzen müssen. Dies ermöglichte eine Manipulation der Bewegung durch die bürgerliche Opposition. Das durch und durch diskreditierte Parlament wählte heimlich den ebenfalls verhassten ehemaligen Premierminister Ranil Wickremesinghe, der auf eine verstärkte Repression setzt. Währenddessen versucht er, ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) auszuhandeln, was weitere Angriffe auf die Lebensbedingungen der Menschen in Sri Lanka bedeuten wird.

Doch Sri Lanka könnte nur der erste Dominostein sein, der fällt. Der IWF hat davor gewarnt, dass 41 einkommensschwache Volkswirtschaften Schuldenprobleme haben. Länder wie Ägypten, Pakistan und Tunesien bemühen sich dringend um neue finanzielle Unterstützung durch den IWF. Doch angesichts der harten Haltung des IWF gegenüber Sri Lanka könnten auch andere halbkoloniale Länder, die unter steigenden Lebensmittelpreisen und einer straffen US-Geldpolitik leiden, in ähnliche Prozesse hineingezogen werden.

Nach Ansicht mehrerer Analyst:innen besteht für Pakistan die reale Gefahr, in einen Kreislauf aus Unruhen, Militärputschen und Instabilität zu geraten, eine „Ägypten-am-Indus“ Situation. In Haiti haben Proteste gegen die Regierung, die nun schon seit mehr als drei Monaten andauern, das Land lahmgelegt, wobei Schulen, Geschäfte und öffentliche Verkehrsmittel weitgehend geschlossen sind. Seit dem 22. August demonstrieren die Haitianer:innen gegen chronische Bandenkriminalität, Armut, Ernährungsunsicherheit, Inflation und Treibstoffmangel. Der Zorn der Öffentlichkeit wurde noch weiter geschürt, als Premierminister Ariel Henry ankündigte, die Kraftstoffsubventionen zu kürzen, um die Regierung zu finanzieren, was zu einer Verdoppelung der Preise an der Zapfsäule geführt hätte. Tausende Haitianer:innen protestieren weiterhin in mehreren Städten des Landes und fordern den Rücktritt der Regierung, die internationale Militärhilfe zur Bewältigung der Krise angefordert hat. Im Iran löste die Ermordung von Jina (Mahsa) Amini nach ihrer Verhaftung durch die „Sittenpolizei“ des Regimes am 15. September 2022 in Teheran – weil sie angeblich die strengen iranischen Vorschriften zum Tragen des Hidschabs nicht eingehalten hatte – eine Welle öffentlicher Proteste gegen die repressiven Sittengesetze des Regimes aus. Diese breitete sich im ganzen Land aus. In den Protesten drückt sich die Ablehnung der Unterdrückung, Korruption und Armut durch den kapitalistischen und theokratischen Staat der Ayatollahs zum Ausdruck.

Neben der Kontinuität der Revolten ist das Neue an der Form des Protests, dass immer größere Teile der Arbeiter:innenklasse mit ihren traditionellen Methoden der Arbeitsniederlegungen und Streikposten in den Kampf eintreten. Dazu gehört der Streik in den französischen Raffinerien, der zu einer ernsten Treibstoffknappheit führte und zunehmend das normale Funktionieren der gesamten Wirtschaft beeinträchtigte. Gleichzeitig rückte er die Frage der Lohnerhöhungen und der automatischen Anpassung der Löhne an die Inflation sowie die außerordentlichen Gewinne der Großkonzerne in den Mittelpunkt der nationalen Politik rückte – eine Entwicklung, die seit Jahrzehnten nicht mehr zu beobachten war. Auch wenn der Generalstreik, zu dem die CGT, die FO und andere Gewerkschaftsdachverbände am 18. Oktober aufgerufen hatten, nicht zu einer sprunghaften Ausweitung des Streiks auf andere Sektoren führte, so war er doch eine deutliche Warnung an Macron in dieser heiklen Frage der hohen Lebenshaltungskosten und der von ihm geplanten antisozialen Rentenreform.

Am auffälligsten sind jedoch jene Prozesse des Klassenkampfes, die sich in den beiden Ländern abspielen, in denen sich der Neoliberalismus auf breiter Front durchgesetzt und die Arbeiter:innenklasse für einen historischen Zeitraum in die Defensive gedrängt hatte. In Großbritannien stehen die Gewerkschaften seit Monaten im Mittelpunkt des Geschehens. In vielen Wirtschaftszweigen haben sich die Streiks seit dem Sommer vervielfacht und ein Ausmaß erreicht, das seit der Thatcher-Offensive vor 40 Jahren nicht mehr zu beobachten war. Eisenbahner:innen, Hafenarbeiter:innen, Amazon-Beschäftigte, Lehrer:innen, Postbot:innen, Busfahrer:innen, Krankenpfleger:innen im staatlichen Gesundheitswesen, die Müllabfuhr, Anwält:innen usw. fordern Lohnerhöhungen. Die Medienauftritte von Mick Lynch und Eddie Dempsey, den Anführern der Transportgewerkschaft RMT (Rail, Maritime and Transport Workers‘ Union), die bis vor kurzem noch unbekannt waren und nun zu echten Fernsehstars geworden sind, zeigen wie sich die Situation im Vergleich zu den 1980er Jahren umgekehrt hat. Zugleich war das Klima der „nationalen Einheit“ nach dem Tod von Elisabeth II. nur von kurzer Dauer. Die Arbeitskampfmaßnahmen wurden wieder aufgenommen und am 1. Oktober gab es im ganzen Land mehrere gleichzeitige Streiks und Mobilisierungen als Reaktion auf die steigenden Lebenshaltungskosten. Dieser Prozess in einem der Zentren des Neoliberalismus kommt zu den Entwicklungen hinzu, die sich schon seit einiger Zeit in den Vereinigten Staaten abzeichnen. Wie im bereits zitierten Dokument dargelegt:

Was wir in Prozessen wie der Streikwelle im Oktober letzten Jahres (Striketober) und auf einer anderen Ebene der ‚Great Resignation‘ [Welle der Kündigung von Seiten von Hunderttausenden Arbeiter:innen, A.d.Ü.] sehen, ist eine signifikante Veränderung in der Selbstwahrnehmung wichtiger Teile der Arbeiter:innenklasse, insbesondere derjenigen Arbeiter:innen, die während der Pandemie als unverzichtbar galten, in Bezug auf ihre Stärke und ihre Rolle im Funktionieren der Gesellschaft. Es handelt sich um einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel, der darin zum Ausdruck kommt, dass eine Mehrheit den Gewerkschaften positiv gegenübersteht, obwohl nur 10 Prozent der Lohnabhängigen gewerkschaftlich organisiert sind. Am weitesten fortgeschritten ist der Prozess der gewerkschaftlichen Organisierung von prekär Beschäftigten wie bei Starbucks oder in strategischen kapitalistischen Sektoren wie bei Amazon. Es handelt sich um einen sich abzeichnenden Prozess von gewerkschaftlicher Organisierung von Basissektoren, der Widersprüche aufweist und unter dem Druck der Kooptationspolitik der Demokratischen Partei und der Gewerkschaftsbürokratie durch ihre eher linken Sektoren steht, der aber insgesamt eine große Erfahrung darstellt, die noch in den Kinderschuhen steckt. (…)

Ein weiteres Beispiel ist die Entstehung der so genannten „Generation U“ (U für ‚Union‘, Gewerkschaft) in den Vereinigten Staaten, die an der Spitze des Gewerkschaftsbildungsprozesses steht und, wie bereits erwähnt, die Erfahrung der BLM mitgemacht hat. Es handelt sich um eine Avantgarde, die weitgehend die Grundlage des ‚Sanders-Phänomens‘ bildet, insbesondere organisiert in der DSA, und die eine politisch-ideologische Präferenz für den ‚Sozialismus‘ hat.

Kürzlich stimmte eine Mehrheit von 90.000 Eisenbahner:innen für einen Generalstreik für Lohnerhöhungen, weil sie die Lohnkürzungen und die Ausbeutung als „essentielle Arbeitskräfte“ während der Pandemie satt hatten. Präsident Biden, die bürokratischen Gewerkschaftsführungen und das politische Establishment führten eine massive Operation durch, um den Streik im Gegenzug für große Zugeständnisse abzuwürgen, was die Presse des Finanzkapitals, das Wall Street Journal, in helle Aufregung versetzte.

Zuletzt hatten in Argentinien die Beschäftigten der drei argentinischen Reifenfabriken nach fünf Monaten Kampf mit der Einführung einer Klausel zur Anpassung der Löhne an die Inflation bis zu den nächsten Lohnverhandlungen einen überwältigenden Sieg errungen und bedeutende Lohnerhöhungen durchgesetzt.

Diese Prozesse finden vor dem Hintergrund der tiefgreifenden politischen Polarisierung statt, die sich weiter ausbreitet. Der Wahlsieg Bidens, der seinerseits die Durchsetzung von Draghis breiter Regierungskoalition in Italien gestärkt hatte, hat den Prozess des Erstarkens der extremen Rechten nicht verlangsamt. Das zeigen das Fortbestehen des Phänomens Trump in den USA selbst oder der Sturz des ehemaligen EZB-Präsidenten in Italien und der Triumph der rechtsextremen Fratelli d’Italia an der Spitze eines Rechtsbündnisses bei den jüngsten Wahlen. Diese Phänomene entstehen als Ausdruck einer Unzufriedenheit, insbesondere in den konservativen Mittelschichten und den entpolitisierten Teilen der ärmeren Massen. Aber politisch gesehen umfasst der Rechtsruck unterschiedliche politische Phänomene. Einige Strömungen befinden sich im Anpassungsprozess an die aktuellen Institutionen – wie im Fall der Ministerpräsidentin Georgia Meloni. In Italien blieben die „Postfaschist:innen“ während der Zeit der Vorherrschaft der Christdemokratie der Macht fern, eine Kontinuität, die mit der ersten Regierung von Silvio Berlusconi unterbrochen wurde. Seit 1994 sind sie an allen rechten Regierungen beteiligt gewesen und haben sich im Laufe der Jahre durch den Zugang zu Minister:innenposten, Präsident:innen von Regionen und Bürgermeister:innen von Großstädten eine reelle Glaubwürdigkeit erworben. Meloni war selbst 16 Jahre lang Abgeordnete und von 2008 bis 2011 Jugendministerin. Es existieren jedoch auch Phänomene mit protofaschistischen Elementen wie Trump und Bolsonaro in Brasilien bis hin zu Zwischenformationen wie der von Marine Le Pen. Die französische Politikerin profitierte von einem langsamen Prozess der Entdämonisierung und wachsender Glaubwürdigkeit in der öffentlichen Meinung, ist aber noch weit von der vollständigen institutionellen Akzeptanz wie im Fall der Fratelli d’Italia entfernt. In jedem Fall können diese Strömungen, die mehr oder weniger stark von Bonapartismus geprägt sind, theoretisch nicht als faschistisch bezeichnet werden. Denn, wie Trotzki sagte:

Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten.6

In diesem Sinne diskutierte der Trotzkist Ernest Mandel mit Bezug auf die Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft und das immense zahlenmäßige Missverhältnis zwischen Lohnabhängigen und Großkapitalist:innen:

Unter den Bedingungen des modernen industriellen Monopolkapitalismus und der zahlenmäßig ungeheuren Disproportion zwischen Lohnabhängigen und Großkapitalbesitzern ist eine solche gewaltsame Zentralisierung der Staatsgewalt mit Ausschaltung der meisten (wenn nicht aller) Errungenschaften der modernen Arbeiterbewegung (u.a. jener ‚Keime der proletarischen Demokratie im Rahmen der bürgerlichen Demokratie‘, wie Trotzki zu Recht die Organisationen der Arbeiterbewegung nennt) praktisch mit rein technischen Mitteln unmöglich. Weder eine Militärdiktatur noch ein reiner Polizeistaat – ganz zu schweigen von einer absolutistischen Monarchie – verfügen über zureichende Mittel, um eine millionenstarke, bewußte Gesellschaftsklasse für längere Zeit zu atomisieren, zu entmutigen und zu demoralisieren, und so einem schon durch das einfache Spiel der Marktgesetze periodisch begünstigten Wiederaufflackern wenigstens elementarer Klassenkämpfe vorzubeugen. Dazu ist eine Massenbewegung notwendig, die ihrerseits große Menschenmengen in Bewegung bringt, die bewußteren Teile des Proletariats in systematischem Massenterror, in Kleinkrieg und Straßenkrieg zermürbt und demoralisiert und es nach der Machtübernahme durch völlige Zerschlagung der Massenorganisationen nicht nur atomisiert, sondern auch entmutigt und resignieren läßt.7

So weit sind wir natürlich noch nicht. Im Falle einer Verschärfung der Krise – z. B. eines Auseinanderbrechens der EU oder eines offeneren Weges zum Weltkrieg – könnten sich diese Bewegungen jedoch radikalisieren, ihre Basis verbreitern und die Unterstützung der herrschenden Eliten gewinnen. In diesem Fall würden sie zu subversiven Kräften werden, die man mit dem klassischen Faschismus vergleichen könnte.

Am anderen Pol entwickeln sich weiterhin politische Phänomene der „radikalen Linken“ (links vom traditionellen Reformismus), die in vielen Fällen Berührungspunkte mit Kampf- und Organisationsprozessen haben (wie in den Vereinigten Staaten). Eines der jüngsten Phänomene, das internationale Sympathie erregte, ist die neue Regierung von Gabriel Boric in Chile. Doch wie die Niederlage bei der Volksabstimmung über die neue Verfassung zeigt, wird der Zyklus des Aufstiegs der Neoreformist:innen immer kürzer. Die Kanalisierung des sozialen Aufruhrs auf die Wahlebene holte die Massen von der Straße und verwandelte den Verfassungskonvent in eine Farce. Mit der utopischen Hoffnung, Chile könne das Erbe der Diktatur mittels eines friedlichen Übergangs überwinden, fuhr der Prozess gegen die Wand. Ebenso schlagen diese „neuen“ Linken oder auch die traditionellere Linke wie die Arbeiter:innenpartei PT in Brasilien „antifaschistische Fronten“ gegen den Aufstieg der extremen Rechten vor. Diese versuchen im Allgemeinen, sich bei Wahlen zu profilieren, was jedoch keineswegs ein Werkzeug gegen den Vormarsch der rechten Bewegungen sein kann. Diese rechten Phänomene sind Feinde der gesamten Arbeiter:innenklasse, der Frauen, der Schwarzen, der Indigenen und der geschlechtlich unterdrückten Sektoren. Indem die reformistischen Kräfte die Massen durch ihren Pazifismus entwaffnen und den Klassenkampf gegen die Rechte verschieben, werden sie statt einem Mittel im Kampfe zu ihrem Gegenteil und erzeugen Enttäuschung bei den proletarischen Kräften und den Unterdrückten. Wie Trotzki sagte, als er mit der Situation des realen Aufstiegs des Faschismus in Österreich in den 1930er Jahren konfrontiert war und die Politik der Sozialist:innen und Stalinist:innen kritisierte, die auf ein Bündnis mit den nationalen „antifaschistischen Kräften“ gegen Hitler drängten:

Der Hauptfeind der Arbeiter, sowohl der österreichischen wie der russischen, ist Hitler. Es geht vor allem darum, Hitler zu schlagen; aus diesem Grunde sei es notwendig, das Proletariat mit allen ‚antifaschistischen Kräften‘, unter welchem schamhaften Namen die ‚demokratische‘ Bourgeoisie in Österreich und außerhalb Österreich figuriert, zu verbünden, was natürlich nur möglich ist untervollkommener Zurückstellung des Klassenkampfes. Auf einer anderen Grundlage ist ja ein Bündnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie nicht denkbar. Doch gerade diese Politikerleichtert,wie wir letzthin zu beweisen bemüht waren, den Sieg der Nazis.8

Diese Politik der Klassenversöhnung geht davon aus, dass es dringend nötig wäre, „taktisch antifaschistisch“ zu wählen. Sie streicht die Konfrontation mit dem Faschismus vom Terrain des physischen Kampfes zwischen den Klassen und fügt sie in die normalen Kanäle der Herrschaft der Bourgeoisie in „Friedenszeiten“ ein. Doch der Kampf gegen den Faschismus lässt sich nur im Klassenkampf mit einer hegemonialen Politik der Arbeiter:innenklasse und unabhängig von allen Flügeln der Bourgeoisie erfolgreich führen. Dies erfordert die Vereinigung der Arbeiter:innenklasse als Ganzes auf dem Terrain der direkten Aktion gegen die Bourgeoisie als Ganzes, im Bündnis mit der queeren und Frauenbewegung, der Schwarzen Bewegung, der Jugend und den unterdrückten Völkern. Dies ist das Terrain der Hegemonie und der Taktik der Arbeiter:inneneinheitsfront, die unter der Führung um Lenin und Trotzki in der Kommunistischen Internationale ausgearbeitet wurde.

Wie man auf die wirtschaftliche und soziale Krise antworten kann

Wie bereits gesagt, könnte eine neue Schuldenkrise für viele halbkoloniale Länder, deren Staatshaushalte bereits durch die Pandemie unter Druck geraten sind, den Gnadenstoß geben. Die „Rettungspakete“ des IWF, die von vielen bürgerlichen Regierungen dieser unterdrückten Länder gefordert werden, werden im Gegenzug für einen „Haushaltsausgleich“ und eine „Kürzung der öffentlichen Ausgaben“ gewährt: Kürzungen, die vor allem die Sozialausgaben, die Subventionen für Güter des täglichen Bedarfs sowie die Löhne und die Beschäftigung im öffentlichen Sektor betreffen. Die reaktionäre Natur dieses imperialistischen Drucks und sein unmenschlicher Charakter offenbaren sich in der brutalen Zunahme der Armut, die er mit sich bringt, und in der wachsenden Gefahr von Hungersnöten. Damit steht mehr denn je die Massenmobilisierung der Arbeiter:innen und der Ḿassen der Länder der kapitalistischen Peripherie auf der Tagesordnung, unterstützt vom internationalen Proletariat, insbesondere den Arbeiter:innen der imperialistischen Länder, um von den Regierungen ihrer jeweiligen Länder den Schuldenerlass zu fordern.

Die gegenwärtige Krise ist das Ergebnis einer jahrelangen Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen als Folge der neoliberalen Offensive. Im Gegensatz dazu war die Krise der 1970er Jahre auf die soziale Abfederung zurückzuführen, die der „Boom“ für eine große Zahl von Arbeiter:innen bedeutet hatte. Damals gab es zwar eine Inflationsspirale, diese wurde aber nicht zu einer sozialen Krise, weil es den Arbeiter:innen dank ihres Kampfes und der geringen Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzunsicherheit gelang, ihre Verluste zu kompensieren. So stieg in Frankreich die Kaufkraft des Mindestlohns zwischen 1968 und 1983 um 130 Prozent. Gleichzeitig stieg der Durchschnittslohn um etwa 50 Prozent. Es war kein Zufall, dass eins der wichtigsten Ziele der neoliberalen Offensive darin bestand, diesen Kreislauf zu durchbrechen, was durch die Aufgabe der gleitenden Lohnskala in den 1980er Jahren erreicht wurde [die es ab 1952 in Frankreich gab und 1982 wieder abgeschafft wurde, um die Inflation zu senken, A.d.Ü.]. Die kommende Krise birgt im Gegensatz zu den vorangegangenen Krisen und sogar zu 2008/9 die Gefahr einer allgemeinen Verarmung der Bevölkerung und einer erheblichen Zunahme des Elends. Die wachsende Finanzkrise der Staaten, die Unfähigkeit, die Haushalte zu unterstützen, wie sie es in der Pandemie teilweise getan haben, insbesondere in den imperialistischen Ländern und die wachsenden Löcher im sogenannten „Sozialstaat“ machen diese Prognosen zu mehr als nur einer Metapher. Die Angst vor der Verarmung kehrt nach Europa zurück und bringt uns der Situation der Ausgebeuteten zu der Zeit, als das Übergangsprogramm geschrieben wurde, ein wenig näher. Daher sind einige ihrer Forderungen auch heute noch von großer Bedeutung und Aktualität:

Unter den Bedingungen des sich zersetzenden Kapitalismus führen die Massen weiter das düstere Leben von Unterdrückten, die jetzt mehr denn je von der Gefahr bedroht sind, in den Abgrund des Pauperismus geworfen zu werden.Sie sind gezwungen, ihr Stück Brot zu verteidigen, wenn sie es schon nicht vergrößern oder verbessern können.[…]
Die IV. Internationale erklärt die Politik der Kapitalisten einen unversöhnlichen Krieg, einer Politik, die zu einem beträchtlichen Teil – genauso wie die Politik ihrer Agenten, der Reformisten, – in dem Versuch besteht, auf die Arbeiterschaft die ganze Last des Militarismus, der Krise, der Zerrütung [sic] der Geldsysteme und andere Übel des kapitalistischen Niedergangs abzuwälzen. Sie fordert Arbeit und eine würdige Existenz für alle.

Weder Inflation der Währung noch Stabilisierung können dem Proletariat als Losungen dienen, denn das sind nur die zwei Gesichter ein und derselben Medaille. Gegen die Teuerung, die mit dem Herannahen des Krieges einen immer zügelloseren Charakter annehmen wird, kann man nur kämpfen mit der Losung der Gleitenden Lohnskala. Die Tarifverträge müssen die automatische Erhöhung der Löhne gleichlaufend mit den Preissteigerungen der Verbrauchsgüter garantieren.9

Diese Gefahr der Verelendung, die über der Arbeiter:innenklasse schwebt, betrifft auch die untere Mittelschicht. Dieser gesellschaftliche Sektor steht unter Druck. Wie eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Bertelsmann-Stiftung in Deutschland zeigt, ist das Risiko einer sozialen Verschlechterung für die obere Hälfte der Gesellschaft zwar geringer als in den 1990er Jahren, für die untere Hälfte jedoch größer geworden. Der Spiegel schreibt:

Dass die gesamte Mittelschicht von 1995 bis 2018 von 59 auf 53 Prozent der Bevölkerung geschrumpft ist, geht fast ausschließlich auf die untere Mitte zurück. ‚Wir haben weiter eine breite und stabile Mittelschicht‘, sagt [Dorothee] Spannagel [von der Hans-Böckler-Stiftung], ‚aber sie franst an ihrem unteren Ende aus. Das früher vorherrschende Gefühl, mit einer ordentlichen Berufsausbildung habe man ein sicheres Auskommen und könne sich vielleicht einmal ein Häuschen leisten, hat sich allmählich aufgelöst‘.10

Die Menschen in der unteren Hälfte bekommen mit, sagt sie, „dass sie nicht vorankommen, auch wenn die Wirtschaft brummt und sie sich abstrampeln.“ Es ist ein Gefühl, das sich oft als diffuse Abstiegsangst bemerkbar macht. Die ausufernde Inflation wirke wie ein Brandbeschleuniger.

All diese Elemente zeigen an, dass eine chaotische Epoche anbricht. Die strukturellen Veränderungen drohen die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Ausgebeuteten qualitativ zu verschlechtern und können gleichzeitig zu Sprüngen im Klassenkampf führen. Diese beruhen auf einer starken Spaltung und Fragmentierung der Arbeitskräfte, was ein Nebenprodukt des „dualisierenden“ Charakters der neoliberalen Offensive ist, sowie auf einer Flucht der Mittelschicht in die Leistungsgesellschaft und die individuelle Anstrengung (eine Ideologie, die auch Arbeiter:innen angesteckt hat), um das Schicksal der schwächsten Teile des Proletariats zu vermeiden. Der inflationäre Charakter der Krise, der sich in der Abwertung der Löhne, den hohen Lebenshaltungskosten und der zunehmenden Enteignung der Ersparnisse des Kleinbürgertums ausdrückt, tendiert objektiv dazu, die unteren und oberen Sektoren der Arbeiter:innenklasse zu vereinen. Denn sie alle würden von einer Notlohnerhöhung sowie von der gleitenden Lohnskala profitieren. Heute jedoch weigern sich multinationale Konzerne, die Rekordgewinne machen, die Löhne zumindest ein bisschen nach oben anzupassen. Sie gewähren höchstens „Einmalzahlungen“, welche die Preisanstiege nicht wettmachen. Dieser Kampf ist nicht nur ein weiterer Verteilungskampf, sondern nimmt in seiner Verallgemeinerung einen politischen Charakter der Konfrontation mit der Kapitalist:innenklasse als Ganzes, ihrem Staat und ihren Regierungen an. In diesem Rahmen ist mehr denn je eine kühne Politik erforderlich, um das konservative Gewicht aller Flügel der Gewerkschaftsbürokratie zu brechen. Denn diese lassen die Angriffe zu oder gestalten sie, wie im Fall der CFDT in Frankreich sogar mit. Angesichts der kämpferischsten Sektoren und unter dem Druck ihrer Basis sind sie gezwungen, sich neu aufzustellen und Kampfmaßnahmen zu ergreifen, ohne jedoch mit der Logik der Klassenversöhnung zu brechen, die sie an das bürgerliche Regime bindet. In diesem Fall kann nur eine Taktik der Intervention und der Einheitsfront der kämpfenden Arbeiter:innenorganisationen, sowie eine aktive Politik innerhalb der Gewerkschaften zum Sieg führen. Die Gewerkschaften müssen aus den Händen der Bürokratie befreit werden. Gleichzeitig müssen alle Tendenzen zur Selbstorganisation der Ausgebeuteten, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht, entwickelt werden. Den verarmten Sektoren der Mittelschichten muss eine Perspektive aufgezeigt werden, um sie davor zu bewahren, in die Sackgasse der extremen Rechten zu geraten und Migrant:innen als Sündenböcke zu verwenden.

Aus diesen Gründen ist es dringend erforderlich, ernsthafte Schritte zum Aufbau revolutionärer Parteien mit einer klaren strategischen und programmatischen Ausrichtung zu unternehmen. Angesichts der Krise und der verstärkten Offensive des Kapitals sind die neoreformistischen Lösungen utopisch. Ihr einziger Horizont besteht darin, sich kosmetische Reformen des Kapitalismus herbeizuwünschen. Doch dieser ist nicht dazu in der Lage, etwas anzubieten, sondern beschleunigt den Rückschritt auf ganzer Linie. Sie sind mehr als nur utopisch. Die neoreformistischen Kräfte entwaffnen das Proletariat in den realen Kämpfen, die zu führen sind. Mehr denn je heißt es: sie oder wir.

 

Fußnoten

1. In seiner Rede auf dem Kongress der Internationale 1921 erklärt Trotzki: „Das Gleichgewicht des Kapitalismus ist eine sehr komplizierte Erscheinung: der Kapitalismus erzeugt dieses Gleichgewicht, stört es, stellt es wieder her und stört es von Neuem, indem er zugleich den Rahmen seiner Herrschaft erweitert. Auf dem Wirtschaftsgebiete bilden solche beständigen Störungen und Wiederherstellungen die Krisen- und Prosperitätsperioden. In den Beziehungen zwischen den Klassen nimmt die Störung des Gleichgewichtes die Form von Streiks, Aussperrungen, revolutionärem Kampfe an. In den Beziehungen zwischen den Staaten sind die Gleichgewichtsstörungen: Krieg oder in schwächerer Form wirtschaftlicher Zollkrieg oder Blockade. Der Kapitalismus hat also ein bewegliches Gleichgewicht, das stets entweder gestört oder wiederhergestellt wird. Zugleich aber besitzt dieses Gleichgewicht eine große Widerstandskraft; der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass die kapitalistische Welt bis jetzt nicht zusammengebrochen ist.“ Leo Trotzki: Die Weltlage und unsere Aufgaben. Rede zur Vorbereitung des 3. Kominternkongresses auf einer Versammlung von Parteimitgliedern, der kommunistischen Fraktion des Moskauer Sowjets und Aktivisten in Moskau. Nach: Die Neue Etappe. Die Weltlage und unsere Aufgaben. Verlag der Kommunistischen Internationale, Auslieferungsstelle für Deutschland: Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1921, S. 1-47, https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1921/leo-trotzki-die-weltlage.

2. Alle Zitate stammen aus Claudia Cinatti: Der Krieg in der Ukraine und die Aktualisierung der Tendenzen zu Krisen, Kriegen und Revolutionen, Klasse Gegen Klasse, 13. Juli 2022, https://www.klassegegenklasse.org/der-krieg-in-der-ukraine-und-die-aktualisierung-der-tendenzen-zu-krisen-kriegen-und-revolutionen/.

3. Unterstreichungen von uns.

4. In „Der Krieg in der Ukraine und die Aktualisierung der Tendenzen zu Krisen, Kriegen und Revolutionen“ fasst Claudia Cinatti die beiden vorangegangenen Phasen zusammen: „Die Hypothese eines siegreichen russischen Blitzkriegs – einer massiven Invasion und Umzingelung von Großstädten, einschließlich Kiews, die zum Sturz oder zur Kapitulation der Regierung Selenskyj hätte führen sollen – hat sich aufgrund einer Kombination von Faktoren nicht bewahrheitet, u.a. weil Putin auf einen unerwarteten größeren Widerstand durch der Ukraine stieß, der durch die Unterstützung der NATO noch verstärkt wurde, und weil die russische Armee große logistische und strategische Fehler beging, die zu Verlusten an Soldat:innen und militärischem Gerät führten. Nachdem das Szenario eines Blitzkriegs vom Tisch war, trat der Konflikt in eine zweite Phase ein, die sich auf die Region Donbas und die Südukraine konzentrierte. Diese zweite Phase nimmt immer mehr die Züge eines Ermattungskrieges an, mit einem langsamen und kostspieligen Vormarsch der russischen Armee. Der bisher wichtigste Sieg Putins war die Eroberung von Mariupol, eine wichtige Position, da sie der Ukraine den Zugang zum Asowschen Meer nahm und eine Landbrücke zwischen dem Donbas und der Krim herstellte, die der russischen Besatzung eine territoriale Einheit verlieh.“

5. Marco D’Eramo: Sinking Germany, New Left Review Sidecar, 19. Juli 2022, https://newleftreview.org/sidecar/posts/sinking-germany, eigene Übersetzung.

6. Unterstreichungen von uns.

7. Ernest Mandel: Theorien über den Faschismus, Gruppe Avanti, Berlin 1993, https://www.ernestmandel.org/de/textes/txt/theorien_uber_den_faschismus.htm.

8. Leo Trotzki: Sollen die österreichischen Arbeiter die „Unabhängigkeit“ Österreichs verteidigen?, Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD (4/13), Mitte Juli 1936, S. 4 und (4/14), Anfang September 1936, S. 4, https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1936/leo-trotzki-sollen-die-oesterreichischen-arbeiter-die-unabhaengigkeit-oesterreichs-verteidigen.

9. Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale. Das Übergangsprogramm, o.O. o.J. [1938], https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/uebergang/index.htm.

10. David Böcking, Simon Book u.a.: Schwarz-Rot-Kalt, Spiegel (38/2022), 16. September 2022, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/deutschland-in-der-krise-so-ungerecht-geht-es-in-der-bundesrepublik-zu-a-11f4eace-2654-4104-be77-abd19bf1eba8.

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