Wie kam es zu den Protesten in Sri Lanka?

20.07.2022, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Girts Ragelis / shutterstock.com

Der verhasste ehemalige Premier Ranil wurde heute zum neuen Interimspräsident gewählt. Die Proteste gehen weiter. Doch wie kam es zu ihnen?

Die Bilder von der Besetzung des Präsidentenpalasts in der Hauptstadt Colombo am 9. Juli sind um die Welt gegangen: Tausende badeten in Gotabaya Rajapaksas Pool, schliefen in seinem Schlafzimmer und trainierten in seinem Fitnessstudio. Er selbst “floh” daraufhin in das Steuerparadies der Malediven, wo er aber nicht erwünscht war. Aus diesem Grund ist er nun in Singapur.

Sri Lanka hat nun einen neuen Staatschef – übergangsweise. Im Amt ist Ranil Wickremesinghe ist allerdings schon seit dem 11. Juli, da er in seiner damaligen Funktion als Premierminister des Inselstaates automatisch geschäftsführender Präsident wurde, nachdem Gotabaya Rajapaksa zurückgetreten ist.

Rajapaksa selbst kommt aus einer Familie mit viel Einfluss auf Militär und Politik. Im Jahr 2004, inmitten des Bürger:innenkrieges (1983 bis 2009), kam sie erstmals an die Macht und stellte seitdem mehrere Präsidenten. Mahinda Rajapaksa, Gotabaya Rajapaksas großer Bruder, und Rajapaksa selbst. Ersterer regierte das Land gleich drei mal (2004-2005, 2018 und 2019-2022), bevor er im Mai diesen Jahres zurückgetreten war.

Sein Rücktritt stellte einen ersten großen Erfolg der schon seit März anhaltenden Proteste und Generalstreiks am 28. April und 6. Mai dar. Die zentrale Forderung der Protagonist:innen des Streiks – Bankangestellte, Eisenbahner:- und Lehrer:innen – war sein Rücktritt gewesen.

Basil Rajapaksa, ein anderer Bruder der Ex-Präsidenten, war bis vor Kurzem noch Finanzminister. Doch so wie weitere Familienmitglieder sah auch er sich in Anbetracht der lautstarken Forderungen danach gezwungen, zurückzutreten.

Sri Lanka durchlebt momentan die tiefste Wirtschaftskrise seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1948. Das ist zwar keine neue, aber eine durch den Ukrainekrieg verschärfte, Situation. Die Pandemie ließ den für den Inselstaat wirtschaftlich zentralen Tourismus fast komplett einbrechen: Während 2018 noch fünf Milliarden Euro eingenommen wurden, waren es 2020 nur noch eine.

In der Folge verlor Sri Lanka immer mehr Währungsdevisen. Das heißt, dass die Zentralbank des Landes auf der positiven Seite seiner Zahlungsbilanz kaum noch ausländische Währung, Gold oder Ähnliches zu verzeichnen hat. Währungsdevisen sind jedoch essentiell, um den Wert der eigenen Währung positiv zu beeinflussen oder zumindest, in einer Krise wie der jetzigen, diesen zu retten und Außenhandelsdefizite (Das heißt, dass ein Land mehr importiert als exportiert) finanzieren zu können.

Sri Lanka konnte beides nicht. So verlor der Rupia gegenüber dem US-Dollar allein in diesem Jahr die Hälfte seines Werts und die Regierung begann, Importrestriktionen zu verhängen. Vor allem Treibstoff, Dünger und Pestizide wurden immer weniger eingeführt.

Ende Juni begann Rajapaksa, den Treibstoff zu rationieren: An den Tankstellen stationierte Soldat:innen ließen aus den ellenlangen Schlangen lediglich “Essentielle” zu den Säulen durch. Rikschas, dreirädrige Taxis, zählten allerdings nicht dazu, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung damit zur Arbeit fährt. In Folge dessen waren die Züge so überfüllt, dass Menschen, die sich gar nicht kannten, aufeinander sitzen mussten und kranke Patient:innen nicht ins Krankenhaus kamen.

Außerdem wurden Schulen und Unternehmen geschlossen, was dazu führte, dass viele nicht mehr arbeiten konnten und daher auch keinen Lohn mehr erhielten, weil die Regierung dessen Fortzahlung nur für “Essentielle” sicher stellte. Währenddessen galoppierte die Inflation weiter. Sie liegt bei 45,3 Prozent, doch betrugen die Preissteigerungen in Bezug auf Lebensmittel 80 Prozent. Viele der 22 Millionen Einwohner:innen Sri Lankas hatten daher schlicht und ergreifend kein Geld mehr für Grundnahrungsmittel wie Reis oder Medikamente.

Lebensmittel wurden schließlich rationiert, sodass der ohnehin schon schwierige Zugang durch Schlangen, die mindestens so lang waren wie jene vor den Tankstellen, zusätzlich erschwert wurde. Der Treibstoffmangel hatte zudem dazu geführt, dass es jeden Tag zu Stromausfällen kam. Die Ankündigung der Regierung über 13-stündige Stromausfälle hatte das Fass am 9. Juli zum Überlaufen gebracht.

Nach Studierendenprotesten am 8. Juli war im Westen des Landes – wo auch die Hauptstadt Colombo liegt – eine Ausgangssperre verhängt worden. Die Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus waren zu diesem Zeitpunkt wegen Ineffizienz in Kritik geraten und schon beendet worden.

Die Ausgangssperre reiht sich in die allgemeine Tendenz zur Militarisierung der Städte auf der Insel ein. In den vergangenen Monaten waren die Demonstrant:innen mehr und mehr Repression ausgesetzt. So war es rund um das Haus von Staatsoberhaupt Rajapaksa zu vielen Festnahmen gekommen. Seine Anweisung: Ohne explizite Erlaubnis eines Gerichts, darf niemand in die eigens wegen der Proteste eingerichtete Sicherheitszone.

Am Tag der Besetzung hatten Tausende es trotz Tränengaseinsatz geschafft, in die Sicherheitszone rund um die Präsidentschaftsresidenz einzudringen und dann auch das Haus von Wickremesinghe in Brand zu stecken. Zurecht wird der neue Interimspräsident, der schon viermal Präsident von Sri Lanka war, für die desolate wirtschaftliche Lage des Landes mitverantwortlich gemacht. Auch wenn 134 der 225 Abgeordneten für ihn stimmten, ist seine Legitimität also anzuzweifeln.

Die Demonstrant:innen haben sich inzwischen aus dem Präsidentensitz zurückgezogen, doch die Proteste gehen weiter. Die Opposition scheint sie nicht oder zumindest nicht komplett unter Kontrolle zu haben. Sie hatte Rajapaksa und Wickremesinghe zwar zum Rücktritt aufgefordert, wollte jedoch trotz politisch großer Differenzen eine Einheitsregierung formieren, um als solche die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über die Bedingungen für ein erneutes Darlehen weiterführen zu können.

Das bereits hoch verschuldete, asiatische Land zahlt seit April keinen Cent der 51 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden an Gläubiger:innen mehr. Ein neues Darlehen, wie Rajapaksa  und dessen Opposition anstreben, würde mit Einsparungs- und Privatisierungsmaßnahmen einhergehen und die Situation der armen und arbeitenden Bevölkerung nur weiter verschlechtern.

Konkret fordert der IWF, vor dem Hintergrund des Haushaltsdefizits, die Staatskosten massiv zu senken, die Restriktionen auf Importe zu beenden, indirekte Steuern wie zum Beispiel die Mehrwertsteuer zu erhöhen und staatlich Unternehmen zu privatisieren.

Der Vorschlag der Opposition, zusammen mit dem IWF zu der Einigung zu kommen, sich auf Kosten des Volkes und der Arbeiter:innenklasse noch mehr zu verschulden – eine demobilisierende Strategie – kann für die kämpferischen Massen in Sri Lanka keine Lösung darstellen. Sie stehen an der Spitze einer neuen Klassenkampfwelle, die seit Ende 2018 in aller Munde ist. Die Gelbwesten in Frankreich, Student:innen in Chile, Indigene in Ecuador, Proteste gegen den IWF in Haiti, andere in Hongkong, im Iran, im Irak, im Sudan und an vielen weiteren Orten. Die Quarantänen hatten die Wogen vorerst geglättet. Doch seit geraumer Zeit beobachten wir, dass sich die Welle wieder aufbäumt: In Myanmar und Südkorea, in Peru und Kolumbien, im Libanon und nun auf Sri Lanka.

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