Anfängliche Tendenzen zur Radikalisierung

20.11.2012, Lesezeit 10 Min.
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Seit 2008 befindet sich der Kapitalismus weltweit in einer historischen Krise. Trotz vieler optimistischer Vorhersagen von bürgerlichen ÖkonomInnen ist ein Ende der kapitalistischen Krise nicht in Sicht – die Realität holt den bürgerlichen Optimismus immer wieder ein.

Die deutsche Bourgeoisie versucht, die Krise auszunutzen, um ihre wirtschaftliche und politische Macht hauptsächlich innerhalb der EU auszuweiten. Dabei befindet sie sich vor einer Zerreißprobe: Einerseits strengt sie sich an, um die europäischen Mittelmeerländer wirtschaftlich und politisch zu unterwerfen, anderseits muss sie auch die beginnende Krise in Deutschland unterbinden. Am stärksten ist diese in der deutschen Autoindustrie zu spüren. Allein im September wurden 10,9% Autos weniger als in Vormonat zugelassen[1]. Im Juli und August hatte das Minus noch bei rund fünf Prozent gelegen, berichtet die Branchenzeitung „Automobilwoche“.

Krise der Autoindustrie schreitet voran

In der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift haben wir verschärfte Auswirkungen der Automobilkrise auf die Lohnabhängigen in Deutschland prognostiziert[2]. Und entsprechend haben fast alle großen Fahrzeughersteller scharfe Angriffe auf die Arbeitsbedingungen und die Löhne ihrer Beschäftigten angekündigt.

Der Nutzfahrzeugbauer Iveco will bis Jahresende fünf seiner Werke in Europa schließen, darunter drei in Deutschland. Über 1.000 ArbeiterInnen werden somit ihren Arbeitsplatz verlieren. Während der Betriebsrat über „Sozialpläne“ verhandelte, wollte Iveco die Schließung des Werks in Weisweil noch schneller voranbringen und die Maschinen aus den Werkshallen abtransportieren. Die KollegInnen wehrten sich mit einer nächtlichen Besetzung des Werkes und verhinderten den Abtransport der Maschinen. Damit konnten die Schließungspläne bisher zwar nicht aufgehalten werden, aber die selbstorganisierte, spontane Aktion der ArbeiterInnen zeigte initiales Potenzial einer Radikalisierung des Kampfes[3].

Weitere Beispiele der Konflikte im Fahrzeugsektor sind Daimler Trucks und MAN, die ihre Probleme aufgrund der weiterhin schwachen Nachfrage mit Schließtagen und Kurzarbeit bewältigen wollen, sowie mit der weiteren Spaltung der Belegschaften. „Bereits seit Jahresbeginn herrscht bei MAN ein weitgehender Einstellungsstopp, in der Sparte Truck & Bus mussten zudem bereits viele Leiharbeiter gehen.“[4] Die Gewerkschaftsbürokratie verwaltet die Krise auf Kosten der schwächsten Teile der Belegschaft, nämlich der entrechteten LeiharbeiterInnen. Dies führt dazu, dass die gespaltenen Belegschaften die Angriffe nur schwer verhindern können, weil ein gegenseitiges Misstrauen im Betrieb existiert.

Auch General Motors ließ durchsickern, dass ab 2016 im Opel-Werk Bochum keine neuen Modelle mehr produziert würden, musste dann aber mit der Gewerkschaft verhandeln. „Auch die Opel-Führung würde sich lieber heute als morgen vom Standort Bochum trennen, ist aber auf einen Kompromiss mit den Arbeitnehmern angewiesen.“[5] Angeblich sei die Werksschließung nun abgewendet, aber auf Kosten der Löhne der Beschäftigten. Der Betriebsratsvorsitzende Einenkel sagte: „Kürzlich bestand noch die Gefahr von Werksschließungen. Gut, dass GM klügere Lösungen sucht. Die Belegschaft hilft durch Stundung ihrer Tariferhöhung.“[6] Es wäre aber naiv, zu denken, damit sei die Werksschließung tatsächlich vom Tisch, denn Opel wird den Druck auf die Belegschaft weiter erhöhen, um die Produktionskosten zu senken.

Kämpfe gegen Prekarisierung

Derweil schreitet, wie wir ebenfalls in der letzten Ausgabe geschrieben haben, die Prekarisierung in Deutschland voran[7]. Dies sogar im prestigeträchtigen Luftfahrtsektor: Lufthansa versucht, prekäre Arbeitsverhältnisse für die FlugbegleiterInnen durchzusetzen, mit dem Plan, die Billigtochter Germanwings und die europäischen Direktflüge in einer neuen Einheit zusammenzufassen, in der Altbeschäftigte nach Lufthansa-Tarif bezahlt werden sollten, die zukünftigen Beschäftigten allerdings nicht mehr. 2.000 MitarbeiterInnen des Kabinenpersonals und 500 PilotInnen sollten gekündigt werden. Dieser Versuch wurde durch drei Streiktage im August und September verhindert. Es mussten über 1.000 Flüge gestrichen werden, als eine bis dahin einmalige Streikbewegung bei Lufthansa organisiert wurde. Die Einführung von Leiharbeit wurde vorläufig gestoppt, doch erst die Schlichtungsgespräche sollen die Ergebnisse klären. Dort fordert Lufthansa weiterhin den Abbau von „geschätzt 1.000 Stellen beim Kabinenpersonal und 250 im Cockpit. Die übrigen Stellen werden dem Management zufolge durch auf Eis gelegte Neueinstellungen gespart. (…) Während die UFO fünf Prozent mehr Lohn für die derzeit noch 18.000 Flugbegleiter fordert, hat die Lufthansa 3,5 Prozent bei längeren Arbeitszeiten geboten.“[8] Ab 30. November könnte das Lufthansa-Personal wieder streiken. Die Gewerkschaftsbürokratie der Unabhängige Flugbegleiter-Organisation (UFO) arbeitet mit Standortlogik, dennoch stehen sehr viele kämpferische KollegInnen kritisch zur UFO, falls diese auf ein faulen Kompromiss eingeht.

Ein besonders kämpferisches Beispiel für einen Arbeitskampf ist der Streik bei S-Direkt, der Callcenter-Tochter der Sparkasse. 117 Tage haben die prekarisierten ArbeiterInnen dort für einen Tarifvertrag gestreikt. Zu den Arbeitsbedingungen erklärte Betriebsratsvorsitzender Thomas Bittner: „Ein Drittel unserer Arbeitsverträge ist befristet. Wir haben eine Fluktuationsrate von 30 Prozent, einen hohen Krankenstand. Jedem Beschäftigten steht weniger Fläche als Arbeitsplatz zur Verfügung als einem Biohuhn.“[9] Nach fast vier Monaten im Streik musste die Geschäftsführung am 2. November den Tarifvertrag unterzeichnen, der einige wichtige Verbesserungen enthält.

Diese Beispiele zeigen: Die kommende Periode vertieft die Kluft zwischen der Verteidigung der jetzigen Lebensstandards in Deutschland und der Aufrechterhaltung der traditionellen Sozialpartnerschaft der Gewerkschaftsbürokratie. Anders ausgedrückt: Nur im Kampf gegen das Kapital sind die Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung zu erhalten. Insbesondere in prekären Sektoren, in denen die Gewerkschaften wenig Rückhalt haben, werden erste Erfahrungen gemacht, die von einer erhöhten Kampfbereitschaft und radikaleren Methoden zeugen. Auch in traditionell sehr sozialpartnerschaftlichen Bereichen wie dem Metallsektor kommt diese Logik an ihre Grenzen, und schärfere Auseinandersetzungen kündigen sich an. Gleichzeitig weisen all diese Tendenzen große programmatische Grenzen auf und befinden sich nicht auf der Höhe der sich verstärkenden sozialen Krise.

Deshalb bedeutet es nicht, dass mit radikaleren Kampfmethoden automatisch der Horizont des Reformismus überschritten wird (wie die relativ einfache Abwürgung der Warnstreiks im öffentlichen Dienst und im Metallsektor zeigten), aber die Bürokratie gerät stärker unter Druck. Während die deutsche Bourgeoisie bereits äußerst aktiv an der Unterdrückung und Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse anderer europäischer Länder teilnimmt, beginnt die ArbeiterInnenklasse hierzulande langsam und in Grenzen, von den Kämpfen in den anderen Ländern zu lernen.

Soziale Kämpfe in Zeiten der Krise

Doch auch wenn Arbeitskämpfe in Deutschland zunehmen, sind es zur Zeit noch Kämpfe im außerbetrieblichen Bereich, die Menschen auf die Straße treiben. In anderen Artikeln in dieser Ausgabe beschreiben wir exemplarisch die Kämpfe der AsylbewerberInnen und die ansteigende Bewegung gegen Gentrifizierung. Hier reicht es zu sagen, dass diese Kämpfe in anfänglicher und verzerrter Weise auch Ausdrücke des Unmuts gegen die Krise sind, aber vor allem auch des Faktes, dass dies in der Vergangenheit isolierte Kämpfe waren, die nun zum ersten Mal von Schichten außerhalb der linken Szene auf die Straße getragen werden. Hier ist ein Einfluss der Proteste in südeuropäischen Ländern gegen die viel schärferen Auswirkungen der Krise zu sehen.

Dennoch werden diese Kämpfe trotz einer breiteren gesellschaftlichen Solidarität keinen Erfolg haben, wenn ihre Programmatik auf ihren Sektor beschränkt bleibt. Zum Beispiel kann eine Politik gegen Mietspekulationen nicht Erfolg haben, solange der Wohnungssektor unter Kontrolle der KapitalistInnen bleibt. Das Recht des Asyls kann nicht getrennt von den Arbeitsbedingungen in Deutschland oder von einer antiimperialistischen Politik, die die Ursachen der Flucht beseitigt, gedacht werden. Die Losung der Stunde ist daher die Verbindung der verschiedenen Kämpfe unter ein gemeinsames Programm gegen die Krise – deutschland-, europa- und weltweit.

Eine Solidaritätsbewegung mit der ArbeiterInnenklasse in den „Krisenländern“ existiert vereinzelt in Deutschland. In Bündnissen wie dem Griechenland-Solikomitee Berlin[10] oder dem Vorbereitungsbündnis für den 14. November in München sind wir auch vertreten. Solche Ansätze können eine größere politische Bedeutung gewinnen, falls die Kämpfe europaweit mehr miteinander vernetzt werden können. Erste Ansätze dazu existieren: Die ArbeiterInnen beim belgischen Ford-Werk in Genk protestierten vor Ford in Köln gemeinsam mit deutschen KollegInnen gegen die Schließung des Werks[11]. Die zeitliche Übereinstimmung des Generalstreiks in verschiedenen Ländern am 14. November muss ergänzt werden durch ein gemeinsames politisches Programm, wie beispielsweise die gemeinsame Politik gegen die Troika und die Krisenprogramme der nationalen Regierungen, die Streichung der Auslandsschulden der Krisenländer und die Verstaatlichung der Betriebe, die schließen oder entlassen, unter ArbeiterInnenkontrolle.

Welches Programm gegen die Krise?

Die politische Zusammenführung der verschiedenen Kämpfe ist nicht hauptsächlich eine Frage der geschickten Handlung der Beteiligten, sondern vielmehr der Entwicklung einer gemeinsamen programmatischen Grundlage. Daher ist die Aufgabe einer revolutionären Organisation, die Ausarbeitung eines Übergangsprogramms, das die verschiedenen Kämpfe mit ihren Besonderheiten zusammenführen kann und eine politische Auseinandersetzung mit den kämpferischen Teilen der ArbeiterInnenklasse führt, um die Partei der Avantgarde aufzubauen.

Im Jahr Fünf der Weltwirtschaftskrise sind wir wieder in einer Zeit angekommen, wo die Tendenz zum Generalstreik existiert. Vor zwei Jahren schrieben wir zum Zeitpunkt eines europäischen Aktionstages: „Für einen europäischen Generalstreik!“[12] Der dient dazu, den Druck auf die Bourgeoisie zu verstärken, ist jedoch keine Zauberformel, denn Generalstreiks unter reformistischer Führung werden auch in europaweitem Maßstab nicht revolutionär. Die reformistischen, gewerkschaftlichen Führungen mobilisieren die ArbeiterInnen nur, wenn sie selbst unter Druck der ArbeiterInnen stehen und brechen den Kampf ab, wenn die ArbeiterInnen politisch geschwächt sind, entweder als Folge dieses Reformismus oder auch der harten Angriffe der Bourgeoisie.

Auch ein europäischer Generalstreik wird die Auswirkungen der Krise nicht lösen – es kann nur ein Moment im Kampf zum Sturz des Europas des Kapitals hin zu den Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas und weltweit zur Errichtung einer sozialistischen Wirtschaftsordnung sein, die demokratisch von den Produzierenden und Konsumierenden kontrolliert wird. Um diesen Kampf zu organisieren, braucht unsere Klasse eine weltweite revolutionäre Partei – sie braucht den Wiederaufbau der Vierten Internationale. Mit einer konsequent klassenkämpferischen, internationalistischen und antiimperialistischen Politik wollen wir mit unseren bescheidenen Mitteln einen Beitrag dazu leisten.

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Gegen Prekarisierung! Leiharbeit abschaffen!
  • Gegen staatliche Repression und Kontrolle! Hartz IV abschaffen!
  • Gegen die spalterische rassistische Propaganda der Herrschenden! Gegen die rassistische Asylgesetzgebung! Unbeschränktes Arbeits- und Bewegungsrecht für Geflüchtete! Unbeschränktes Asylrecht für alle!
  • Verbot von Mieterhöhungen! Verstaatlichung leerstehender Wohnungen unter Kontrolle von ArbeiterInnen- und MieterInnenkomitees!
  • Verstaatlichungen der Banken und der Unternehmen, die schließen oder entlassen, unter ArbeiterInnenkontrolle!

Fußnoten

[1]. Focus: Jetzt trifft es auch die Luxusautos….

[2]. Stefan Schneider: Auf dem Weg in die Rezession. In: Klasse Gegen Klasse Nr. 4.

[3]. Mark Turm: Lehren des Iveco-Kampfes.

[4]. Financial Times Deutschland: MAN prüft Kurzarbeit für 2013.

[5]. Echo Online: GM-Vize glaubt an Opel-Comeback.

[6]. Bild: Warum Opel Bochum noch zu retten ist.

[7]. Chucho Kahl: Prekarisierung in der BRD. In: Klasse Gegen Klasse Nr. 4.

[8]. RP Online: Lufthansa-Schlichtung für Flugbegleiter droht zu scheitern.

[9]. Marx21: Nach unserem Streik wird eine andere Belegschaft in den Betrieb zurückkehren.

[10]. Für eine Beschreibung des Solikomitees, siehe: Tom Hirschfeld: Praktische Solidarität für Griechenland: Das Solidaritätskomitee. In: Klasse Gegen Klasse Nr. 4.

[11]. Kölner Stadt-Anzeiger: Zehn Festnahmen nach Randale.

[12]. RIO: Für einen europäischen Generalstreik!

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