Wie können wir die Gewerkschaften erneuern?

18.05.2023, Lesezeit 15 Min.
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Foto: Simon Zimora Martin

Vergangenes Wochenende kamen 1.550 Kolleg:innen, Gewerkschaftsmitglieder:innen, linke Klimaaktivist:innen und Intellektuelle an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) zusammen. Sie diskutierten über die Frage, wie und womit wir die Gewerkschaften erneuern können.

Damit war die 5. Konferenz Gewerkschaftliche Erneuerung die größte links-gewerkschaftliche Konferenz seit Jahrzehnten, wie Florian Wilde, einer der Organisator:innen, festhielt. Nicht nur war die Veranstaltung damit deutlich größer als ihre Vorläuferin 2019 in Braunschweig. Das Publikum war auch auffällig jung. Es wurde deutlich: Der Diskussionsbedarf unter den Linken in den Gewerkschaften ist seit der ersten Konferenz der Reihe im Jahr 2013 nur gestiegen.

Mit beeindruckenden 56 Veranstaltungen und über 170 Referent:innen aus Politik, Gewerkschaft und Universität deckte die Konferenz ein breites Spektrum an Themen  von historischen Arbeitskämpfen über Tarifpolitik, Inflation und Krieg bis hin zum Klima ab – zu viele, um an dieser Stelle mehr als einzelne Schlaglichter auf die wichtigsten Diskussionen zu werfen.

Ausgerichtet wurde die Konferenz von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der Partei DIE LINKE nahesteht, unterstützt von einer Reihe lokaler und regionaler Gliederungen verschiedener DGB-Gewerkschaften. Besonders stach dabei heraus, dass auf den großen Podien wie auch in vielen Workshops hauptsächlich Gewerkschaftsfunktionär:innen ihre Vorträge hielten, viele von ihnen natürlich mit Verbindungen zur Partei DIE LINKE. Vertreter:innen kämpferischer Belegschaften kamen allerdings wenig zu Wort – doch wenn, dann wurden sie von den Teilnehmer:innen mit stürmischem Applaus empfangen.

Zum Beispiel sprachen Beschäftigte von Galeria Kaufhof in Gelsenkirchen. Der Kaufhof soll geschlossen und damit allen Beschäftigten gekündigt werden. Sie organisierten sich bei ver.di und traten in den Streik, nachdem ihnen höhnisch gesagt worden war, die Geschäftsleitung freue sich, sie als Kund:innen wiederzusehen. Die Rede griff auch den niedrigen Lohn der Verkäufer:innen und die doppelte Arbeitsbelastung auf, unter der die weiblichen Beschäftigten leiden. Denn nach acht Stunden Lohnarbeit im Verkaufkommen der Haushalt und die Kinderversorgung auf sie zu. Besonders fortschrittlich war die Rede der Krankenpflegerin Anuschka Mucha vom Notruf NRW, die neben der feministischen Perspektive des historischen Arbeitskampfes um einen Entlastungstarifvertrag auch die antirassistische Perspektive in einer stark migrantisch geprägten Belegschaft und die demokratische Entscheidung der Kolleg:innen über ihre Streikführung ins Zentrum rückte.

Beim Workshop „Tarifrunden in Zeiten von Inflation, sozialem Protest und konzertierter Aktion“ saß mit Jana Kamischke vom Hamburger Hafen eine Arbeiterin auf dem Podium. Im vergangenen Jahr hatte die ver.di-Vertrauensfrau und stellvertretende Vorsitzende des Betriebsrats bei der Hamburger Hafen- und Logistik-AG im bedeutenden Streik an den Seehäfen eine wichtige Rolle gespielt. Neben ihr auf dem Podium saßen gleich zwei Geschäftsführer von regionalen DGB-Einzelgewerkschaften und ein Ökonom. In ihrem Beitrag hob Jana unter anderem die Rolle der Solidarität hervor: Der Arbeitskampf wurde von Bossen, Polizei, Justiz und Medien angegriffen und letztlich von der Gewerkschaftsführung abgewürgt. Jana betonte, dass hingegen Klasse Gegen Klasse und die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) den Arbeitskampf mit allen Kräften unterstützt, die Solidarität von Tausenden organisiert und argumentiert hatten, dass die Entscheidungen über den Streik in den Händen der Streikenden selbst liegen müssen.

Insgesamt zeigte sich, dass es zu wenig Raum für Diskussionen gab, an denen sich alle beteiligen können. Redebeiträge aus dem Publikum waren bei den großen Zusammenkünften nicht vorgesehen und auch bei den Workshops, die eigentlich ein Ort für Austausch sein sollten, verhinderten die Veranstalter:innen teilweise Wortmeldungen. In einem besonders harten Fall versuchten zwei Mitglieder des Vereins Stolipinovo in Europa im Workshop „Solidarische Antworten auf Inflation, Krieg und Klimakrise“ einen Beitrag zu dem Todesfall von Refat Süleyman auf einem Werksgelände von ThyssenKrupp zu machen. Er arbeitete dort als Reinigungskraft über eine Leiharbeitsfirma und es scheint sehr deutlich, dass es Versuche gab, seinen Tod zu vertuschen. Offenbar ist dies kein Einzelfall. Die Workshop-Moderation und später die Konferenzleitung wollten sie nicht vor Publikum darüber reden lassen. Man forderte sie sogar auf, ein Video von dem Vorfall zu löschen.

Eines der Hauptthemen, das sich durch die Konferenz zog, war die Frage der Umschulung, der sozial-ökologischen Transformation des Energie- und Automobilsektors und der Schwerindustrie. Janine Wissler erkannte in der Podiumsdiskussion am Freitagabend an, dass die Beschäftigten am ehesten wissen, wie man die Produktion umstellen kann. Auf dem Podium wurde aber konsequent die Frage von Enteignung unter Beschäftigtenkontrolle ausgeklammert, um stattdessen vage von mehr Mitbestimmung im Betrieb zu reden. Doch die Grenzen dieser Mitbestimmung zeigen sich in ebenjenen Sektoren: In Unternehmen wie ThyssenKrupp wurde ein Aufsichtsrat mit 50 Prozent Arbeiter:innen erkämpft. An den Eigentumsverhältnissen, und damit daran, wer letztlich bestimmt, hat das nichts geändert. Nur die Enteignung durch die Mittel der Arbeiter:innenklasse – den Streik und die Fabrikbesetzung – kann diese Transformation geschafft werden. Davon war aber so gut wie nichts zu hören. Für uns ist Sozialismus nicht nur eine Phrase am Ende einer Rede, sondern das aktive Ziel unserer Politik. Die Transformation unter Arbeiter:innenkontrolle ist ein Schritt in diese Richtung.

Organizing – nur mehr Partizipation und Mitglieder?

Fanny Zeise hielt bei der Eröffnung am Samstagvormittag einen Vortrag über „10 Jahre gewerkschaftliche Erneuerungen“. Sie sprach über eine Übertragung von Jane McAleveys Konzepten des Organizing auf Deutschland. Organizing gäbe die Antwort auf die Fragen der gewerkschaftlichen Erneuerung. Dabei bezeichnete sie die Demokratisierung in Gewerkschaften als „Experimente mit der Beteiligung von Beschäftigten“. Diese dürften zwar auch in den Verhandlungen etwas sagen, aber nach Zeise nur in Absprache mit der Verhandlungsleitung. Sie referierte dabei über Jane McAleveys Broschüre zu „partizipativen Tarifverhandlungen“. Meinungs- und Interessenunterschiede zwischen der Basis der Gewerkschaften und der Bürokratie wurden dabei nicht angesprochen.

Ein positives Beispiel ist für Zeise, und auch für uns, die Berliner Krankenhausbewegung. Die Delegiertenstrukturen sind ein Fortschritt in die Richtung der Demokratisierung. Dabei wollen wir, im Gegensatz zu Zeise, aber nicht stehenbleiben! Schließlich können immer dann, wenn die Basis in einen realen Konflikt mit den Gewerkschaftsspitzen kommt, diese partizipativen Elemente übersprungen werden. Denn die Leitungsstrukturen der Gewerkschaft selbst, wie die Gewerkschaftsvorstände oder Hauptamtliche Funktionär:innen in ver.di werden nicht von Mitgliedern direkt gewählt. Die bisherigen Teamdelegiertenstrukturen bauen sich, parallel zu den Tarifkommissionen und Arbeitskampfleitungen auf. Es gibt zwar einen engen Austausch und durchaus Abstimmungen über wichtige Fragen. Jedoch nicht alle Fragen des Arbeitskampfes, wie die konkreten Streiktage im TVöD, werden zur Diskussion in Streikversammlungen gestellt. Alle Streiktage müssen im letzten Instanz von Gewerkschaftsvorständen genehmigt werden.

Wir denken, dass die Tarifkommission und Arbeitskampfleitung direkt unter einem imperativen Mandat der Teamdelegiertenstrukturen stehen müssen, also letztlich von ihnen wähl- und abwählbar sind und als ausführende Organe agieren. Es braucht eine bundesweite Ausweitung der Teamdelegiertenstrukturen, sodass sie am Ende auch die bundesweiten Tarifrunden im öffentlichen Dienst kontrollieren, die bisher vom Hauptamt gesteuert werden. Ebenfalls braucht es eine Demokratisierung der Gewerkschaftsstrukturen selbst, sodass auch die hauptamtlichen Funktionär:innen und Vorstandsmitglieder von Mitgliedern direkt wähl- und abwählbar sein sollten und nicht mehr verdienen als einen durchschnittlichen Facharbeiter:innenlohn.

Jedoch mehr Partizipation ist nicht genug, während an den Spitzen unserer Gewerkschaften, vor allem in Bundesvorständen, Funktionär:innen mit Parteibüchern der Regierungsparteien sitzen. Die zentrale Arbeitskampfleitung bei TVöD und TV-L liegt alleine bei den Hauptamtlichen des Bundesvorstandes, statt bei den Beschäftigten. Ihr Druck auf die Bundestarifkommission (BTK), dass die Tarifeinigung angenommen werden soll, hatte für uns den Hintergrund, dass sie durch unbefristete Streiks das Ansehen ihrer SPD-Kolleg:innen in der Ampel-Regierung nicht zu sehr schaden wollten. Es braucht eine politische Konfrontation dieser sozialpartnerschaftlichen Politik der Gewerkschaftsvorständen, die das Organizing-Konzept sich nicht traut.

Über die Schlichtung im öffentlichen Dienst und die am Sonntagabend abgeschlossene Mitgliederbefragung wurde entsprechend von Seiten der Gewerkschaftspitzen auch kaum bis wenig geredet. Anja, Intensivpflegerin beim Klinikum Neukölln und Teil der Berliner Krankenhausbewegung, hingegen lehnte auf dem Podium zu TVöD die Tarifeinigung ab. Zu offensichtlich für alle war dabei, dass die nicht bindende Mitgliederbefragung keineswegs demokratisch ist. Bei einer aufsuchenden Urabstimmung über den Erzwingunsstreik, also einer Abstimmung, für die explizit in allen Betrieben Wahlurnen bereitstehen würden, wäre eine viel größere Beteiligung möglich und vermutlich am Ende ein Votum für weitere Streiks. Es bräuchte demokratische Vollversammlungen in den Betrieben, wo solche Entscheidungen unter den Beschäftigten diskutiert werden können. Die Mitgliederbefragung dient als Mittel der etwas besseren Kommunikation mit den Beschäftigten – wenn überhaupt.

Im Seminar zur Geschichte der Streiks im öffentlichen Dienst wurde über die Einführung dieses Werkzeugs diskutiert. Die Notwendigkeit erschloss sich aus folgendem Beispiel: 1992 hatte es einen der größten Streiks im öffentlichen Dienst in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben. Bei der ver.di-Vorgänger-Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ötv) fand nach zwölf Tagen und angesichts angeblich geleerter Streikkassen die Urabstimmung über ein Verhandlungsergebnis statt, das auf dem Niveau des zuvor von den Arbeitgebern abgelehnten Schlichtungsergebnisses lag. Der Unmut der Kolleg:innen war groß, in der Urabstimmung stimmte die Mehrheit gegen die Einigung. Nach der damals geltenden Satzung hätte der Arbeitskampf wieder aufgenommen werden müssen – doch die ötv-Spitze setzte sich über das demokratische Votum hinweg und schloss den Tarifvertrag ab.

Wir als Klasse Gegen Klasse verteilten zusammen mit der Gruppe ArbeiterInnenmacht eine Erklärung gegen die Annahme des Schlichtungsergebnisses. Diese wurde nicht zur Abstimmung gestellt, da bei den Podien nur vorher ausgewählte Beschäftigte oder Vortragende reden konnten, so erklärte es die Moderation. Eine Resolution sei nicht vorgesehen. Als wir uns meldeten, wurden wir daher auch nicht drangenommen.

Was schlagen wir stattdessen vor?

1.550 Teilnehmer:innen auf einer Konferenz, die sich mit Gewerkschaften und Streiks beschäftigt, sind ein Zeichen: Auch in den letzten Monaten zeigte sich mit den Streiks im öffentlichen Dienst, bei der Post und bei der Eisenbahn, wie hoch die Unzufriedenheit bei den arbeitenden Teilen der Bevölkerung ist. Und mit dieser Unzufriedenheit ist auch eine Kampfbereitschaft zu verzeichnen, hierzulande wie auch international.

In Frankreich sahen wir einen vorrevolutionären Moment: Arbeiter:innen und Jugendliche gingen nicht nur gegen die Rentenreform, sondern auch für ein Ende des kapitalistischen Staats auf die Straße. Diese Streiks fanden auf der Konferenz seitens der Gewerkschaftsbürokratie jedoch beinahe keine Erwähnung. Nun wurde der Streikbewegung in Frankreich mit der Ankündigung nur einzelner Streiktage seitens der Intersyndicale der Wind aus den Segeln genommen.

Auch in Deutschland stellen die Streiks eine Infragestellung des „Weiter so“ dar. Dass bei der Konferenz Diskussionen und Interventionen von Beschäftigten zu kurz kamen, ist jedoch kein Zufall. Vor allem, wenn man bedenkt, dass immer dann, wenn kämpferische Kolleg:innen aus den Betrieben zu Wort kamen, Konflikte mit den Hauptamtlichen angesprochen wurden. Lieferando-Arbeiter:innen sprachen vor versammelter Konferenz darüber, dass man Druck auf die NGG (Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten) machen müsse, um ihren Kampf zu unterstützen und  dafür zu sorgen, dass sich die Gewerkschaft ändert. Im TVStud-Branchentreffen wurde darüber geredet, dass das Hauptamt in Hamburg einen plötzlichen Rückzieher machte. Und selbst Theo Steegmann, der den historischen Streik in einem Stahlwerk von Krupp in Rheinhausen in 1987/88 mitanführte, erwähnte die Konflikte, die sie damals mit der IG Metall-Zentrale in Frankfurt hatten. Es gibt eine Bürokratie und in den konkreten Erfahrungen im Klassenkampf zeigt sich dies immer wieder in allen Sektoren deutlich.

In der Zeit der Wiederkehr der Streiks nach Deutschland müssen die Bürokratie und die mit ihr verbundenen Parteien Angebote für die Klasse bieten, die sich selbst neu entdeckt. Diese Konferenz ist eines dieser Angebote, das versucht, die entstehenden Kräfte in dem vorgegebenen Rahmen zu halten. Dies ist eine Reaktion auf zwei Entwicklungen: Zum Einen die schwindenden Mitgliederzahlen, die die materielle Grundlage des Apparats selbst gefährden, und zum Anderen die Tendenzen hin zu mehr kämpferischen Streiks, in denen immer mehr Kolleg:innen das Top-down in den Gewerkschaften kritisieren.

Die Herausforderung für klassenkämpferische und revolutionäre Kräfte besteht also darin, die unterschwelligen Tendenzen zu mehr Klassenkampf, die sich auch auf der Konferenz ausdrückten, aufzunehmen, und zugleich der Gewerkschaftsbürokratie – und auch ihren linken „Erneuer:innen“ – die Führung streitig zu machen, um die Gewerkschaften als Kampforgane unserer Klasse zurückzuerobern. Seitens linker Bürokrat:innen hingegen wurde nur die Perspektive aufgemacht, mit Ansätzen des Organizings linke Kräfte in den Gewerkschaften zu stärken: Ohne die Frage der Führung aufzumachen.

Der Titel der Konferenz war „Gewerkschaftsarbeit in Zeiten von Krise, Klima und Inflation“. Doch wie man konkret gegen den deutschen Imperialismus vorgeht oder die Produktion übernimmt, um die Klimakatastrophe zu verhindern, wurde in Bochum nicht diskutiert. Wir wollen die Ursachen der aktuellen Krise nicht unkommentiert lassen. Der Krieg in der Ukraine heizt die kapitalistische Krise an. In den Gewerkschaften stellen wir uns klar gegen Putins Einmarsch in die Ukraine. Und genauso klar gegen die NATO und die Waffenlieferungen der deutschen Regierung.

Die Politisierung der Streiks darf nicht nur ein schöne Vorstellung sein, sondern muss Praxis werden. Das bedeutet nichts anderes als die Notwendigkeit, über begrenzte Lohnstreiks hinaus die Politik der Regierung und der Kapitalist:innen anzugreifen.

Der Kampf um die Demokratisierung der Gewerkschaften mit Streikversammlungen und direkte Kontrolle der Basis über alle gewerkschaftlichen Gremien, ist ein zentrales Element, um das zu erreichen.

Während die nächste Konferenz erst 2026 stattfinden wird, wollen wir weiter diskutieren, wie wir gegen die vielen aktuellen Krisen des Kapitalismus kämpfen können. Schließt euch KGK Workers an, wenn ihr diese Politik für einen antibürokratischen Pol in den Gewerkschaften mittragen wollt!

Offenes Treffen von KGK-Workers

Wann? Mittwoch, den 24.05.2023 um 18:00 Uhr
Wo? online per Zoom: https://us02web.zoom.us/j/86526407755?pwd=b09VcDZxUW81UTdlY3FFWVJ0U2tLZz09

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