Ein vorrevolutionärer Moment in Frankreich

20.03.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: O Phil des Contrastes (@Ophildescontrastes)

Über die neue Situation in Frankreich und die Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung.

Ein bonapartistischer Versuch, der nicht durchkommt und die Mobilisierung verstärkt und verändert

Angesichts der Tiefe des Kampfes um die Renten haben die mangelnde Entschlossenheit der Gewerkschaftsführungen der Intersyndicale-Koordination und die Suche nach einem unmöglichen Kompromiss mit der Macht die mächtige soziale Bewegung, die sich seit dem 19. Januar entfaltet, in eine Sackgasse geführt. Der bonapartistische Versuch Macrons, der die autoritärsten Maßnahmen der Fünften Republik anwendet, lässt die Mobilisierung nicht nur wieder aufleben, sondern verstärkt sie und verändert ihren Charakter. Weit entfernt von der „friedlichen und verantwortungsbewussten“ Bewegung, derer sich die Gewerkschaftsführer:innen rühmten, lässt die Anwendung des Verfassungsartikels 49.3 – mit dem die Rentenreform am Parlament vorbei durchgesetzt werden kann – alle Möglichkeiten des Massenkampfes, die bisher von der Intersyndicale zurückgehalten wurden, zur Entfaltung kommen. Wir befinden uns in einem „vorrevolutionären Moment“, der das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen in Frankreich verändern kann.

Eine Regierung in der Krise, unfähig zu regieren

Das Potential der gegenwärtigen politischen und sozialen Krise hat mit dem offenen Ausbruch der Regierungskrise im Rahmen einer tiefgreifenden Krise des Regimes und gleichzeitig mit der Radikalisierung der Massenbewegung zu tun. Das erste entscheidende Element ist die Schwäche von Macron. Er ist nicht nur gesellschaftlich im Land in der Minderheit, sondern auch in der Nationalversammlung. Charles de Courson, ein unabhängiger Abgeordneter der Mitte und zentraler Architekt des „parteienübergreifenden“ Misstrauensantrags gegen die Regierung, über den am Montag abgestimmt werden soll, sagt, dass es keine Rolle spielt, ob der Antrag angenommen wird oder nicht:

Sicher ist, dass diese Regierung nicht mehr regierungsfähig sein wird. Ich bin mir nicht sicher, ob der Präsident der Republik alle Konsequenzen seiner Entscheidung bedacht hat. Das Land wird zunehmend unregierbar werden. Ich glaube, die derzeitige Regierung liegt im Sterben. Es wird von einem Wechsel des Premierministers gesprochen: Das scheint mir naheliegend, aber es wird das Grundproblem nicht lösen. Die Dinge werden sehr schlecht laufen, in der Nationalversammlung, im Senat und auf den Straßen.

Dies geschieht vor dem Hintergrund der Verschärfung der organischen Krise des französischen Kapitalismus, die der Macronismus nach der offenen Krise und der Erosion der politisch-sozialen Koalitionen der Rechten und der Linken, die in den letzten Jahrzehnten die politische Stabilität in Frankreich aufrechterhalten haben, etwas auffangen wollte. Der Absturz von Macron schwächt nicht nur die wesentliche Figur des präsidentiellen Regimes der Fünften Republik, sondern öffnet eine Büchse der Pandora auf der Linken und der Rechten – eine Polarisierung und politische Spannung, die im institutionellen Rahmen immer schwerer zu lösen ist, wie die aktuelle Krise gezeigt hat.

Eine Radikalisierung des Proletariats als Ganzes, mit klaren Forderungen und gestützt durch Demonstrationen und vor allem Streiks

Der zweite Aspekt und das zentrale Element des „vorrevolutionären Moments“ ist die Radikalisierung breiter Schichten des Proletariats. In den letzten drei Tagen kam es in verschiedenen Teilen des Landes zu zahllosen Unruhen, zu zahlreichen Demonstrationen und/oder Aktionen, die spontan oder von den lokalen Gewerkschaften angesichts der Radikalisierung der Basis ausgerufen wurden. In einem Artikel mit dem Titel „Comment l’exécutif tente d’enrayer la mécanique du chaos“ (Wie die Exekutive die Mechanik des Chaos einzudämmen versucht)  schreibt ein besorgter Journalist von Le Figaro:

„Durch Nachahmung wurden Straßenmöbel und einige Fahrzeuge beschädigt“, bemerkt ein Beamter vor Ort, der in diesen sporadischen Aktionen „viel Ähnlichkeit mit der Aktionsweise der Gelbwesten feststellte, als die Bewegung begann, außer Kontrolle zu geraten.“

Tatsächlich weist die Bewegung in ihren Aktionen Parallelen zur Revolte der Gelbwesten auf, ohne jedoch aufgrund ihrer noch frühen Entwicklung bisher deren Gewaltniveau zu erreichen oder die polizeiliche Repression zu überwinden. Jedoch ist das Neue an der Bewegung, dass sie verschiedene Schichten des Proletariats umfasst, und im Gegensatz zum Aufstand von 2018, der sich auf die Randgebiete der Städte konzentrierte, erstreckt er sich auf das gesamte Staatsgebiet und berührt vor allem die Basis der Gewerkschaften. Das gilt selbst für die reformistischsten Gewerkschaften, wie die Aktionen der Arbeiter:innen der CFDT von Dijon zeigen, die eine Puppe von Macron verbrannten – eine Aktion, die vom CFDT-Generalsekretär Laurent Berger abgelehnt wurde. Wie der gleiche Abgeordnete Courson noch einmal sagt:

Heute sagen uns die Gewerkschaften, dass sie nicht sicher sind, dass sie die Truppen lange zurückhalten können, wie sie früher sagten. Gestern Abend haben wir die ersten Ausbrüche erlebt. Die Gefahr besteht darin, dass die Gewerkschaften nicht mehr in der Lage sind, die Bewegungen zu steuern.

Im Gegensatz zur Revolte der Gelbwesten werden bei den aktuellen Protesten eine ganze Reihe von Forderungen und Wünschen laut, von der Ablehnung von Reformen bis hin zu einer ganzen Reihe von Fragen zu Lebens- und Arbeitsbedingungen, die sich gegen die tiefe Logik des neoliberalen Kapitalismus richten. Dieser Aspekt verleiht der aktuellen Bewegung einen potenziell antikapitalistischen Charakter, im Gegensatz zur Revolte der Gelbwesten, welche – da sie im Wesentlichen außerhalb des Arbeitsplatzes stattfand – das Wesen des Lohnverhältnisses nicht in Frage stellte. Und gerade die Tatsache, dass der Protest immer mehr in den Betrieben Fuß fasst und die Arbeiter:innenbewegung mit ihren wichtigsten Kampfmethoden eingreift – dem Streik und den Streikposten –, ist der Hauptunterschied der gegenwärtigen Bewegung. Das zeigt eine ganze Reihe von verlängerbaren Streiks in der Energiewirtschaft, der Petrochemie, den Häfen, in geringerem Maße in der Bahn, insbesondere dem Streik der Müllabfuhr. Außerdem, als Antwort auf die Anwendung des Verfassungsartikels 49.3, lässt sich dazu die Radikalisierung des Streiks in der Total-Raffinerie in der Normandie anführen – der größten Raffinerie in Frankreich –, die zur Lahmlegung der Anlagen geführt hat, ebenso wie die Entstehung von wilden Streiks, wie im Technicentre Chatillon der SNCF (Eisenbahn), die die Dynamik des allgemeinen Massenstreiks wieder aufleben lassen – eine Frage, die nach dem 7. März offen war und die aufgrund der Politik der Intersyndicale nicht zustande gekommen war.

Diese Verallgemeinerung des Streiks wird durch die Schwäche der Exekutive begünstigt. Am Freitag fanden an mehreren Amazon-Standorten in Frankreich Aktionen statt, um gegen den Verlauf der laufenden obligatorischen jährlichen Verhandlungen sowie gegen die Rentenreform zu protestieren. In mehreren Autowerken der PSA-Gruppe ist die Situation latent explosiv, wo die Leiharbeiter:innen mit sporadischen, mehrstündigen Arbeitsniederlegungen gegen die Chefs protestieren. Diese weigern sich, ihnen die Prämie zu gewähren, welche an die Leistungen des Konzerns geknüpft ist, die er den unbefristet Beschäftigten gewährt hat. Der Kampf könnte in den nächsten Tagen einen Sprung machen.

Und andere neue Fronten könnten sich auftun. Wie Arnaud Benedetti, außerordentlicher Professor an der Universität Paris-Sorbonne und Chefredakteur der der Zeitschrift Politik und Parlament, es in Le Figaro ausdrückt:

Die Akzeptanz des 49.3 hat einen Rückschlag erlitten, wie die Demonstrationen zeigen, die in Paris und in vielen Provinzstädten unmittelbar nach ihrer Ankündigung stattfanden. Es kann gut sein, dass diese Rentenreform eine extrem regressive Reform ist, genau wie die Anwendung von 49.3, zu viel 49.3… Die Herausforderung […] wird für die Exekutive darin bestehen, zu verhindern, dass sich die Jugend an den Universitäten und Gymnasien massenhaft der sozialen Bewegung anschließt. Wenn das der Fall wäre, würden wir uns dem Rand einer großen Krise nähern…

Das Haupthindernis: die Führung der Arbeiter:innenbewegung

Angesichts einer solchen politischen und sozialen Krise fungiert die Intersyndicale als letztes Ventil des krisengeschüttelten Regimes der Fünften Republik. Die Brutalität der Exekutive – und vor allem die Radikalisierung der Basis – haben alle ihre Mitgliedsorganisationen dazu gezwungen, zu einem erneuten Demonstrationstag am Donnerstag, den 23. März, aufzurufen. Aber die Intersyndicale hütet sich davor wie vor der Pest, die politische Krise auszunutzen und zu verschärfen, um den Macronismus zu besiegen. Während auf der Straße nicht nur die Regierung von Elizabeth Borne abgelehnt wird, sondern die Forderung „Raus mit Macron“ wieder in den Mittelpunkt rückt, bleibt die Intersyndicale eng im Bereich der Forderungen, die sich wiederum auf die einzige Frage der Rücknahme der Reform beschränken. Wie Marylise Léon, stellvertretende Sekretärin der CFDT, deutlich erklärt: „Wir wollten nicht zu Beginn der Woche mobilisieren, weil wir damit den politischen Kalender beeinflusst hätten“. Auf die Frage nach dem parteiübergreifenden Misstrauensantrag, über den an diesem Montag debattiert und abgestimmt werden soll, antwortet sie: „Wir nehmen dazu keine Stellung. Unser Slogan ist nicht, die Regierung zu stürzen. Unsere Losung ist die Rücknahme der Reform“.

Auch die CGT-Anführer:innen haben sich in den letzten Tagen in Fernsehsendungen in diesem Sinne geäußert. Diese Weigerung, den Kampf zu politisieren, wenn es darum geht, in die Gegenoffensive gegen die Regierung Borne und die Präsidentschaft Macron und all ihre Gegenreformen zu gehen, ist das Haupthindernis für den Fortschritt der Bewegung. Mehr denn je sind die Parolen „Macron, tritt zurück“ und „Abschaffung der Verfassung der Fünften Republik“ an der Tagesordnung, während wir eine radikaldemokratische Lösung für die Fäulnis der autoritären Institutionen dieser bürgerlichen Republik vorschlagen, die den Kampf für eine Regierung der proletarischen Massen selbst erleichtern wird.

Wir können mit Sicherheit sagen, dass das Haupthindernis für die Umwandlung des vorrevolutionären „Moments“ in eine offen vorrevolutionäre oder sogar revolutionäre Situation die konservative und institutionelle Führung der Arbeiter:innenbewegung ist.

Für die Koordination der streikenden und kämpfenden Sektoren: Lasst uns Aktionskomitees für den Generalstreik bilden!

Die Überwindung dieses Widerspruchs, der Vorstoß zu einem alternativen Pol der Führung der Arbeiter:innenbewegung, der die Streiks stärkt und koordiniert, ihnen Perspektiven und Siegeswillen verleiht, ist der wichtigste Schritt, der unternommen werden muss, damit die Situation einen revolutionären Sprung macht, den Streik verallgemeinert und zum Generalstreik voranschreitet.

Der Sprung in der Radikalisierung des Kampfes findet statt, während die Massenbewegung immer noch keine wirklichen Organe Selbstorganisation hat. Das erklärt sich größtenteils dadurch, dass die Bewegung von den Kalendern und den Entscheidungen der Gewerkschaftsführungen der Intersyndicale von oben geprägt wird. Wenn die Bewegung von nun an immer mehr eine autonome und unabhängige Dynamik entwickelt, wird diese Dynamik von oben eine weniger dominante Rolle spielen, wie die spontanen Aktionen der Basis seit Donnerstag gezeigt haben.

Wenn sich diese Situation weiter verschärft, werden Streiks, Demonstrationen, Straßenkämpfe und Krawalle immer unvermeidlicher. Wir von Révolution Permanente unterstützen und fördern all diese Bewegungen, aber gleichzeitig kämpfen wir dafür, sie zu vereinen und ihnen mehr Kraft zu verleihen. Dies ist der Sinn der Bildung des Netzwerks für den Generalstreik, das allmählich ein gewisses Echo in der Avantgarde findet, wie die erfolgreiche Veranstaltung in der Pariser Bourse de Travail am Montag, den 13. März, gezeigt hat, bevor die Situation einen Sprung machte. Beim nächsten Treffen dieses Netzwerks am kommenden Dienstag, den 21. März, werden wir dafür kämpfen, dass dieses Netzwerk aus Aktivist:innen und Streikenden aus einigen der wichtigsten Zentren des aktuellen Kampfes die Schaffung und Verallgemeinerung von Aktionskomitees für den Generalstreik vorschlägt. Diese Aktionskomitees für den Generalstreik sollen allen Aktivist:innen und Strömungen der Arbeiter:innenbewegung offen stehen, die für die Förderung und Konkretisierung dieser Perspektive sind.

Wir von Révolution Permanente sagen laut und deutlich: Ohne eine demokratische, organisierte und disziplinierte Vertretung der kämpfenden Sektoren gibt es keinen Weg zu einem echten Generalstreik, geschweige denn zu einer revolutionären Alternative zur zaghaften Politik der Klassenversöhnung der Intersyndicale. Das ist die Herausforderung für die kommenden Tage.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Französisch bei Révolution Permanente und auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.

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