Über „Anti-Utopien“ und Barbarei im heutigen Kapitalismus

05.04.2018, Lesezeit 5 Min.
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Der Kapitalismus bietet uns für unsere Zukunft eine Reihe von "Anti-Utopien" an: Massenarbeitslosigkeit, ultraflexible Arbeitsbedingungen, Arbeit bis ins hohe Alter und so weiter. Dabei könnte der technologische Fortschritt ganz andere Bedingungen schaffen. Warum geht das im Kapitalismus nicht?

Die kapitalistischen „Anti-Utopien“, die uns gegenwärtig begegnen, sind widersprüchlich: Der Stand der Technik würde es eigentlich ermöglichen, die notwendige Arbeitszeit für die Produktion von Gütern zu verkürzen. Doch die „natürliche“ Konsequenz, die uns der Kapitalismus verspricht, ist dass Millionen von Arbeiter*innen wegen fehlender Arbeit zu Bettler*innen werden. Während die Entwicklung der Produktivkräfte die durchschnittliche Lebenserwartung erhöht, ist die „natürlich notwendige“ Konsequenz die Rentenreform: Ihr Ziel ist es, das Rentenalter so zu erhöhen, dass niemand daran denken kann, Jahre des Genusses zu erleben, ohne für das Kapital „produktiv“ zu sein. Bei den Arbeitsmarktreformen läuft es genauso: Sie wollen nicht weniger, sondern mehr Arbeitszeit und mehr Flexibilität, um die Bedürfnisse des Kapitals zu erfüllen.

Woher kommen diese „Anti-Utopien“? Vor allem, daher, dass es kaum Raum für lukrative Investitionen gibt. Das beschleunigte Wachstum der Aktienmärkte ist nur das entsprechende Gegenstück dieses Phänomens. Von welchem „Ende der Arbeit“ sprechen die Kapitalist*innen denn, wenn alle „Reformen“ doch darauf abzielen, die dem Kapital gewährten Stunden, Tage und Jahre zu erhöhen? Und wie real ist die Bedrohung durch das „Ende der Arbeit“, wenn sich das Investitionsniveau auf einem Rekordtief befindet?

Einmal abgesehen von der reaktionären Art und Weise, in der der Kapitalismus dieses Problem immer löst, sieht es folgendermaßen aus: Damit neue Technologien zu einer materiellen Kraft werden und die Arbeitszeit, die für die Produktion von Gütern benötigt wird, abnimmt, ist ein kräftiges Wachstum der „Investitionen“ und damit eine Steigerung der Produktivität erforderlich. Und gerade die Investitions- und Produktivitätsschwäche – deren Folge der unbegrenzte Anstieg der Finanzmärkte ist – ist der symptomatische Aspekt der mangelnden Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft heute.

Die gängige Fehlinterpretation dieses Mechanismus‘ zeigt die disziplinierende Absicht dahinter an: Es geht darum, die Arbeiter*innen einzuschüchtern, um die Ausbeutungsrate zu erhöhen.

Auch der Vorschlag eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ soll reformistische Illusionen darin erzeugen, dass der Kapitalismus uns noch mehr Brotkrumen gewähren kann. Dieser Vorschlag steht einer Politik direkt entgegen, die auf Arbeitszeitverkürzung (mit vollem Gehaltsausgleich) und die Verteilung der Arbeitszeit auf alle verfügbaren Schultern setzt. Das „bedingungslose Grundeinkommen“ ist der Perspektive entgegengesetzt, die Menschheit mehr und mehr von der Arbeitszeit zu befreien, was letztlich die Perspektive des Kommunismus ist. Dies ist eine Schlüsseldiskussion in einem global zweigeteilten „Arbeitsmarkt“, der mehrere Schichten hat: Es gibt Sektoren, die weit mehr als die reguläre Arbeitszeit arbeiten, und andere, die auf keine Vollzeitarbeit mehr hoffen können. Die Politik des Kapitals besteht darin, den Arbeitsmarkt noch weiter zu fragmentieren und gleichzeitig die strukturelle Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Der jüngste Streik der IG Metall in Deutschland, an dem sich Hunderttausende von Arbeiter*innen mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung beteiligten, zeigte, dass es in wichtigen Sektoren der Arbeiter*innenklasse ein zutiefst fortschrittliches Gefühl gibt, das wir Revolutionär*innen beeinflussen müssen – gegen die reaktionäre Politik der Bosse und der Bürokratien, die wie im Falle der IG Metall eine Reduzierung der Arbeitszeit für einige Sektoren im Austausch für Lohnkürzungen und eine Erhöhung der Arbeitszeit in anderen Sektoren akzeptieren.

Die Knappheit der Investitionen, die wachsenden zwischenstaatlichen Spannungen und die technologische Entwicklung stehen in einem engen Zusammenhang mit der Perspektive großer kriegerischer Katastrophen – einschließlich der Gefahr von katastrophalen „Unfällen“. Die Idee der Kriegstreiberei nimmt als „neues Unternehmen“ des Kapitals derzeit auf „positive“ Weise Gestalt an – im Sinne der Erhöhung der Militärausgaben und der Zunahme der geopolitischen Reibung. Zuvor erschien die Idee des Krieges seit einigen Jahren symptomatisch in den Formulierungen der Intelligenz, die mehr oder weniger zum „Mainstream“ gehört – unter anderem bei Summers, Krugman, Piketty. Sie war dort aber eine negative, abschreckende Vorstellung und damit ein Gegenstück zum Mangel an kapitalistischer Hoffnung auf die Möglichkeit, dass neue Technologien Raum für lukrative Investitionen eröffnen und eine vermeintliche „produktive Revolution“ auslösen könnten.

Heute wird die Barbarei des Kapitalismus immer deutlicher. Nur acht große Kapitalist*innen konzentrieren den gleichen Reichtum wie 3,6 Milliarden Menschen, also die Hälfte der Weltbevölkerung. Ein System, das das Privateigentum an den Produktionsmitteln nutzt, um Milliarden von Arbeiter*innen zu unterwerfen; wo der Fortschritt der Technologie nicht zur Befreiung von der Arbeit führt, sondern ihre Ketten stärkt; wo die Verlängerung des menschlichen Lebens zu einem Nachteil wird; wo die Möglichkeit großer Sprünge bei Investitionen und technologischer Entwicklung mit großen Kriegskatastrophen verbunden ist – ein solches System verdient es zweifelsohne, unterzugehen.

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