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Die Rückkehr der „Epoche der Krisen, Kriege und Revolutionen“ und die Perspektiven für eine revolutionäre internationalistische Linke

29.05.2023, Lesezeit 65 Min.
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Foto: La Izquierda Diario

Die XII. Konferenz der Trotzkistischen Fraktion der Vierten Internationale (FT-CI) debattierte über die internationale Situation und die Perspektiven für Revolutionär:innen. Folgend veröffentlichen wir eines der zentralen Dokumente, das im Vorfeld und der Nachbereitung der Konferenz entstand.

Wie wir schon in vorangegangenen Analysen festgestellt haben, ist eine Periode angebrochen, in der die tiefgreifenden Tendenzen der imperialistischen Epoche der Kriege, Krisen und Revolutionen (Lenin) wieder in den Vordergrund gerückt sind. Im militärischen und geopolitischen Bereich kommen diese Tendenzen im Krieg in der Ukraine, in den wachsenden Spannungen zwischen den USA und China, in der Tendenz zur Bildung von Blöcken rivalisierender Mächte usw. zum Ausdruck. Auf wirtschaftlicher Ebene in den unsicheren Aussichten für die internationale Wirtschaft – mit der Gefahr neuer Banken- und Schuldenkrisen. Auf der Ebene des Klassenkampfes in einem neuen Zyklus, der durch die Folgen der Pandemie, des Krieges und härterer Angriffe der Bourgeoisie und ihrer Staaten angetrieben wird. Im Folgenden werden wir diese Achsen nacheinander behandeln.

Teil 1: Tendenzen zur Krise

Unsichere wirtschaftliche Aussichten

In seiner jüngsten Analyse der Perspektiven der Weltwirtschaft (April 2023) prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) erneut ein Szenario der Unsicherheit mit niedrigen Wachstumsraten – etwa 3 Prozent – für die nächsten fünf Jahre (die niedrigste mittelfristige Prognose seit 1990). Der IWF zählt eine Reihe von Faktoren auf, die das erklären sollen, was er als „blutarme Aussichten“ bezeichnet: 1) die Inflation und die Geldpolitik, die Zinssätze zu erhöhen, um die Inflation zu senken; 2) die Turbulenzen im Banken- und Finanzsektor, die durch die Insolvenzen der Silicon Valley Bank und anderer mittelgroßer Banken deutlich wurden; 3) die Folgen des Krieges in der Ukraine, insbesondere die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen; 4) die zunehmende Fragmentierung oder Tendenz zu regionalen Blöcken als Folge der Krise der Globalisierung und der Lieferketten und vor allem der Streit zwischen den USA und China.

Hinzu kommen „außerwirtschaftliche“ Faktoren wie der interne Streit zwischen Demokraten und Republikanern in den USA über die Schuldenobergrenze, der die Diskussion über einen möglichen Zahlungsausfall und eine Lähmung der US-Behörden aufgrund fehlender Finanzierung wieder aufleben ließ.

Vor dem Hintergrund dieser Tendenzen, die durch den Ausbruch der Pandemie und den Russland/Ukraine-NATO-Krieg noch beschleunigt wurden, brachte der Zusammenbruch der Silicon Valley Bank, gefolgt von der Signature Bank und der First Republic Bank (die später von JP Morgan aufgekauft wurde) die bedrohliche Aussicht auf eine Krise des Bankensystems wieder an den Horizont.

Obwohl es sich um mittelgroße Banken handelt – und im Fall der SVB mit einem Kundenportfolio, das von Technologie-Start-ups und Kryptowährungen dominiert wird –, drohte die Möglichkeit eines unkontrollierten Kapitalabzugs aus den Banken das gesamte System zu beeinträchtigen. Tatsächlich überquerte der Ansteckungseffekt den Atlantik und erreichte die Credit Suisse, die zweitgrößte Schweizer Bank, die von der Schweizerischen Nationalbank gerettet werden musste, als ihre Aktien in den Keller stürzten.

Diese Krise hat die Anfälligkeit des Bankensystems offengelegt, das 2018 unter der Schirmherrschaft der Regierung von Donald Trump und mit Unterstützung eines Teils der Demokraten von den (angesichts des Ausmaßes der Krise zaghaften) Vorschriften befreit wurde, die auf die Große Rezession gefolgt waren, wie etwa die sogenannten „Stresstests“ für Banken von der Größe der SVB. Hinzu kommt die Blase der Start-ups, insbesondere der Tech-Start-ups, die große Risikokapitalinvestitionen erhielten, noch bevor sie überhaupt Gewinne erzielten. Nach einer enormen Expansion auf dem Höhepunkt der Pandemie haben die großen Technologieunternehmen auf die Krise des Sektors mit einer zunehmenden Konzentration und der Entlassung von zehntausenden Beschäftigten reagiert.

Um angesichts der Geschwindigkeit des Ansturms (innerhalb von zehn Stunden wurden Einlagen im Wert von 42 Milliarden Dollar aus der SVB abgezogen) eine Verallgemeinerung der Krise zu vermeiden, beschlossen die Federal Reserve (Fed, Zentralbank der USA) und die US-Regierung, alle Einlagen zurückzukaufen, einschließlich der nicht versicherten Einlagen, die die gesetzlich vorgesehene Grenze von 250.000 Dollar überschreiten.

Politisch war die Rettungsaktion sehr unpopulär („Sozialismus für die Reichen“, wie Bernie Sanders es ausdrückte). Aus diesem Grund versuchte Präsident Biden – der bereits angekündigt hat, dass er sich um seine Wiederwahl bemühen wird –, diese Rettungsaktion so darzustellen, als würde sie „von der Wall Street bezahlt“ und nicht von den Steuerzahler:innen, da die Mittel aus einem von den Großbanken finanzierten Fonds stammen. Es ist jedoch klar, dass es sich um einen massiven Geldtransfer an die Großinvestor:innen und Kapitalist:innen des Silicon Valley handelt, darunter die Hauptspender:innen für die Kampagnen der Demokraten und auch rechtsextreme Libertäre, die mit Trump sympathisieren.

Die rasche Reaktion der Fed und anderer Zentralbanken hat diese Runde von Konkursen und Kapitalabzügen vorerst eingedämmt, wobei eine Kombination aus Rettungsmaßnahmen die Bankbilanzen schützte und die Bankenkonzentration weiter ankurbelte, da Großbanken wie JP Morgan gescheiterte Banken zu Tiefstpreisen aufkauften.

Die Tatsache, dass es nicht zu katastrophaleren Szenarien gekommen ist, bedeutet jedoch nicht, dass die Gefahr einer neuen Banken- oder Finanzkrise endgültig gebannt ist. Der Krieg in der Ukraine hat die strukturellen Tendenzen vertieft, die sich im Kontext einer Erschöpfung (oder tiefen Krise) der neoliberalen Globalisierung entwickelt haben, wie sie durch die Große Rezession von 2008 und ganz allgemein durch den Niedergang der US-Hegemonie und den Aufstieg Chinas deutlich wurde. Wirtschaftliche, politische und geopolitische Aspekte sind dabei eng miteinander verbunden.

Die unmittelbare Ursache für den Zusammenbruch der SVB sind die Auswirkungen der Zinserhöhung der Federal Reserve auf das exorbitante Finanzgeschäft, das unter der Prämisse von Geldkosten nahe Null funktionierte. In diesem Sinne ist dies nur die erste Manifestierung der Folgen des Endes der Ära des „süßen Geldes“, die in den letzten 15 Jahren herrschte. Die Programme des „Quantitative Easing“ führten der Wirtschaft riesige Geldmengen zu, verhinderten Bankenzusammenbrüche und hielten die so genannten „Zombie-Unternehmen“ am Leben – allerdings um den Preis, dass diese Geldmengen hauptsächlich zur Aufblähung von Vermögenswerten und zum exponentiellen Wachstum der staatlichen und privaten Verschuldung führten.

Die Beziehung zwischen der Krise und der Zinserhöhung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Krise der Spar- und Kreditbanken (Savings-and-Loan-Krise) der 1980er Jahre, die mit den drastischen Zinserhöhungen des damaligen Fed-Vorsitzenden Paul Volcker zusammenbrachen. Obwohl in diesem Fall die Erhöhungen im Vergleich zum Beginn der Reagan-Regierung moderat ausfielen, führte die Fed damals innerhalb eines Jahres die schnellste Zinserhöhung seit 40 Jahren durch. Und dasselbe taten auch die europäischen Banken.

Mit dem Krieg in der Ukraine verschärften sich die inflationären Tendenzen, die durch die Folgen der Pandemie entstanden waren, wie etwa die Politik der Geldspritzen zur Ankurbelung der Wirtschaft und Engpässe in den Lieferketten. Die von den westlichen Mächten gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen verschlimmerten die Situation durch steigende Energie- und Lebensmittelpreise und trieben die Inflation in den zentralen Ländern auf den höchsten Stand seit Jahrzehnten.

Die sich abzeichnenden protektionistischen Tendenzen oder die teilweisen Verlagerungen von Lieferketten müssen in diesem allgemeineren Rahmen gelesen werden. Der US-Imperialismus hat mit einem von Trump initiierten Handelskrieg gegen China reagiert, der von Präsident Biden weitgehend fortgeführt wird. So wurde im Februar 2023 der sogenannte „Chips for America Act“ verabschiedet – ein Programm zur staatlichen Finanzierung und Stimulierung der US-Halbleiterindustrie, um den technologischen Vorsprung der USA gegenüber China und anderen Konkurrenten zu sichern. In Bezug auf diese Tatsache gibt es unter verschiedenen Analyst:innen eine Diskussion – die sich auch durch die Debatten auf der FT-Konferenz zog – über den Umfang und die Folgen dieser Art von „Industriepolitik“, die sich vorerst auf die technologische Produktion konzentriert, im Kontext zunehmender Konfrontationen zwischen den Mächten, der Umstellung der Energieversorgung und des militärischen Wettrüstens.

Die Regierungen und Zentralbanken der Großmächte wandten das monetaristische Rezept der Zinserhöhung an, um die Wirtschaft abzukühlen und so die Inflation zu senken, während sie gleichzeitig versuchten, das Szenario der „Stagflation“ zu vermeiden, d.h. eine anhaltende Inflation in Verbindung mit einer Rezession. Der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Michael Roberts meint, dass sich dieses Rezessionsszenario in den zentralen Ländern mit einer Staatsschuldenkrise in der Peripherie kombinieren könnte, insbesondere in den hoch in Dollar verschuldeten Ländern wie Argentinien, Pakistan oder Ägypten. Sri Lanka könnte ein Vorgeschmack auf ein solches Szenario sein.

Die monetaristische Lösung für die Inflation setzt einen erheblichen Angriff auf die Arbeiter:innenklasse voraus. Schematisch gesagt ist die Folge eine Rezession, die zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führt, was wiederum die Fähigkeit der Arbeiter:innenklasse schwächt, zu verhandeln, sich zu organisieren und zu kämpfen, um eine erhebliche Senkung der Löhne zu erreichen. Dieses Rezept, welches zu Beginn der Reagan-Regierung durchgesetzt wurde, war jedoch nicht allein das Ergebnis der Geldpolitik, sondern mit großen Niederlagen für die Arbeiter:innenklasse verbunden – Streik der Fluglotsen in den USA, Bergarbeiter:innen in Großbritannien. Dies ist der Rahmen, in dem sich heute eine neue Welle des Klassenkampfes entwickelt.

Teil 2: Der Krieg in der Ukraine und die verschärften Spannungen zwischen den Mächten

Das aktuelle Kriegsszenario in der Ukraine und der militärische Druck für ein stärkeres Engagement der USA

Wie wir in verschiedenen Artikeln dargelegt haben, ist der Krieg in der Ukraine nicht nur irgendein weiterer Krieg. Auch wenn er in einem nicht unbedingt linearen Rhythmus abläuft, stellt er den Beginn einer offenen (auch militärischen) Infragestellung der derzeitigen Weltordnung dar. Dies fällt mit der Erschöpfung der „bürgerlichen Restauration“ zusammen, die wir als dritte Phase der imperialistischen Epoche verstehen: Sie umfasste die neoliberale Offensive (sowie den Fall der Berliner Mauer und die kapitalistische Restauration in den Ländern, in denen die Bourgeoisie enteignet worden war) und stieß mit der kapitalistischen Krise von 2008 an ihre Grenzen.

Das Kriegsszenario in der Ukraine bleibt offen, was ein zentrales Element für die Entwicklung der neuen Phase der globalen Situation ist. Wie Claudia Cinatti in ihrem Artikel „Ein Jahr Krieg: Einschätzungen und Debatten zum Krieg in der Ukraine“ feststellte: „Der Krieg [ist] trotz der ihm zugrunde liegenden Dynamik der Eskalation immer noch auf ukrainisches Territorium beschränkt […]. Mit zunehmender Dauer des Krieges und der stärkeren Beteiligung der USA und der NATO-Mächte wächst jedoch das Risiko einer Eskalation oder sogar eines unbeabsichtigten Unfalls.“ Auf diesem schmalen Grat bewegt sich die Zukunft des Krieges. Der Zwischenfall mit der US-amerikanischen MQ-9 Reaper-Drohne in der Nähe der Krim (60 Kilometer vom Hafen Sewastopol entfernt) im März, bei dem ein russischer Kampfjet die Drohne abgeschossen hat (ungeachtet von den Details des Falls), ist ein typisches Beispiel dafür. Wie wir wissen, machen es der Nebel des Krieges und die Tatsache, dass Informationen vom Schlachtfeld Teil des Konflikts sind, schwierig, die nächsten Schritte vorherzusagen, und lassen uns im Reich der Spekulationen. Notwendige Spekulationen, denn alles deutet darauf hin, dass wir uns einem neuen Moment im Krieg nähern, der unter dem Begriff „Frühjahrsoffensive“ diskutiert wurde.

Bisher können wir drei Phasen auf dem Schlachtfeld unterscheiden: 1) Die erste, zu Beginn der Invasion, in der die russische Armee eine Art Blitzkrieg entwickelte, eine Schlacht in der Tiefe, welche den massiven Vorstoß von Panzern in Richtung Kiew einschloss. Im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, dass Putin damals nie die Absicht hatte, die Stadt zu besetzen, sondern aufgrund von Geheimdienstberichten von einem Sturz der Regierung Selenskyj ausging, der offensichtlich nicht eintrat. 2) Eine zweite Phase, die durch den Rückzug von der Belagerung Kiews, die Neuorganisation und die Verlegung der russischen Truppen in den Süden und Osten der Ukraine gekennzeichnet war. In dieser Phase konnten die russischen Streitkräfte durch ihren Vormarsch den wichtigsten Hafen am Asowschen Meer (und den Donbass) erobern und einen Landkorridor von der Halbinsel Krim zu den unter ihrer Kontrolle stehenden Gebieten der Donbass-Region schaffen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurde spekuliert, dass diese Eroberungen in Richtung Odessa ausgedehnt werden würden, aber das war nicht der Fall. 3) Eine dritte Etappe – oder ein Teil der zweiten, je nachdem, wie man es sehen möchte – wurde durch die Erklärung der Annexion von Lugansk, Donezk, Saporischschja und Cherson eingeleitet. Darauf folgte eine ukrainische Gegenoffensive im Gebiet Cherson, die die russischen Truppen zwang, sich auf der anderen Seite des Dnjepr an der Südfront zu positionieren. Auch im Gebiet Charkow an der Ostfront mussten sie sich zurückziehen. Im Osten kam es zu einem Kampf um die Konsolidierung der Stellungen, bei dem auf beiden Seiten massiv Artillerie eingesetzt wurde, wobei die Russen deutlich im Vorteil waren und die Wagner-Gruppe in den heißesten Gebieten eine führende Rolle spielte.

Es handelt sich um eine ausgedehnte Phase eines Zermürbungs- oder Ermattungskrieges, die durch die Schlacht um die Stadt Bachmut symbolisiert wird. Diese Phase dauert bis zum heutigen Tag an. Die Frage ist natürlich, wie es weitergeht. Auch wenn die Elemente zur Beantwortung dieser Frage völlig unzureichend und mit Operationen aller Art gespickt sind, lohnt es sich, Hypothesen aufzustellen.

In diesem Sinne sind zwei Ebenen zu unterscheiden: die eine hat mehr mit der Taktik im Krieg zu tun, die andere mehr mit der Strategie.

a) Auf der ersten dieser Ebenen, der taktischeren, zeichnet sich ein harter „Zermürbungs- oder Ermattungskrieg“ ab, wie es ihn seit langem nicht mehr gegeben hat. Wichtig ist, dass ein besonderes Merkmal dieser Art von Krieg darin besteht, dass die Seiten sich gegenseitig durch die allmähliche Zerstörung von Kriegsmaterial und Truppen zu zermürben versuchen. Es wird Kraft gegen Kraft ausgespielt. Es kommt kein „Coup de grâce“, sondern es wird Zentimeter für Zentimeter gekämpft. Die Frage ist, wer zuerst zermürbt wird.

Der Zermürbungskrieg ist bisher für beide Seiten sehr kostspielig, aber aufgrund der Asymmetrie zwischen Russland und der Ukraine scheint das relative Gewicht der Verluste für Letztere viel größer. Dieser Vergleich ist von zentraler Bedeutung, denn obwohl die ukrainischen Streitkräfte umfangreiche westliche Militärhilfe erhalten, handelt es sich sowohl für den US-Imperialismus als auch für die NATO um einen Stellvertreterkrieg, was unter anderem bedeutet, dass sie keine eigenen Truppen vor Ort stationieren. Die Soldaten sowie die Toten und Verwundeten gehören also den ukrainischen Streitkräften an.

Selenskyj scheint darauf zu setzen, die Frühjahrsoffensive zu starten, welche die letzte Chance der Ukraine sein könnte, einen Teil des Gebiets zurückzugewinnen. Im Großen und Ganzen scheint es äußerst unwahrscheinlich, dass es gelingen wird, die russischen Streitkräfte aus den besetzten Gebieten zu vertreiben. In diesem Szenario scheint das taktische Kräfteverhältnis eher zugunsten der russischen Streitkräfte zu sein, trotz deren eigener Ermattung.

b) Auf der zweiten, eher strategischen Ebene besteht die Strategie des US-Imperialismus schematisch gesagt darin, Russland zu zermürben, indem die ukrainischen Truppen als „Kanonenfutter“ benutzt werden. Diese Politik wird von Selenskyj mit dem Argument unterstützt, das gesamte ukrainische Territorium zurückerobern zu wollen, was militärisch gesehen die Möglichkeiten der ukrainischen Streitkräfte bei weitem übersteigt – es sei denn, es kommt zu einer radikalen Änderung der derzeitigen Bedingungen.

Der US-Imperialismus hat diese Ausrichtung auf die Ermattung Russlands bisher mit einigem Erfolg verfolgt. Die Frage ist nun, wo die Grenzen der Strategie liegen, die ukrainischen Streitkräfte für einen stellvertretenden Ermattungskrieg gegen eine Macht wie Russland einzusetzen – einen Krieg, der trotz aller militärischen Hilfe ausschließlich von den Kriegsanstrengungen der erschöpften ukrainischen Streitkräfte vor Ort abhängt.

In diesem Sinne kann der US-Imperialismus angesichts der Ermattung der ukrainischen Truppen entweder seine Intervention weiter vertiefen und auf eine größere russische Schwäche setzen, oder er kann sich auf eine Art Szenario im nächsten Jahr vorbereiten, das die Intensität der Zusammenstöße verringert. Das würde bedeuten, Maßnahmen zu ergreifen, die auf eine Art mittelfristigen Waffenstillstand abzielen, bei dem keine der beiden Seiten ihre Ansprüche aufgibt, der aber in gewisser Weise „den Konflikt einfriert“.

Dies ist eine laufende Diskussion innerhalb des US-Imperialismus, auf die wir später zurückkommen werden. Für den US-Imperialismus hat die Fortsetzung des Krieges unter anderem den Vorteil, Russland weiter zu schwächen, die Abhängigkeit seiner Verbündeten von Russland weiter zu verringern und insbesondere Deutschland von Russland „abzukoppeln“. Zu den Kosten eines langen Krieges gehören das erhöhte Risiko einer Eskalation mit direkter Beteiligung von NATO-Mitgliedern, die eingeschränkte Fähigkeit der USA, sich auf ihre Prioritäten im Osten zu konzentrieren, und die erhöhte Abhängigkeit Russlands von China. Dies ist eine Diskussion über die Grenzen dessen, was der US-Imperialismus im Hinblick auf das Ziel der Zermürbung Russlands erreichen kann.

Aus strategischer Sicht und ohne eine große Wende im Krieg, die heute nicht in Sicht ist, ist jeder taktische Teilsieg Russlands, der sich in Gebietsgewinnen niederschlägt, ein Pyrrhussieg angesichts der Zermürbung, die selbst die Aufrechterhaltung dieser Gewinne nach sich ziehen würde. Auf jeden Fall wird Russland weniger Handlungsspielraum (es wird sich stärker auf China stützen müssen, Finnland wurde NATO-Mitglied und Schweden bereitet sich darauf vor, diesem Beispiel zu folgen) als vor dem Krieg haben und nicht mehr. Inwieweit dies der Fall sein wird, bleibt jedoch abzuwarten.

In globaler Hinsicht – im Sinne der „großen Strategie“, könnte man sagen – ist jedoch nicht ausgemacht, dass die Schwächung Russlands zu einer Stärkung der USA führt. Unmittelbar erhöht Russland seine Abhängigkeit von China. Letztere sind jedoch, wie wir später erörtern, trotz ihrer wachsenden imperialistischen Züge derzeit nicht in der Lage, dem US-Imperialismus die globale Vormachtstellung erfolgreich streitig zu machen. Daher ist der globalere Ausgang dieser ganzen Konfiguration noch offen.

Diese Elemente machen das Szenario noch instabiler angesichts eines Krieges, der sich wahrscheinlich in die Länge ziehen wird und dessen tatsächlicher Ausgang noch nicht absehbar ist.

Der sich entwickelnde Konflikt in der Ukraine und unsere politischen Definitionen

Wie wir bereits dargelegt haben, besteht die wichtigste Neuerung der gegenwärtigen Kriegssituation im Ausbruch eines zwischenstaatlichen Krieges, an dem Mächte auf beiden Seiten beteiligt sind, auch wenn die USA und die NATO als Stellvertreter auftreten.

Die Politik der USA und der NATO, die im Krieg in der Ukraine fortgesetzt wird, ist die imperialistische Politik der „Einkreisung“ Russlands durch die Osterweiterung der NATO, auch wenn es nicht zu einer direkten militärischen Konfrontation kommt. Damit einher ging die Einmischung in die sogenannten „Farbrevolutionen“, um aus den Aufständen gegen autoritäre Regime Kapital zu schlagen, um den Einfluss der USA auszuweiten.

Die Politik, die Putin mit der Invasion der Ukraine verfolgt, besteht darin, den Status einer Militärmacht für Russland wiederherzustellen und die nationale Unterdrückung der Nachbarvölker zu vertiefen. Russland handelt wie eine Art „Militärimperialismus“, obwohl es kein imperialistisches Land im eigentlichen Sinne ist, da es keine bedeutende internationale Ausstrahlung seiner Monopole und Kapitalexporte hat, sondern im Wesentlichen Gas, Öl und Rohstoffe usw. exportiert. Sein dauerhafterer „Status“ im System der Staaten wird vom Ausgang des Krieges abhängen.

Die Politik der Regierung Selenskyj, die im Krieg fortgesetzt wird, besteht darin, die Ukraine den westlichen Mächten unterzuordnen. Der politische Prozess, den die Ukraine seit Jahrzehnten durchläuft, ist unverständlich außerhalb einer Pendelbewegung, die durch die Konfrontation zwischen den lokalen „pro-russischen“ und „pro-westlichen“ kapitalistischen Oligarchien gekennzeichnet ist. Dazu gehörte die „orangene Revolution“ im Jahr 2004 und ihre Fortsetzung im Euromaidan im Jahr 2014. In diesen Zusammenstößen vertiefte sich die Spaltung, die durch die Interessen der verschiedenen Fraktionen der lokalen Oligarchie angeheizt wurde. Diese verschärft sich noch durch die Existenz einer bedeutenden russischsprachigen Minderheit (etwa 30 Prozent der Bevölkerung) und den Aufstieg rechtsextremer nationalistischer Gruppen. Ein Bürger:innenkrieg niedriger Intensität, der bis ins Jahr 2014 zurückreicht. Diese russischsprachige Minderheit war Ziel von Unterdrückungsmaßnahmen, einschließlich Beschränkungen des Gebrauchs ihrer Sprache und Angriffen durch vom Staat geförderte rechtsextreme Gruppen.

Die Ukraine ist für den US-Imperialismus und die NATO ein Schlüsselfaktor für die „Eindämmung“ Russlands und die Schwächung des Landes als Macht, wobei das Maximalziel darin bestünde, den mit der kapitalistischen Restauration begonnenen Weg der Unterordnung des Landes unter die US-Ordnung wieder aufzunehmen. Seit 2014/2015 hat die NATO den Reformprozess der ukrainischen Streitkräfte angeführt, einschließlich der Bewaffnung und Finanzierung. Im Jahr 2020 verlieh die NATO dem Land den Status eines „Partners mit erweiterten Möglichkeiten“, und auf dem NATO-Gipfel 2021 wurde die strategische Vereinbarung bekräftigt, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses werden würde, ohne dass dies konkretisiert wurde. Der US-Imperialismus spielt über die NATO die Rolle der politisch-militärischen Führung der ukrainischen Seite in seinem eigenen Interesse: Russland zu schwächen und seine Verbündeten im Streit mit China zu bündeln.

In diesem Rahmen unterscheiden wir zwischen Sanktionen (Wirtschafts-„Krieg“), an denen die westlichen Mächte direkt beteiligt sind, und dem Krieg im engeren Sinne als „Schlacht auf einem Feld zwischen Menschen und Maschinen“, welcher die internationale Ordnung entscheidend beeinflussen kann. In diesem Rahmen weiten die USA und die NATO ihren Einfluss (Geheimdienst, Rüstung, Kommando, Ausbildung, Finanzierung usw.) aus, ohne jedoch direkt und offen vor Ort tätig zu werden.

Es ist wichtig zu bedenken, dass diese Definition nicht endgültig ist und dass es Faktoren im Krieg selbst gibt, die auf eine stärkere Beteiligung der USA drängen. Wenn und soweit sich dies ändert, sollte unsere Position – mit den notwendigen Unterschieden des Falls – sich stärker derjenigen annähern, die Trotzki („Bemerkungen zur Tschechoslowakei“) in der Sudetenkrise 1938 skizzierte. Angesichts der Annexion der damaligen Tschechoslowakei durch Hitler mit dem Vorwand, die deutsche Bevölkerung in diesem Gebiet zu schützen, vertrat Trotzki dort eine direkt defätistische Politik auf beiden Seiten. Die Krise war eines der Vorspiele des Zweiten Weltkriegs (letztlich unterzeichneten die europäischen Großmächte, ohne die Tschechoslowakei, das Münchner Abkommen und erkannten das Sudetenland als deutsches Gebiet an). Gleichzeitig betonte Trotzki – im Gegensatz zu denen, die mit einem „demokratischen“ imperialistischen Diskurs von der Verteidigung der tschechoslowakischen Demokratie sprachen – die Unterdrückung innerhalb des Landes durch die Tschech:innen, unter anderem gegen die Slowak:innen und die Sudetendeutschen.

Unsere Politik seit Beginn des Konflikts, zusammengefasst in der Erklärung der FT, die wir weiterhin für richtig halten, lautete: „Nein zum Krieg! Russische Truppen raus aus der Ukraine! NATO raus aus Osteuropa! Nein zur imperialistischen Aufrüstung! Für die internationale Einheit der Arbeiter:innenklasse! Für eine unabhängige Politik in der Ukraine gegen die russische Besatzung und die imperialistische Vorherrschaft!“ So haben wir zu Beginn des Konflikts auf die Bedeutung des Elements der nationalen Selbstbestimmung hingewiesen. Gleichzeitig haben wir die Unterdrückungsmaßnahmen gegen die russischsprachige Minderheit als einen der Faktoren hervorgehoben, die für eine unabhängige Politik in diesem Konflikt berücksichtigt werden müssen, welcher durch die russische Invasion einerseits und die indirekte Intervention der USA und der NATO andererseits gekennzeichnet ist. In dem Maße jedoch, wie sich die direkte Intervention der USA und der NATO ausweitet (und bereits ausgeweitet wurde), tritt dieses Element der nationalen Selbstbestimmung bei der Festlegung unserer Politik zunehmend in den Hintergrund, insofern es sich der militärischen Konfrontation zwischen den Mächten unterordnet.

Gegen Kriegstreiberei und bürgerlichen Pazifismus in seinen beiden Varianten: pro-westlich und pro-russisch/chinesisch

Im Linksliberalismus und in der Linken lassen sich vier Gruppen von Positionen mit unterschiedlichem Gewicht ausmachen, die sich auf die eine oder andere Seite des Konflikts stellen. Zum Einen gibt es diejenigen Strömungen, die die Intervention in den Krieg aus dem einen oder anderen „Lager“ heraus verteidigen, und zum Anderen diejenigen, die eine Art imperialistischen „demokratischen Frieden“ auf der Grundlage der Diplomatie aus dem einen oder anderen Lager verteidigen.

Der Großteil der Mitte-Links-Organisationen auf internationaler Ebene beugt sich der Propaganda der enormen Mehrheit der großen westlichen Medien seit Beginn des Krieges, die die Ablehnung von Putins reaktionärem Einmarsch in der Ukraine zu nutzen versuchen, um die NATO als Verteidigerin von Frieden und Demokratie darzustellen. Ein großer Teil der Linken hat sich dieser Politik mit unterschiedlichen Nuancen und Intensitäten gebeugt (LITCI, UITCI, USec, etc.). Seit dem Beginn des Konflikts haben wir verschiedene Polemiken in diesem Sinne entwickelt. Einige dieser Strömungen haben sich die Parole „Waffen für die Ukraine“ auf die Fahne geschrieben, jenseits jeglicher Klassenabgrenzung, und sich faktisch in das NATO-Lager gestellt.

Auf der anderen Seite präsentieren einige kommunistische Parteien und Teile des lateinamerikanischen Populismus Putin – und einen Block mit China – als eine Art Alternative zum Imperialismus und argumentieren, dass Russlands Einmarsch in der Ukraine eine notwendige Maßnahme der „nationalen Verteidigung“ gegen die NATO sei.

Eine andere, weit verbreitete Position ist die des größten Teils der reformistischen Linken in Europa, zu der auch Teile von DIE LINKE in Deutschland, La France Insoumise, Syriza in Griechenland, Podemos und die PCE in Spanien usw. gehören. Sie kritisieren die russische Invasion und teilweise die Reaktion der NATO und fordern einen Waffenstillstand und eine EU-Vermittlung, um Friedensverhandlungen zu erleichtern. Der Klasseninhalt dieser Vorschläge ist die Artikulation einer „anderen Außenpolitik“, die für die Verteidigung der Interessen der EU-Staaten, d.h. ihres eigenen Imperialismus, effektiver ist.

Eine Variante dieser pazifistischen Politik schließlich beruht auf der Vorstellung, dass die chinesische Macht eine Art Alternative – wenn nicht fortschrittlich, so doch zumindest wohlwollender – zur Hegemonie des US-Imperialismus wäre. Ein Ausdruck davon ist Rafael Poch de Feliú, der den „Multilateralismus“ befürwortet, die Unterordnung Europas unter die USA kritisiert und eine „nicht-hegemoniale“ Tradition Chinas preist, welches derzeit mit seinem „Friedensvorschlag“ Propaganda macht, oder auf einen angeblichen Multilateralismus der „Blockfreien“ nach dem Vorbild Brasiliens unter Lula setzt. Maurizio Lazzarato, mit dem wir in „Jenseits der bürgerlichen Restauration“ debattiert haben, stellt zwar fest, dass „der Frieden keine Alternative ist“, zeichnet aber eine Idee des „geringeren Übels“, die in eine ähnliche Richtung geht. Sein Argument ist, dass der US-Imperialismus „viel gefährlicher ist als der von China, Russland oder irgendeinem anderen Land, das noch nicht über die militärischen und finanziellen Instrumente verfügt, um die Welt auszuplündern, wie es die USA jetzt tun“. Auf der anderen Seite gibt es Fälle wie Gilbert Achcar, der sich im Ukraine/NATO-Lager positioniert und kürzlich die Biden-Administration anprangerte, weil sie dem chinesischen Vorschlag als Weg zum „Frieden“ im Weg stehe.

Die Wahrheit ist, dass China, obwohl sein Zugang zu Osteuropa durch den Krieg behindert wurde, vom möglichen Kriegsausgang profitieren will. So könnte es beispielsweise billigen Treibstoff und neue Bedingungen für den Erwerb von Militärtechnologie erhalten und auf dem Landweg entlang der Seidenstraße über Kasachstan, Turkmenistan, Kirgisistan und Usbekistan vorankommen. Das chinesische „Modell“ basiert auf einem Einparteienregime und verstaatlichten und bürokratischen Gewerkschaften, die eine harte Disziplinierung seiner riesigen Arbeiter:innenklasse garantieren. Das ist eine unumgängliche Grundlage des chinesischen Wirtschaftswachstums, welches ausländischen und inländischen Großnternehmen zugute kommt, die den Regeln des internationalen kapitalistischen Systems (IWF, WTO usw.) folgen.

All diese Positionen laufen darauf hinaus, sich hinter eines der konkurrierenden reaktionären „Lager“ zu stellen, entweder indem sie einen Sieg des Ukraine/NATO-Lagers oder des Putin-Lagers postulieren oder indem sie Illusionen in eine imperialistische „Friedens“-Lösung schaffen – sei sie ausgehend von der EU oder von China –, obwohl die Kriegstreiberei der Großmächte in vollem Gange ist. Die Aufgabe der Revolutionär:innen ist es, einen Pol gegen den Krieg in der Ukraine zu bilden, der die internationale Einheit der Arbeiter:innenklasse mit einer unabhängigen Politik vertritt, für den Abzug der russischen Truppen, gegen die NATO und die imperialistische Aufrüstung, für eine sozialistische Ukraine der Arbeiter:innen, in der Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas.

Hinter uns liegen Jahrzehnte imperialistische Globalisierung, die unhinterfragt von den USA angeführt wurde. Deshalb ist es wichtig, im Szenario wachsender Streitigkeiten zwischen den Mächten allen Illusionen in den „Multilateralismus“ entgegenzutreten. Es gibt keinen linken Multilateralismus. Gegen die Visionen, die ihre Hoffnungen auf das Gleichgewicht zwischen kapitalistischen Mächten und regionalen Staatenblöcken setzen, ist der Kampf für eine proletarisch-internationalistische Politik das Gebot der Stunde. Diesen Varianten muss ein Antiimperialismus und ein Internationalismus entgegengesetzt werden, der die Klasse, die die mehr als drei Milliarden Arbeiter:innen des Planeten umfasst, mit den unterdrückten Völkern der Welt vereint, um dem kapitalistischen System ein Ende zu setzen.

Innenpolitik und internationale Politik: zunehmende Reibungen zwischen bürgerlichen Fraktionen

Vor dem Hintergrund der Erschöpfung des unilateralen Voranschreitens der von den USA hegemonisierten weltweiten Integration (Globalisierung) verschärft sich der Widerspruch zwischen der internationalen Integration der Produktivkräfte und der Rückkehr des Militarismus der Mächte. Der Krieg in der Ukraine und die zunehmenden geopolitischen Spannungen im Allgemeinen dringen immer stärker in die Innenpolitik der verschiedenen Staaten ein, vor allem in die imperialistischen – auf einem viel höheren Niveau, als wir es in den vergangenen Jahrzehnten gewohnt waren. Wenn der Krieg sich verlängert und der Militarismus voranschreitet, worauf alles hindeutet – ganz zu schweigen von einer möglichen sprunghaften Ausweitung der militärischen Konfrontation –, wird sich dies nur noch vertiefen.

Thomas Friedman berichtete von einem Mittagessen mit Biden, bei dem er zwischen den Zeilen verstand, dass Biden, „obwohl er den Westen geeint hat, fürchtet, die Vereinigten Staaten nicht einigen zu können“. Bei den Republikanern mehren sich die Stimmen, die sich gegen ein Eingreifen der USA in den Krieg in der Ukraine aussprechen. Trump sagt, der Krieg hätte vermieden werden können, und will mit seiner isolationistischen Rhetorik „den Dritten Weltkrieg verhindern“. Ron DeSantis, der sanftmütige Trump, auf den das republikanische Establishment setzt, ging sogar so weit zu sagen, dass die Ukraine kein strategisches Interesse der USA sei und dass die USA in einem Streit zwischen Russen und Ukrainern nicht Partei ergreifen sollten. Der Konsens zugunsten eines Krieges in der Ukraine ist laut Umfragen zwar immer noch mehrheitlich, doch gibt es Anzeichen dafür, dass er sich von oben erschöpft. Weitere ukrainische Rückschläge auf dem Kriegsschauplatz könnten ihn weiter untergraben. Dies spricht auch für einen heiklen Moment in Bezug auf den Krieg in der Ukraine im Verhältnis zu den USA.

Der eigentliche Konsens der herrschenden Klassen in den USA besteht in der Konfrontation mit China. Trump hatte bereits eine aggressivere Politik des „Handelskriegs“ begonnen, die Teil eines Prozesses der strategischen Neuausrichtung der Wertschöpfungsketten ist. Biden setzt diese Politik fort und bereitet den Boden für weitere Konfrontationen. Die USA wollen auch Europa in diese „Abkopplung“ drängen, angefangen mit der Abkopplung Deutschlands von Russland, indem sie den Krieg in der Ukraine so weit wie möglich ausnutzen.

Die Verwicklung der USA in den Nordstream-Anschlag bringt auf den Tisch, was für einen Teil der deutschen herrschenden Klassen mehr oder weniger offensichtlich ist: dass die von den USA favorisierte Eskalation gegen Russland das klare Ziel hat, die Interessen der USA zu Lasten Europas und in erster Linie Deutschlands in den Vordergrund zu stellen. Ein Element, das sich zum Beispiel die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) zunehmend zunutze macht. In einem Interview mit einer chinesischen Zeitung bezeichnete der AfD-Abgeordnete Steffen Kotré die Sprengung der Gaspipeline als einen Akt des Staatsterrorismus, der von den USA verübt wurde. Im Grunde drückt sich hier die Spannung innerhalb der deutschen herrschenden Klasse aus: Auf der einen Seite reiht sie sich hinter die USA ein, und auf der anderen Seite versuchen mehrere große transnationale Unternehmen wie Volkswagen, die Deutsche Bank, Siemens oder BASF, die Beziehungen zu China zu verbessern, mit dessen Wirtschaft sie weitgehend verflochten und von der sie abhängig sind, während andere in die USA gehen, um den höheren Energiekosten zu entgehen.

In diesem Rahmen werden sich die Spannungen zwischen den verschiedenen bürgerlichen Sektoren eines jedes Imperialismus – zwischen den am stärksten transnationalisierten und den am wenigsten transnationalisierten, zwischen denjenigen, deren Unternehmen enger mit China oder den USA verbunden sind, usw. – in immer offenere Auseinandersetzungen verwandeln, je weiter die militärischen und geopolitischen Spannungen und die Blockbildung voranschreiten. Mit anderen Worten, in der nationalen Politik geht es nicht mehr nur um unterschiedliche Politiken für das Management des lokalen Kapitalismus und seine bessere oder schlechtere Positionierung unter dem Dach der USA, sondern perspektivisch um echte Blockbildungen, um Freund-Feind-Konfrontationen auf der internationalen Bühne. Dies ist eine wichtige Frage, durch die die Politik innerhalb der bürgerlichen Regime auch „klassischere“ Töne im Sinne der imperialistischen Epoche annimmt.

Die Dynamik der Blockbildung

Dem von den USA geführten Block steht ein weniger konsolidierter und fließender „Block im Aufbau“ gegenüber, in dessen Zentrum ein russisch-chinesisches Bündnis steht, das allmählich mehr Gestalt annimmt und als Anziehungspunkt für mehrere „Schwellenländer“ fungiert. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine unterstützt China Russland, nimmt aber öffentlich eine Position der vorgetäuschten Neutralität ein. Der Handel zwischen den beiden Ländern wird immer intensiver. Im Jahr 2022 stiegen die chinesischen Exporte nach Russland um 12,8 Prozent – mit einem großen Anteil an Maschinen, Autos und Ersatzteilen – und die russischen Ölexporte nach China stiegen in Dollar gerechnet um 44 Prozent, während sich die Gasexporte mehr als verdoppelten. Vor diesem Hintergrund und angesichts des Krieges in der Ukraine und der zunehmenden Spannungen zwischen China und den USA unternahm Xi Jinping vor kurzem eine offizielle Reise nach Russland. Auf der Tagesordnung standen nicht nur der Krieg in der Ukraine (wo sich China als „Förderer des Friedens“ positioniert), sondern auch die Vertiefung der strategischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern und das Panorama der „Ostfront“ im Pazifik, wo die USA eine zunehmend feindselige Politik betreiben, um China einzukreisen.

Auch wenn die USA es geschafft haben, Europa und den Block mit Japan, Australien und Südkorea hinter sich zu vereinen, und ein ganzer Sektor von Ländern für die Sanktionen gegen Russland gestimmt hat, hat ein ganz anderer Sektor in der UNO nicht mitgemacht. Wie Claudia Cinatti in dem oben zitierten Artikel hervorhebt, haben die meisten Länder – anders als zu Zeiten des Kalten Krieges – eine „gegenseitige Abhängigkeit“ von den USA, China und Russland entwickelt. Das bedeutet, dass sie ihre Positionen je nach Situation ändern und ihre Bündnisse nach wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Interessen oder sogar nach der politischen Nähe ausrichten. Russland und China wirken, wie gesagt, als Anziehungspunkt für mehrere Länder des so genannten „globalen Südens“. Darunter befinden sich Regionalmächte wie Indien, ein großer Teil Afrikas, Asiens und Lateinamerikas und sogar historische Verbündete wie Saudi-Arabien (und sogar Israel), die sich aus verschiedenen, nicht immer übereinstimmenden nationalen Interessen bei Abstimmungen in der UNO nicht mit den USA verbündet haben.

In diesem Zusammenhang hat die chinesische Diplomatie die USA überrascht, indem China als Vermittler in den Beziehungen zwischen keinem Geringeren als Saudi-Arabien und dem Iran auftrat. Letzterer setzte auf die kaum verhüllte Unterstützung Chinas, um die „westlichen“ Sanktionen gegen den Verkauf seines Öls zu umgehen und Fortschritte im Waffenhandel mit Russland zu erzielen. Andererseits ist China in Afrika in letzter Zeit zum Nachteil der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs zum wichtigsten Handelspartner mehrerer Staaten des Kontinents geworden. Moskau hat in Ländern wie Mali und Burkina Faso zum Nachteil Frankreichs an Gewicht gewonnen, wie die jüngste Reise Lawrows zeigt, die als Spiegelbild der ereignisreichen Reise Macrons gesehen werden kann, welcher sich öffentlicher Kritik des Präsidenten des Kongo stellen musste.

Der Aufstieg des imperialistischen Militarismus und das Szenario im Osten

Der Zusammenprall zwischen der globalen Integration unter der Hegemonie der USA, die sich derzeit in einer Krise befindet, und der verstärkten Herausforderung dieser Weltordnung durch die so genannten „revisionistischen“ Mächte bildet den Rahmen der Politik, die im Krieg in der Ukraine verfolgt wird. Es geht darum, diese unipolare Ordnung in Frage zu stellen, wobei dies vorerst unter den Bedingungen geschieht, unter denen die USA den anderen Mächten jeweils den Konflikt vorgibt. Im Falle Russlands in direkt militärischer Hinsicht, im Falle Chinas immer noch in Form eines wirtschaftlichen „Krieges“, wenn auch mit wachsenden Spannungen im militärischen Bereich. Während Russland wie gesagt als eine Art Militärimperialismus handelt, gehen wir im Falle Chinas von der Feststellung aus, dass China imperialistische Züge trägt. Dies zeigt sich beispielsweise in den Finanz- und Handelsabkommen im Austausch für einen privilegierten Zugang zur Ausbeutung von Rohstoffen oder dem Tausch von Krediten gegen Rechte zur Ausbeutung von Ressourcen in Afrika und Lateinamerika. Ebenso spiegelt es sich in Chinas anfänglicher politischem Anspruch, bei den internen Entscheidungen einiger Länder an der kapitalistischen Peripherie mitzureden, oder der Seidestraßeninitiative und vielen anderen Aspekten.

Es ist wichtig, zwischen der derzeitigen Verstärkung dieser imperialistischen Züge und der Errichtung einer alternativen Welthegemonie durch China zu unterscheiden, die ein viel höheres Maß an Konfrontation bedeuten würde. Die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten „Nachfolge“ der US-Hegemonie wird auf keinen Fall friedlich und evolutionär sein, d.h. sie wird nicht ohne Kriege in großem Maßstab ablaufen. Dazu gehört auch, über den Platz von Großmächten wie Deutschland und Japan in dieser Auseinandersetzung nachzudenken.

Neu ist heute, dass der Streit zwischen China und den USA, der zunächst als „Wirtschaftskrieg“ geführt wurde, zunehmend mit zunehmenden geopolitischen/militärischen Spannungen um Taiwan und die Kontrolle über das Südchinesische Meer einhergeht und eines der ernstesten Szenarien für eine mögliche Konfrontation zwischen den beiden Großmächten darstellt. Zur fortschreitenden Militarisierung der Region kam vor kurzem das Militärabkommen zwischen den USA, dem Vereinigten Königreich und Australien (AUKUS) über nuklear angetriebene Atom-U-Boote hinzu, das Australien Zugang zu dieser geheimen US-Technologie gewährt (wobei klargestellt wurde, dass die U-Boote keine Atomwaffen tragen würden). Das Abkommen zielt darauf ab, die westliche Militärpräsenz im Pazifik zu erhöhen. Das erste Ziel ist die Stationierung von vier US-U-Booten und einem britischen U-Boot auf Rotationsbasis auf dem australischen Stützpunkt in Perth ab 2027.

Weder die USA noch China scheinen gegenwärtig einen Krieg um Taiwan zu wollen. Allerdings zeichnet sich eine Reihe feindseliger Handlungen ab (Besuch von Pelosi, chinesische Militärübung in der Nähe Taiwans, AUKUS-Vorstoß, gemeinsame Militärübungen zwischen China, Iran und Russland im Golf von Oman usw.) sowie einschlägige Handelsmaßnahmen wie Beschränkungen auf dem internationalen Mikrochip-Markt gegen China ab Oktober 2022. Ende Januar dieses Jahres erzielte Biden eine Vereinbarung mit den Niederlanden und Japan, sich den Halbleiter-Exportkontrollen anzuschließen. Dass diese Maßnahmen schrittweise immer weiter ansteigen, bedeutet, dass wir uns mit der Möglichkeit eines militärischen Konfrontationsszenarios um Taiwan auseinandersetzen müssen. Natürlich hätte ein Konflikt solchen Ausmaßes – selbst in dem hypothetischen Szenario, das sich auf die taiwanesischen Matsu-Inseln vor der chinesischen Küste beschränkt – nicht nur militärisch, sondern auch im Hinblick auf den globalen Kapitalismus das Potenzial, die Welt zu „destabilisieren“. Es ist erwähnenswert, dass Taiwan, die Heimat der Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC), der größte Halbleiterhersteller der Welt ist und China der größte Chipimporteur der Welt. Dies ist ein Markt, auf dem es sehr schwierig ist, die Produktion zu ersetzen, und der im Falle eines Krieges stark betroffen wäre. Dies ist ein wichtiges Element in den Berechnungen aller potenziellen Akteure, allen voran natürlich China.

Ein Konflikt dieser Art scheint in unmittelbarer Zukunft nicht sehr wahrscheinlich zu sein, und es ist nicht ausgeschlossen, dass es inmitten der Spannungen Momente der Entspannung geben kann. Es lässt sich jedoch sagen, dass viele der oben genannten Maßnahmen Teil der Vorbereitungen für einen möglichen künftigen Konflikt sind, was die Aussichten auf einen militärischen Konflikt sogar über die ursprünglichen Absichten der Parteien hinaus erhöht. Die konkrete Form, in der ein solcher militärischer Konflikt ausbrechen könnte, hängt von zahlreichen Elementen ab, die jede Hypothese zu einer reinen Spekulation machen. Der Konflikt könnte auf verschiedenen Wegen ausgelöst werden, von der bereits erwähnten Invasion der Matsu-Inseln bis hin zu einer Blockade der Insel durch China als Vergeltung für irgendeine Aktion, wie eine Unabhängigkeitserklärung oder einen Durchbruch in der militärischen Partnerschaft mit den USA. In diesem Rahmen ist es wichtig, die Kriterien zu definieren, nach denen wir als revolutionäre sozialistische Internationalist:innen uns angesichts eines hypothetischen bewaffneten Konflikts zwischen China und den USA um Taiwan positionieren.

Mit diesem Ziel vor Augen müssen wir von der Politik ausgehen, die jede Seite in diesem Krieg verfolgen würde. Im Falle der USA wäre dies die Fortsetzung ihrer imperialistischen Politik der weltweiten Integration (Globalisierung), die auf der Unterordnung des kapitalistischen Chinas und Russlands beruht, und insbesondere ihr Versuch, China am weiteren Aufstieg als Macht zu hindern, welche die abnehmende hegemoniale Rolle der USA in Frage stellt.

Im Falle Chinas handelt es sich um eine Kontinuität der Politik der KPCh, die den Kapitalismus in China wiederhergestellt hat. Dies geschah während der gesamten vorangegangenen Phase unter der Schirmherrschaft des internationalen Finanzkapitals, insbesondere des US-Kapitals. Aufgrund des besonderen Gewichts, das die chinesische Wirtschaft erlangte, war es jedoch notwendig – und wird es immer notwendiger –, dass der chinesische Kapitalismus eine imperialistische Ausstrahlung entwickelt. Weit entfernt von der Ideologie, die das Land als eine gutartige, „nicht-hegemoniale“ Macht darstellt, ist die gegenwärtige imperialistische Auseinandersetzung mit den übrigen Mächten der mehr oder weniger unvermeidliche Kurs des Aufstiegs des kapitalistischen China des 21. Jahrhunderts. Das heißt, eine eventuelle Invasion Taiwans wäre keineswegs eine Verteidigungsmaßnahme, wie sie zum Beispiel die eines Arbeiter:innenstaates sein könnte, der kurz davor steht, angegriffen zu werden. Eine solche Position erklärte Trotzki im Hinblick auf Finnland 1939, obwohl die damalige Aktion der stalinistischen Bürokratie aus seiner Sicht mehr Schaden als Nutzen brachte. Stattdessen wäre eine chinesische Invasion Taiwans eine Erweiterung der restaurativen Politik, bei der das heutige kapitalistische China seine Einkreisung zu durchbrechen versucht, um seine imperialistischen Züge zu verstärken, indem es seinen globalen wirtschaftlichen Einfluss in politisch-militärische Macht umsetzt.

Im Falle Taiwans ist die Politik seit dem Aufstieg Chinas zur kapitalistischen Macht und den zunehmenden Streitigkeiten mit den USA zunehmend von Spannungen zwischen den beiden Polen geprägt. Dies lässt sich bis 1986 zurückverfolgen, als die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) gegründet wurde, die einen Großteil der für die taiwanesische Unabhängigkeit eintretenden Strömungen zusammenführte. Im Jahr 2014 fand die Sonnenblumen-Bewegung statt, in deren Rahmen etwa 200 Studierende das Parlament gegen das Freihandelsabkommen mit China besetzten. Dieses Abkommen war von der Regierung Ma Ying-jeou von der Kuomintang vorangetrieben worden, die von einem großen Teil der taiwanesischen Bourgeoisie unterstützt wurde. Das Abkommen kam nicht zustande und schließlich übernahm 2016 Tsai Ing-wen von der DPP die Präsidentschaft und wurde 2020 wiedergewählt. Derzeit besteht die taiwanesische Politik, die von der Regierung der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) von Tsai Ing-wen verkörpert wird, in einer zunehmend offensiven Ausrichtung auf den US-Imperialismus. Eine Ausrichtung, die nicht ohne interne Spannungen auskommt. Kürzlich, während Tsai Ing-wen in die USA reiste, reiste Ma Ying-jeou nach China und legte damit diese internen Spannungen offen, die die Insel und seine eigene Bourgeoisie zwischen Geschäften mit China und der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Abhängigkeit von den USA durchziehen.

Kurz gesagt, im Falle einer militärischen Konfrontation zwischen China und den USA um Taiwan würde es sich, ausgehend von der Definition der imperialistischen Züge Chinas, um einen reaktionären Krieg handeln, in dem wir den Defätismus beider Seiten als grundlegende Definition voraussetzen. Die konkrete Entwicklung des Krieges wird zusätzliche Definitionen diktieren, die notwendig sein könnten. Diese Definition der Position der internationalistischen Sozialist:innen angesichts eines eventuellen Konflikts dieser Art ist heute fundamental.

Teil 3: Größere vorrevolutionäre Tendenzen im Klassenkampf

Krieg, Krise und Klassenkampf

Die allgemeinen Bedingungen treiben einen neuen Zyklus des Klassenkampfes an. Neben den Folgen des Krieges haben sich auch die Folgen der Pandemie bereits unmittelbar auf die objektiven Bedingungen der wichtigsten Prozesse ausgewirkt. Die Inflation der Treibstoff- und Düngemittelpreise war ein Schlüsselfaktor sowohl für die Aufstände in Sri Lanka als auch in Peru. In Europa haben historische Inflationsraten die zunehmenden Streiks im Vereinigten Königreich geprägt, sie sind auch ein Bestandteil des Kampfes gegen die Rentenreform in Frankreich, und in Griechenland war das Zugunglück von Ende Februar ein Katalysator für eine allgemeinere Krise nach Jahren der Kürzungspolitik. Sollten sich neue Kapitel der internationalen Wirtschaftskrise entwickeln, werden sie diese Tendenzen erweitern und verschärfen.

Die vorangegangenen Zyklen des Klassenkampfes – die 2010 bzw. 2019 begannen – waren zwar durch die historische Krise des Kapitalismus im Jahr 2008 gekennzeichnet, die einen enormen Sprung in der Ungleichheit mit sich brachte. Es handelte sich aber nicht um katastrophale Krisen von der Größenordnung derer, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattfanden. Mit dem Krieg in der Ukraine, den Ausläufern der Pandemie und noch mehr, wenn sich die Widersprüche in der Weltwirtschaft vertiefen, beginnt sich diese Situation zu ändern. So nähert sich der Kapitalismus wieder stärker „klassischeren“ Szenarien in Form von schärferen Auseinandersetzungen zwischen den Klassen an. Mit „klassisch“ meinen wir natürlich nicht eine Rückkehr zum Anfang des 20. Jahrhunderts: Die heutige Welt ist in vielerlei Hinsicht ganz anders (siehe „Jenseits der bürgerlichen Restauration“), und in Bezug auf die Subjektivität der Arbeiter:innenklasse besteht ein enormer Abstand zwischen der heutigen Situation nach Jahrzehnten der „bürgerlichen Restauration“ und derjenigen Situation zu Beginn des letzten Jahrhunderts, die durch den Aufstieg großer Arbeiter:innenorganisationen (Arbeiter:innenparteien, Gewerkschaften usw.) und dann durch die russische Revolution gekennzeichnet war. Insgesamt bedeutet dies, dass wir uns auf neue Formen des Klassenkampfes vorbereiten müssen, die radikaler sind als die der letzten Zeit, und im Gegenzug Formen der Intervention artikulieren müssen, die auf die konkrete Situation reagieren (z.B. um den Kampf für die Einheitsfront, Taktiken wie die „Aktionskomitees“, auf die wir weiter unten eingehen werden).

Die geopolitischen und wirtschaftlichen Bedingungen ermutigen die Regierungen auch dazu, sich den Herausforderungen des Klassenkampfes mit größerer Härte zu stellen. Peru ist ein Beispiel dafür, wo das Regime trotz der Anhäufung von Toten keinen Millimeter nachgab. Zwar hielt die herrschende Klasse nicht an ihrem ursprünglichen Plan fest, dass Boluarte die Amtszeit des gestürzten Castillo beenden sollte, jedoch behielt sie die Ablehnung sofortiger Neuwahlen, einer verfassungsgebenden Versammlung oder irgendeiner Art von „demokratischer“ Umleitung bei. Dies war möglich, weil sich der Massenaufstand weitgehend auf die bäuerlichen und prekären Sektoren in bestimmten Regionen wie Puno, Cusco usw. beschränkte. Der Protagonismus dieser Sektoren verlieh dem Prozess Radikalität, während die Arbeiter:innenklasse in den strategisch wichtigeren Sektoren unter der Führung der CGTP-Bürokratie eingehegt wurde. Die härtere Gangart der Bourgeoisie zeigt sich auch in der Reaktion von Premierminister Sunak im Vereinigten Königreich auf die Streikwelle, die das Land erlebt hat. Das herausragendste Beispiel in diesem Sinne ist Frankreich, wo Macron einen völlig bonapartistischen Mechanismus wie den Artikel 49.3 nutzte, um die Rentenreform trotz der Ablehnung durch die breite Mehrheit der Bevölkerung ohne Abstimmung in der Nationalversammlung durchzusetzen.

In diesem Rahmen bringt die aktuelle Welle des Klassenkampfes mehrere wichtige Neuerungen mit sich, die potenziell zur Überwindung des Stadiums der Revolten beitragen könnten, auf dem die letzten Wellen des Klassenkampfes stehen geblieben waren. 1) Diese neue Welle, die sich sowohl in peripheren als auch in zentralen Ländern entwickelt, hat ihren Schwerpunkt in Europa. 2) Teile der Massenbewegung radikalisieren sich angesichts der Härte der Angriffe der kapitalistischen Regierungen und herrschenden Klassen. 3) Sowohl der Kontext des Krieges in der Ukraine als auch die Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft führen zu einer Verschärfung der Konfrontationen. 4) Die Arbeiter:innenklasse rückt immer mehr in den Mittelpunkt. In Großbritannien streiken unter anderem Krankenpfleger:innen, Sanitäter:innen, Postangestellte, Eisenbahner:innen, Feuerwehrleute, Fahrer:innen öffentlicher Verkehrsmittel und Universitätsdozent:innen. In Frankreich hat sich der Kampf gegen die Rentenreform von Macron zu einer echten Massenbewegung breiter Schichten der Arbeiter:innenklasse im ganzen Land entwickelt. Auch in Griechenland hat sich der Klassenkampf, der von dem Zugunglück mit 57 Toten ausgelöst wurde und alle Folgen der jahrelangen Strukturanpassung an die Oberfläche brachte, zu einem Streik entwickelt, der neben den Demonstrationen auch die Bereiche Verkehr, Gesundheit, Häfen usw. erfasste (siehe „Ein Streik-Frühling in Europa und das Potenzial der Arbeiter:innenklasse“ von Josefina Martinez). In Lateinamerika war die radikalste Situation der Widerstand gegen den Staatsstreich in Peru, an dem ein sozialer Block von Bäuer:innen, Indigenen und Arbeiter:innen des informellen Sektors aus dem Landesinneren beteiligt war. Dieser Block brachte Tendenzen zur Annäherung an Sektoren der Arbeiter:innenklasse in den Städten hervor, welche sich jedoch nicht weiterentwickelten, sodass es dem Regime gelang, die Bewegung einzuhegen und zurückzudrängen. Teil dieser Welle des Klassenkampfes waren auch die Rebellion in Sri Lanka und davor der Kampf gegen den Putsch in Myanmar (Süd- und Südostasien entwickelt sich zu einer „heißen“ Zone des Klassenkampfes).

Frankreich als Zentrum des Klassenkampfes heute

Das Zentrum des Klassenkampfes liegt in diesem Moment in Frankreich und, allgemeiner, in Europa. Macron hat sich zum Ziel gesetzt, die Ausstrahlung des französischen Imperialismus als Macht auf der internationalen Bühne zu stärken und eine Reihe von Strukturreformen im Land durchzusetzen. Doch während er auf der internationalen Bühne im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine keine bedeutende Rolle gespielt hat und in Afrika an Einfluss verloren hat, wurde seine Autorität im Inneren durch die massive Bewegung gegen die Rentenreform grundlegend in Frage gestellt. In der Nationalversammlung ist er isoliert und angeschlagen und wird sowohl von links als auch von rechts von der NUPES und Le Pen herausgefordert. Wie Juan Chingo erklärt hat, findet die aktuelle Krise „in einem internationalen Kontext verschärfter Konkurrenz statt, die den französischen Kapitalismus in Schwierigkeiten bringt. In diesem Sinne glaube ich, dass der Krieg in der Ukraine auch eine Rolle bei der Verhärtung der französischen Bourgeoisie spielt. Im Gegensatz zu einer früheren Periode, in der es die Illusion einer friedlichen Entwicklung zwischen den imperialistischen Mächten gab, zeigt die Erhöhung des Verteidigungshaushalts, dass dies nicht mehr der Fall ist.“

Ein Großteil der Härte, die die Arbeiter:innenklasse in Frankreich an den Tag legt, hat mit dem ausgeprägt bonapartistischen Charakter der Fünften Republik selbst zu tun – in einem Land, das die Wiege des Bonapartismus ist. Macron stützt sich zunehmend auf diese Mechanismen der Fünften Republik, die 1958 von de Gaulle eingeführt wurden. Damals stand Frankreich am Rande eines Bürger:innenkriegs, verlor seine koloniale Kontrolle in Algerien und hatte gerade den Suezkanal verloren. General de Gaulle übernahm die volle Regierungsgewalt und erarbeitete den Verfassungsentwurf, der mit einigen Änderungen bis heute gilt. In der Verfassung selbst heißt es, dass der Präsident der Republik die Person ist, die „über die Achtung der Verfassung wacht. Er gewährleistet durch seine Entscheidung das ordnungsgemäße Funktionieren der öffentlichen Institutionen und die Kontinuität des Staates“ und ist außerdem Oberbefehlshaber der Streitkräfte, der für die Verteidigungs- und Außenpolitik zuständig ist. Zu seiner Amtsgewalt gehören auch außerordentliche Befugnisse für den Fall, dass die Institutionen, die Unabhängigkeit, die territoriale Integrität (Kolonien) und sogar die Einhaltung internationaler Verpflichtungen gefährdet sind. Artikel 49.3, der dem Premierminister die Befugnis verleiht, ein Gesetz als verabschiedet zu betrachten, wenn nicht innerhalb von 24 Stunden ein Misstrauensvotum im Parlament Erfolg hat, ist ein weiterer Teil dieses Gerüsts.

Die Tatsache, dass über mehrere branchenübergreifende Streik- und Aktionstage und fast zwei Monaten der Mobilisierung hinweg sowohl in den großen Städten als auch in den mittleren und kleinen Städten Massen auf die Straßen gingen, zeigt die Tiefgründigkeit der Bewegung. Die Tatsache, dass sich keine neue Dimension des Kampfes eröffnete – d.h. ein Streik, der sich in der Perspektive eines Massenstreiks verallgemeinert –, liegt in der Hauptverantwortung der Gewerkschaftsführungen der Intersyndicale. Sie haben sich geweigert, eine ganze Reihe von Forderungen aufzunehmen, die das Hier und Jetzt von Millionen von Ausgebeuteten – vor allem der prekärsten – verändern und gleichzeitig eine Entschlossenheit zeigen würden, die hundertmal größer ist als die der Kapitalist:innenklasse. In einem zweiten Moment des Konflikts riefen mehrere strategische Sektoren der Avantgarde zum verlängerbaren Streik auf. Macrons bonapartistische Maßnahme der Anwendung des Artikels 49.3 stellte das Patt in Frage. Angesichts der zunehmenden Schwächung und Isolierung Macrons gingen als Reaktion auf das Dekret sofort Tausende spontan in Paris und in verschiedenen Städten auf die Straße. Ein „vorrevolutionärer Moment“ tat sich auf. Nach dem Scheitern der Misstrauensanträge gegen die Regierung zeigte der Streik vom 23. März einmal mehr die Dynamik der Bewegung. Insbesondere gab es eine qualitative Verstärkung der Präsenz der Jugend, die mit immer weiter verlängerten Streiks in verschiedenen strategischen Sektoren verbunden war. Die Vervielfachung spontaner Aktionen zeugte von wichtigen subjektiven Veränderungen, die stattfanden.

Wie Paul Morao in diesem Artikel ausführt, blieben die Demonstrationen zwar weiterhin massiv, aber im Rahmen der Zermürbungspolitik der Bürokratie begannen die Streiks in verschiedenen Sektoren zu schwinden. Die Intersyndicale bliebt deshalb weiter vereint, weil die Gewerkschaftsführungen gemeinsam zu verhindern versuchten, dass der „vorrevolutionäre Moment“ nach dem 49.3-Dekret zu einer Veränderung des Kräfteverhältnisses führt, da der Kampf gegen Macron einen offen politischen Charakter angenommen hatte. Die gewerkschaftliche Einheit hatte zu Beginn der Bewegung eine fortschrittliche Rolle spielen können, indem sie die Arbeiter:innen ermutigte, die den Spaltungen zwischen den Gewerkschaften überdrüssig sind, in den Kampf einzutreten. Nun wurde sie zu einem Hindernis, zu einer Barriere für die Radikalisierung, da das entscheidende Gewicht in ihrer Führung bei der CFDT lag, die jede Tendenz zu einem verlängerbaren Generalstreik ablehnte. Macron ist es jedoch nicht gelungen, zur Normalität zurückzukehren, trotz der Sackgasse und des Rückgangs der Mobilisierung infolge der Strategie der Niederlage von Seiten der Intersyndicale. Dies zeigen die weiterhin stattfindenden Demonstrationen, Lärmkundgebungen und die verschiedenen Lohnkämpfe, die sich entwickeln.

In diesem Prozess hat die Révolution Permanente eine sehr wichtige Rolle bei der Organisation der fortgeschrittensten Sektoren gespielt. Sowohl die NPA als auch LO sind dem Kampf um die Selbstorganisation der Avantgarde der Arbeiter:innen ferngeblieben. Dabei war dieser Kampf zentral, um den Verlauf des Streiks entgegen der Strategie der Gewerkschaftsbürokratie, die Bewegung zu zermürben, zu beeinflussen und einen echten Generalstreik durchzusetzen, der Macron auf revolutionäre Weise zu Fall bringen könnte. Révolution Permanente hat sich an die Spitze dieses Ziels gestellt, indem unsere Genoss:innen zu Taktiken der Umgruppierung der kämpfenden Sektoren aufriefen und das „Réseau pour la grève générale“ (Netzwerk für den Generalstreik) vorantrieben. Dessen Versammlung am 13. März in der Bourse du Travail in Paris, mit mehr als 600 Anwesenden im Saal und etwa 900 online Zugeschalteten, war ein großer politischer Erfolg. Das Netzwerk erscheint als echter Pol einer Avantgarde und von Sektoren, die im verlängerbaren Streik waren oder für Löhne kämpfen – daher die große Ausstrahlung, die es hatte. Am 21. März, nach der Verabschiedung der Reform per Dekret und der Ablehnung der Misstrauensanträge, trat das Netzwerk erneut zusammen. Dort konnte es unter Beteiligung von Studierenden, Journalist:innen und wichtigen Intellektuellen das Phänomen der Streiks, insbesondere in den strategischen Sektoren, Ausdruck zu verleihen. Vor dem Hintergrund der Unnachgiebigkeit der Bosse und der Regierung, die sich mit immer weniger „einvernehmlichen“ und immer offener bonapartistischen Methoden durchsetzen, scheinen Teile der Arbeiter:innenbewegung in ihrem Bewusstsein durch die Erfahrung im Klassenkampf zu reifen.

Tatsächlich ist das Netzwerk viel breiter als Révolution Permanente selbst und hat einen anderen Charakter als die „SNCF-RATP-Koordination“ (Eisenbahner:innen und Busfahrer:innen in einer Region von Paris), für die wir uns im Kampf 2019 eingesetzt haben und die sich aus vielen Aktivist:innen zusammensetzt, vor allem aus lokalen Gewerkschaftsführer:innen der Busdepots. Im Netzwerk für den Generalstreik gibt es heute Gewerkschaftsführer:innen des Elektrizitätssektors, Gewerkschaftsdelegierte aus den Atomkraftwerken, wichtige Aktivist:innen aus dem Müll- und Abwasserreinigungssektor in der Region Paris, Anführer:innen vom Flughafen Roissy/Charles de Gaulle, von einigen wichtigen Fabriken im privaten Sektor und auch von der Total-Raffinerie in Le Havre (Normandie), der größten in Frankreich, die nach dem ersten juristischen Sieg gegen die Zwangsverpflichtung am 7. April im Streik blieb. In dieser Hafen- und Industriestadt im Nordwesten Frankreichs vereint das Netzwerk mehrere Anführer:innen, die sich in strategischen Strukturen und in einem strategischen Industriegebiet befinden, wo sie Streiks und Blockaden durchgeführt haben. In Paris vereint das Netzwerk etwa 300 unabhängige Aktivist:innen aus vier Zonen der Stadt und stand insbesondere bei den Eisenbahnen an der Spitze einer Reihe von Streiks, die den Kampf gegen die Rentenreform mit ihren eigenen Forderungen, insbesondere Lohnforderungen, verbanden. Dort konnten sie sowohl bei den Stellwerksarbeiter:innen von Bourget und dem Hauptbahnhof von Saint-Denis als auch bei den „wilden Streikenden“ des Zugwartungszentrums von Chatillon siegen. Es gab auch Berichte von organisierten Personen aus Städten im Landesinneren, die sich als Teil des „Netzwerks“ betrachten, und es werden weiterhin Verbindungen zu lokalen Kampfkollektiven hergestellt, wie kürzlich zu einer Gruppe von Gewerkschafter:innen in Toulon. Gleichzeitig werden Verbindungen zu Umweltkollektiven wie Alternatiba und Les Amis de la Terre unterhalten, die stark in die brutal unterdrückte Mobilisierung in Saint-Soline involviert waren, sowie zu Anführer:innen des Kampfes der papierlosen Arbeiter:innen, wie Mariama Sidibe vom Collectif des sans-papiers de Paris, die aktives Mitglied des Netzwerks ist.

Das Netzwerk, das immer bekannter wird, an Sympathie gewinnt und der einzige Pol ist, der die Intersyndicale im nationalen Radio und Fernsehen offen kritisiert, organisierte einen Block mit mehr als tausend Menschen bei der Demonstration zum 1. Mai in Paris und vor Kurzem eine Aktion, die die Rückkehr der Gewerkschaftsführungen zum Dialog mit der Regierung anprangerte. Im aktuellen Moment bleibt das Netzwerk trotz des Rückgangs des Kampfes gegen die Reform bestehen und spielt weiterhin eine Rolle. Dies gilt insbesondere für die Unterstützung der Streikwelle für die Löhne, die immer noch im Gange ist und die die Gewerkschaftsbürokratie nichht mit dem Kampf für die Renten vereinen wollte. Gleichzeitig hat das Netzwerk eine Bilanz des bisherigen Kampfes gezogen und die Rolle der Intersyndicale angeprangert, die die radikalsten Elemente der Bewegung an der Weiterentwicklung hinderte. Im Rahmen einer weiterhin offenen Situation wird es notwendig sein, die Koordination und die Selbstorganisation weiter zu stärken. Deshalb werden die Aktivist:innen von Révolution Permanente weiterhin auf den Aufbau des Netzwerks setzen und gleichzeitig eine Debatte über die Notwendigkeit einer politischen Organisation – einer antikapitalistischen, sozialistischen und revolutionären Partei – eröffnen, die ein Werkzeug sein muss, um diese Kämpfe zu führen und angesichts aktuellen Krise für eine Alternative zu kämpfen.

Dieser Pol, den das „Netzwerk“ bildet, ist Teil unseres Kampfes für die Einrichtung von „Aktionskomitees“. Dies beinhaltet den Kampf für die Beteiligung der Basis an diesen Aktionskomitees an den Orten, wo sie entstehen, oder zumindest für die Beteiligung des linken und gewerkschaftlichen Aktivismus. Dies ist ein wichtiger Kampf, wenn man bedenkt, dass es weder in Frankreich noch im Allgemeinen bereits Erfahrungen mit der Selbstorganisation in der Arbeiter:innenbewegung gibt. Das stellt die Rolle der Revolutionär:innen in den Vordergrund, die diese Tendenzen vorantreiben müssen, um Organe wie Aktionskomitees zu schaffen. Dies ist entscheidend, sowohl für unsere Entwicklung in Frankreich im Kampf mit der Bürokratie, dem Zentrismus und den Neo-Reformist:innen, als auch für unsere allgemeinere strategische Hypothese als FT-CI und für die Möglichkeiten, den Aufbau einer revolutionären Partei in Frankreich voranzutreiben.

Dies ist wiederum ein charakteristisches Merkmal der FT-CI, das wir stets in die Praxis umzusetzen versucht haben, wann immer der Klassenkampf es uns erlaubte. So tat es die PTR im chilenischen Prozess 2019 an den verschiedenen Orten, an denen sie intervenierte, wie im Fall des Notfall- und Schutzkomitees in Antofagasta, dem es gelang, einen großen Teil der Avantgarde der Region zu organisieren und eine wichtige Einheitsfront während des Streiks vom 25. November des Jahres zu erreichen.

Es sei darauf hingewiesen, dass die Taktik der „Aktionskomitees“ den französischen Trotzkist:innen von Trotzki empfohlen wurde. Mit ihr sollten sie jedes Element der Radikalisierung nutzen, das in der Realität auftritt, um die Avantgarde und die Massensektoren, die in den Kampf ziehen, in ständigen Koordinierungs- und Vereinigungsinstitutionen zu organisieren. Dies sei das einzige Mittel, um den Widerstand der bürokratischen Apparate der Gewerkschaften und reformistischen Organisationen zu brechen und die Einheitsfront durchzusetzen. Gleichzeitig vertrat er die Ansicht, dass solche Institutionen die Autorität und den Einfluss der Revolutionär:innen und der fortschrittlichsten und entschlossensten Sektornen verzehnfachen können. Die Aktionskomitees sind jedoch kein Äquivalent zu den Sowjets. „Es handelt sich nicht um die formell-demokratische Vertretung aller und jeder Massen, sondern um die revolutionäre Vertretung der kämpfenden Massen“, sagte Trotzki. Aber gleichzeitig fügte er hinzu: „Unter gewissen Umständen können die Aktionskomitees Sowjets werden“, und stellte klar: „Die russischen Sowjets waren zu Beginn durchaus nicht das, was sie später wurden, und trugen damals sogar oft den bescheidenen Namen Arbeiter- oder Streikkomitees.“.

Auch wenn wir diesen Punkt an anderer Stelle ausgeführt haben, ist es wichtig, ihn im Gedächtnis zu behalten, weil die Entwicklung von Institutionen wie Aktionskomitees heute der Weg ist, auf dem die Arbeiter:innen dabei vorankommen können, die Kämpfe in ihre eigenen Hände nehmen. Im Falle Frankreichs gilt es, die von der Intersyndicale vertretene Linie immer weiterer vereinzelter Aktionstage ohne Perspektive zu überwinden und für die Durchsetzung eines echten Generalstreiks zu kämpfen. Wenn sich die Situation in einem revolutionären Sinne entwickelt, beinhaltet der Aufbau von Aktionskomitees eine Perspektive der Entstehung von Organisationen „sowjetischen“ Typs; es gibt keine Mauer zwischen den beiden Formen. Der Kampf für die Entwicklung von Institutionen des Typs „Aktionskomitee“ zur Koordinierung und Umgruppierung der kämpfenden Sektoren ist der Schlüssel zur Stärkung des politischen Einflusses der Revolutionär:innen im Prozess und für den Kampf umd das Programm. Gleichzeitig kann dies uns ermöglichen, wichtige Teile der Avantgarde für das revolutionäre Programm zu gewinnen, eine neue Tradition im Klassenkampf zu etablieren und die Perspektive des Aufbaus einer revolutionären Partei in Frankreich zu stärken – im Kampf gegen die Versuche der politischen Kapitalisierung sowohl des Neoreformismus von Mélenchon/NUPES als auch von Seiten von Le Pen.

Einige Schlussfolgerungen für die FT-CI

Trotzki betonte in Bezug auf das Denken Lenins, dass sein Internationalismus „durchaus keine Formel einer Ineinklangbringung des Nationalen und Internationalen in Worten [ist], sondern die Formel eines internationalen revolutionären Handelns“. Und er fügte hinzu, dass die Welt in dieser Auffassung „als ein einziges zusammenhängendes Kampffeld betrachtet [wird], auf dem die einzelnen Völker und deren Klassen einen gigantischen Kampf miteinander führen.“ Von diesem internationalistischen Standpunkt aus verstehen wir in der FT-CI die verschiedenen Interventionen, die wir in jedem Land in sehr unterschiedlichen Situationen entwickelt haben.

In den jüngsten Klassenkampfprozessen haben wir als FT auch in den Aufstand in Peru eingegriffen, wo wir – ausgehend von der Tatsache, dass wir dort nur initiale Kräfte haben – dafür gekämpft haben, Traditionen zu etablieren und die Strömung Sozialistischer Arbeiter:innnen (CST) zu erweitern, die Gründung der Gruppe in Lima voranzutreiben und die Zeitung La Izquierda Diario Peru zu stärken. Um an diesem Ziel mit den Genoss:innen der CST zusammenzuarbeiten, sind Genoss:innen aus verschiedenen Gruppen der FT angereist (aus Bolivien, Chile, Brasilien, Argentinien, darunter A. Vilca und A. Barry, nationale Abgeordnete bzw. Provinzabgeordnete). Seit Ende letzten Jahres befindet sich das Zentrum des Klassenkampfes in Lateinamerika in Peru. Gegenwärtig stehen wir vor einem – im Prinzip teilweisen – Rückzug des Kampfes.

In Argentinien, wo die PTS als mitgliederstärkste Organisation der FT agiert, gibt es trotz der tiefen Krise im Land und der Aussicht auf größere Konfrontationen noch keine großen Klassenkampfprozesse wie die, die wir erwähnt haben. Unter diesen Bedingungen führen wir einen grundlegenden Vorbereitungskampf, um den politischen Einfluss der revolutionären Linken auf breite Teile der Massen zu erhöhen. Dieser beinhaltet nicht nur die große politische Agitation „von oben“, bei der Dutzende von Anführer:innen der PTS, die Protagonist:innen zahlreicher Kämpfe und Erfahrungen waren,  auf nationaler und Provinzebene als „Volkstribune“ auftreten und versuchen, die fortgeschrittensten Sektoren mit Aspekten unseres Programms und unserer Strategie mit einer hegemonialen Politik zu beeinflussen. Sondern er beinhaltet auch Fortschritte im Parteiaufbau, der sich an den strategischen Strukturen der Arbeiter:innenklasse und der Studierendenbewegung orientiert, mit den Versammlungen der PTS und den Gruppierungen, um als Ganzes unsere Fähigkeit zu verstärken, Kräfte im Klassenkampf zu artikulieren. Als Teil der Front der Linken – Einheit (Frente de Izquierda – Unidad, FITU) haben wir gerade eine wichtige politische Schlacht in Jujuy geschlagen, wo Alejandro Vilca (PTS) 12,8 Prozent der Stimmen bei den Gouverneurswahlen erhalten hat, womit wir trotz der betrügerischen Manöver des Regimes die drittstärkste Kraft wurden. Gleichzeitig haben wir einen wichtigen politischen Kampf über das Programm, die Strategie und die politische Praxis innerhalb der FITU geführt.

Das Zentrum des Klassenkampfes liegt heute, wie gesagt, in Frankreich. Die gesamte FT-CI muss ihn aufmerksam verfolgen, um aus dieser Erfahrung zu lernen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Unabhängig davon, dass sich die vorrevolutionäre Konjunktur, die sich nach der Verabschiedung der Rentenreform durch den bonapartistischen Mechanismus des Artikels 49.3 andeutete, nicht weiterentwickelt hat, hat die Situation in Frankreich in der letzten Zeit eine ganze Reihe vorrevolutionärer Elemente angehäuft. Von der Bewegung gegen das Arbeitsgesetz im Jahr 2016 – um einen Anfangspunkt zu setzen – über die Rebellion der Gelbwesten im Jahr 2018 und alle Kämpfe, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben, bis hin zur aktuellen Bewegung gegen die Rentenreform. Vorrevolutionäre Elemente, Erfahrungen und Veränderungen im Bewusstsein der Avantgarde- und Massensektoren sind zusammengeronnen und markieren das, was wir als eine breite Etappe des Klassenkampfes in Frankreich definieren könnten, die über den aktuellen Konflikt hinausgeht.

Diese Definition ist von grundlegender Bedeutung, da sie die Möglichkeit aufwirft, im Aufbau einer echten revolutionären Partei in Frankreich in dieser Phase voranzukommen. Diese Situation ist auch der Grund für die Entwicklung von Révolution Permanente, die versucht, Teil des Prozesses der Gründung einer revolutionären Partei in Frankreich zu sein. RP ist die derzeit die dynamischste Organisation der FT mit Hunderten von Aktivist:innen, die aus dem Kampf innerhalb der NPA kommen. Sie verfügt über Kader und Anführer:innen in der Arbeiter:innen- und Studierendenbewegung, über Persönlichkeiten wie Anasse und neue herausragende Persönlichkeiten wie Adrien, Elsa und Ariane, über Beziehungen zu wichtigen Intellektuellen wie Frédéric Lordon, kulturellen Persönlichkeiten wie Adèle Haenel, Persönlichkeiten der antirassistischen Bewegung wie Assa Traoré, usw. Auf dieser Grundlage wollen wir uns die radikalsten Elemente der Situation zunutze machen und mutig die Möglichkeit nutzen, beim Aufbau einer revolutionären, sozialistischen und internationalistischen Organisation voranzukommen.

Die Situation in Frankreich wirft ebenfalls eine ganze Reihe strategischer Fragen für die Intervention auf, wie die Bedeutung des Aufbaus von Zusammenschlüssen von Sektoren im Kampf mit Taktiken wie den Aktionskomitees, die den Kampf für die Einheitsfront untermauern und als Bindeglied zwischen der Praxis – und dem Aufbau – einer revolutionären Organisation und der Perspektive von Räten oder Sowjets fungieren. Auch programmatische Fragen, wie die Notwendigkeit eines gemeinsamen Forderungskatalogs, um den Kampf gegen die Rentenreform mit dem Kampf für eine gleitende Lohnskala angesichts der Inflation zu vereinen und, nach Macrons Dekret, den offensiven Einsatz unseres radikaldemokratischen Programms, in dem Land, für das Trotzki selbst es ursprünglich formuliert hat. All dies in einem Prozess, in dem die Arbeiter:innenklasse mit ihren Methoden (Streik, Streikposten usw.) die Hauptrolle spielt, wo einerseits eine Avantgarde existiert, die aus früheren Kampferfahrungen kommt, und andererseits eine bedeutende Bürokratie, die sich zusammengeschlossen hat, um die Bewegung zu zermürben, ebenso wie auf politischer Ebene neoreformistische Varianten (NUPES) und Rechtspopulist:innen, die aus dem Prozess Kapital schlagen wollen.

Unser internationales Zeitungsnetz (derzeit 15 Zeitungen in 7 Sprachen) muss eine wichtige Rolle spielen, nicht nur bei der Verbreitung der Nachrichten aus Frankreich und der Révolution Permanente, sondern auch bei der Erläuterung des Prozesses, der Widersprüche, der Gründe für das Scheitern der Strategie der Bürokratie usw. und des Inhalts unserer Politik in Frankreich. All dies muss so erklärt werden, dass die Öffentlichkeit in den verschiedenen Ländern es verstehen kann. Wir müssen die Gelegenheit nutzen, um Intellektuelle in jedem Land nach ihrer Meinung zum französischen Prozess zu fragen. Wir müssen ebenso den Prozess und unsere Intervention auch offensiv nutzen, um mit dem Umfeld unserer Gruppen zu diskutieren. Das ist sehr wichtig, denn wenn wir es gut machen, kann es uns helfen, neue Genoss:innen vom revolutionären Aktivismus zu überzeugen. Die Rundreise des Genossen Clément Allochon von Révolution Permanente in Argentinien, in deren Rahmen er bei der 1. Mai-Kundgebung auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires sprach, war in diesem Sinne sehr wichtig für die PTS; in früheren Phasen des Konflikts haben auch Veranstaltungen mit Genoss:innen von Révolution Permanente in Deutschland oder im Spanischen Staat stattgefunden. Wir beabsichtigen, diese Art von internationalistischen Aktivitäten in den Hauptorganisationen der FT-CI zu entwickeln. All diese Diskussionen gehören zu unserem Aufbau von Gruppen mit hoher Qualität . So wie Trotzki 1931 alle Sektionen der Internationalen Linken Opposition dazu aufrief, den Kampf in Spanien prioritär zu verfolgen, sollten sich heute alle unsere Organisationen um den französischen Prozess drehen.

Wie sich in Frankreich gezeigt hat, können, wenn sich tiefgreifende Prozesse entwickeln, die Tendenzen zum Generalstreik auf die Tagesordnung setzen, Gruppen von einigen Hundert wie die unsere mit einer korrekten Politik eine Rolle bei der Neuorganisierung der Avantgarde spielen und Sprünge im politischen Einfluss und Aufbau machen. Der Prozess in Frankreich kann vom subjektiven Standpunkt aus internationale Folgen haben, wenn sich die vorrevolutionären Elemente der Etappe entwickeln. Wir müssen nach allen Möglichkeiten suchen, um sie als FT und in jedem Land zu nutzen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 21. Mai 2023 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.

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