Jenseits der „bürgerlichen Restauration“ (Teil 1)

29.04.2023, Lesezeit 65 Min.
Übersetzung:
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Quelle: Ideas de Izquierda

Fünfzehn Thesen zur neuen Etappe der internationalen Situation. Dreiteilige Reihe von Matías Maiello und Emilio Albamonte in Auseinandersetzung mit dem italienischen Soziologen Maurizio Lazzarato. Teil 1: "Globalisierung" und Krieg. Die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln.

Wir veröffentlichen hier einen dreiteiligen Beitrag von Matías Maiello und Emilio Albamonte zur neuen Etappe der internationalen Situation in Auseinandersetzung mit Maurizio Lazzarato und der Diskussion über die Natur des Kriegs in der Ukraine. Der Text wurde zuerst am 5. Februar 2023 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda veröffentlicht und versteht sich als Beitrag für die Debatten auf der nächsten Konferenz der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale, die in den kommenden Monaten stattfinden wird. An dieser Stelle machen wir zunächst den ersten Teil des Beitrags auf Deutsch zugänglich. Teile 2 und 3 folgen in den kommenden Wochen.

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Im Folgenden werden wir einige Definitionen und Debatten über die neue Etappe entwickeln, die sich in der internationalen Situation und in der Funktionsweise des heutigen Kapitalismus aufgetan hat und die wir für das Nachdenken über die Perspektiven der Revolution für relevant halten. Dazu werden wir einen Kontrapunkt zu den Thesen des italienischen Soziologen und Philosophen Maurizio Lazzarato setzen. Ein Autor, der sich vor allem in den letzten Jahren mit dem Krieg, dem Faschismus und der revolutionären Strategie auseinandergesetzt hat. Darüber schrieb er Bücher wie Capital Hates Everyone (2019), Guerras y Capital (2021) mit Éric Alliez, Te acuerdas de la revolución? (2022) und Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa (2022).

Daniel Bensaïd hat darauf hingewiesen, dass nach der Niederlage des Aufschwungs des Klassenkampfes von 1968 eine Bewegung des Rückzugs und des Aufgebens des strategischen Denkens eingesetzt hatte. Foucault und Deleuze bildeten darin den „Nullpunkt der Strategie“1. Tatsache ist aber auch, dass beide Autoren auf ihre Weise einen Teil ihres Werkes dem Nachdenken über die Probleme des Krieges gewidmet und sich zu diesem Zweck mit der Theorie von Carl von Clausewitz auseinandergesetzt haben. Lazzarato setzt sich kritisch mit diesen Autoren auseinander und weist z.B. im Fall von Foucault darauf hin, dass „seine Position einzigartig und originell ist, aber die revolutionäre strategische Tradition des 20. Jahrhunderts entwertet und verachtet (Lenin, Trotzki, Luxemburg, Mao, Giap), welche als einzige in der Lage ist, sich auf das Niveau von Clausewitz zu begeben, indem sie auf radikale Weise Konzepte fortsetzt und erneuert, die vom preußischen General nur unter dem Gesichtspunkt des Staates analysiert werden“2.

Lazzarato hat das unter linken Wissenschaftler:innen seltene Verdienst, diese Debatten in den Mittelpunkt zu rücken. Seine Schlussfolgerungen hängen jedoch mit einem gewissen common sense zusammen, der dazu neigt, die Situation in Begriffen des Faschismus und des Krieges darzustellen – und zwar nicht nur als mögliche Perspektive, sondern als eine in der Gegenwart wirkende Realität. Das führt dazu, die Rhythmen zu verwechseln, die charakteristischen Merkmale der aktuellen Situation zu verwässern und vor allem den Horizont dessen, was „kommt“, und die für Revolutionär:innen zentrale Frage der notwendigen Vorbereitung auf diese Ereignisse zu verdunkeln. In diesem Rahmen sind eine Reihe von strategischen Debatten an der Tagesordnung, die wir in jeder unserer Thesen skizzieren werden. Ein roter Faden, der sich aus konzeptioneller Sicht durch diese Seiten zieht, ist die Notwendigkeit, uns Clausewitz‘ Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – welche seit den 1970er Jahren von vielen Seiten in Frage gestellt wurde – (kritisch) wiederanzueignen, um einige der Phänomene anzugehen, die den Kern der internationalen Situation bilden.

Teil 1: „Globalisierung“ und Krieg. Die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln.

These I. Der Krieg in der Ukraine unterscheidet sich von allen Kriegen der letzten drei Jahrzehnte und markiert den Beginn der offenen (auch militärischen) Infragestellung der seit der „bürgerlichen Restauration“ etablierten Weltordnung.

In einem Artikel aus dem Jahr 2011, „An den Grenzen der ‚bürgerlichen Restauration'“3, analysierten wir die neoliberale Offensive (welche den Fall der Berliner Mauer und die kapitalistische Restauration in den Ländern, in denen die Bourgeoisie enteignet worden war, beinhaltete) als eine dritte Phase der imperialistischen Epoche. Diese Etappe war durch die Abwesenheit von Revolutionen gekennzeichnet – nachdem der Aufschwung des Klassenkampfes in den 1970er Jahren vorbei war4 –, und war in diesem Sinne vergleichbar mit den Jahrzehnten ohne Revolutionen, welche auf die Niederlage der Pariser Kommune im 19. Jahrhundert folgten.

Was die Kriege betrifft, so war die Zeit der „bürgerlichen Restauration“ von einer ersten Welle von Konflikten durchzogen, zu denen unter anderem der Bosnienkrieg (1994-95), der Kosovokrieg (1998-99) und der Golfkrieg (1991) gehörten, welche sich durch die unbestrittene Hegemonie der USA und der NATO auszeichneten. Das ging so weit, dass viele das Vorgehen des Imperialismus als eine Art „Weltpolizei“ betrachteten. Mit dem 11. September 2001, dem schlimmsten Attentat auf US-amerikanischem Territorium, änderte sich das Szenario der als „humanitär“ dargestellten Kriege, und George W. Bush begann den so genannten „Krieg gegen den Terror“, um die imperialistische Führungsrolle der USA wiederherzustellen. Ein Krieg gegen diffuse Feinde – der auch interne Maßnahmen (Patriot Act) umfasste – und der in erster Linie zum Afghanistankrieg (2001) führte, in welchem es den USA gelang, eine breite internationale Koalition hinter sich zu scharen. Eine große Veränderung trat mit dem Irakkrieg ab 2003 ein, als die USA im UN-Sicherheitsrat auf den Widerstand Deutschlands, Frankreichs und Russlands gegen die Invasion stießen, was eine große Kluft aufzeigte. All diese Kriege dienten zunächst der Konsolidierung und nach dem 11. September 2001 der Neuzusammensetzung der von den USA geführten Weltordnung, obwohl mit dem Irakkrieg im Jahr 2003 ein Prozess der Abwertung dieses Schemas begann.

Als eine Grenze der Situation könnten wir die imperialistischen Interventionen nach dem Arabischen Frühling in Libyen (2011) und Syrien (2014) ansiedeln, wo bedeutende Veränderungen zu beobachten sind. Die USA intervenierten in Libyen widerwillig – da sie in Irak und Afghanistan steckengeblieben waren  – nach dem seltsamen Prinzip „von hinten führen“. Insbesondere in Syrien war bereits klar sichtbar, wie infolge des Niedergangs der US-Hegemonie verschiedene regionale Akteure „stellvertretend“ in den Krieg eingriffen – und zwar mit ihren eigenen Interessen und, im Falle Russlands, direkt zur Unterstützung von Assad. Die Eroberung der Krim durch Russland im Jahr 2014, die aufgrund des mangelnden Widerstands gegenüber Putins Armee nicht zu einem Krieg im eigentlichen Sinne wurde (es wechselten sogar einige der dort stationierten russisch ausgebildeten ukrainischen Kommandeure die Seiten), nahm bereits einen Wandel vorweg, der sich mit dem 2022 begonnenen Krieg in der Ukraine realisierte. Letzterer stellt einen grundlegenden historischen Wandel dar: Er markiert – unabhängig davon, dass die Rhythmen nicht notwendigerweise linear sind – den Beginn der offenen (militärischen) Infragestellung der Weltordnung der letzten 30 Jahre, in diesem Fall durch Russland, aber mit China als der großen „revisionistischen“ Macht von heute im Rücken.

In einem kürzlich erschienenen Buch Guerra o Revolucion. Por qué la paz no es una alternativa betont Lazzarato:Für die Revolutionär:innen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Kapitalismus ohne Krieg zwischen den Staaten, ohne Bürgerkriege gegen das Proletariat und ohne Eroberungskriege nicht denkbar. Im Gegensatz zu unserer Bestürzung und Verwirrung erlaubte es ihnen dieser große politische Realismus, weder überrascht noch unvorbereitet auf den Ausbruch des Großen Krieges zu sein“5. Auch wenn diese Überlegungen damals nur auf einen kleinen Kern von Revolutionär:innen angewandt werden konnten, ist der Kontrast, den Lazzarato zur jetzigen Phase benennt, offensichtlich. In diesem Sinne wird es immer wichtiger, die Beziehung zwischen Krieg und Politik gründlich zu überdenken, wie wir es mit unserem Buch Sozialistische Strategie und Militärkunst versucht haben. Lazzarato versucht dies auch, indem er die Lektüre von Michel Foucault, Giles Deleuze und Félix Guattari zu Clausewitz kritisch aufarbeitet. Daraus ergibt sich der folgende Kontrapunkt: Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Krieg und Politik nach Jahrzehnten des Neoliberalismus und der „bürgerlichen Restauration“ neu denken?

These II. Der jahrzehntelange relativ friedliche Vormarsch der neoliberalen Offensive beruhte auf der Ausweitung der kapitalistischen Demokratie und dem „neoliberalen Sozialpakt“ (elitär, aber unter Einbeziehung von Massensektoren durch Konsum, Kredite usw.). Heute befinden sich beide Säulen der bürgerlichen Hegemonie in einer strukturellen Krise.

Foucaults Erklärung des Neoliberalismus in seinen 1979 am Collège de France gehaltenen Vorlesungen, die unter dem Titel Die Geburt der Biopolitik veröffentlicht wurden, hat bis heute einen großen Einfluss auf Intellektuelle. Wir werden uns kurz damit befassen, da sie mehrere Debatten berührt, die wir behandeln werden. Für den französischen Philosophen war die Geburt der Biopolitik Teil der Regierungsmatrix des Liberalismus. Ab dem 19. Jahrhundert vollzog sich ein entscheidender Wandel der modernen Gouvernementalität mit der Einführung der politischen Ökonomie als Prinzip zur Begrenzung des Regierungshandelns, welches nur das tun konnte, „was es tun sollte“, wenn es die „natürlichen“ Gesetze der Wirtschaft respektierte.

Um diese Schlussfolgerung zu untermauern, zeichnete Foucault einen Weg, der vom klassischen Liberalismus der Physiokraten oder von Adam Smith ausgeht, wo sich das Misstrauen/die „Phobie“ gegenüber dem Staat entwickelte, das im neoliberalen Diskurs mit Nachdruck wieder auftauchen würde. Ein grundlegender Wandel vollzog sich ab 1870 mit dem Übergang von den „klassischen“ Konzepten, die sich noch auf den Arbeitswert als Erklärung für Überschuss und Gewinn bezogen, zur Schule des Grenznutzens (Jevons, Menger und Walras). Letztere führt das Verhalten des Einzelnen auf die egoistische Natur aktiver und freier „Wirtschaftssubjekte“ zurück. Der Wert eines Gutes hängt damit vom Nutzen ab, den es für die verschiedenen Akteure hat. In dieser neuen Werttheorie wird der Schwerpunkt auf das subjektive Begehren gelegt.

Im neoliberalen Modell wird das Individuum dadurch zu einem rationalen Subjekt, dass es die Möglichkeit erkennt, seine Fähigkeiten zu maximieren und sein Verhalten so zu steuern, dass es den größten Nutzen zu den geringsten Kosten erzielt. Hier, so argumentiert Foucault, gibt es eine wichtige Ordnungskomponente mit der Verinnerlichung des Gehorsams, der Unterwerfung unter eine äußere Macht, im Glauben, die eigene singuläre Freiheit auszuüben. Der Neoliberalismus führt die Logik des Liberalismus viel weiter. Es geht nicht nur darum, dem staatlichen Handeln Grenzen zu setzen, sondern die Marktwirtschaft wird zum Prinzip der internen Regulierung des Regierungshandelns. Der US-amerikanische Neoliberalismus wiederum versuchte, die Rationalität des Marktes, seine Analyseschemata und Entscheidungskriterien auch auf Bereiche auszudehnen, die nicht in erster Linie wirtschaftlich sind, wie Familie, Geburtenrate, Kriminalität, Strafrechtspolitik usw.

Lazzarato kritisiert diese Konzeption des Neoliberalismus, indem er sagt: „Die Beharrlichkeit, mit der Foucault die Techniken der Macht als ‚produktiv‘ definiert, die uns vor jeder ‚repressiven‘, zerstörerischen und kriegerischen Konzeption der Macht warnt, entspricht nicht der Erfahrung, die wir mit dem Neoliberalismus machen“6. Für Lazzarato ist dies ein „eurozentrischer“ Ansatz, bei dem Foucault die Bedeutung der Diktaturen in der Peripherie für die Durchsetzung des Neoliberalismus unterbewertet – angefangen bei Lateinamerika, dem chilenischen Laboratorium und der Pinochet-Diktatur, Argentinien und den übrigen Diktaturen, die sich mit der Niederlage des Aufstiegs des Klassenkamfpes der 1970er Jahre in der Region durchsetzten7. Lazzarato zufolge zeigt der Fall Lateinamerika, dass die Macht ohne Gewalt keine Chance hätte, eine Subjektivität hervorzurufen, die sich mit dem Wunsch mobilisiert, zu arbeiten, zu konsumieren und „Humankapital“ zu werden. Damit die neoliberale Gouvernementalität operieren kann, ist es notwendig, die revolutionäre Erfahrung zu annullieren, so der Autor. Und damit sie weiter operieren konnte, waren all die Kriege der USA und der NATO in den letzten Jahrzehnten notwendig.

Der Vormarsch der neoliberalen Offensive in den zentralen Ländern mit im Wesentlichen friedlichen Methoden – im Vergleich zur ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts –  ist ohne die Diktaturen in der Peripherie nicht zu verstehen (zu denen auch die südeuropäischen hinzugefügt werden müssten: Spanien, Portugal, Griechenland). Aber auch nicht – und dieses Element scheint bei Lazzarato unterbewertet zu sein – ohne die nachfolgenden „Übergänge zur Demokratie“, die zu einer gewissen Verallgemeinerung der liberalen Demokratie geführt haben (wenn auch unter Ausschluss strategischer Regionen wie Nordafrika und dem Nahen Osten). Die globale Durchsetzung der neoliberalen Hegemonie kann nur als internationale Integration beider Prozesse verstanden werden. Von zentraler Bedeutung war auch die Etablierung eines „neoliberalen Sozialpakts“ (der viel elitärer war als der der Nachkriegszeit), welcher die Verherrlichung des Individuums und seine Erfüllung im Konsum mit verstärkter Ausbeutung, sozialem Abstieg der Mehrheit der Arbeiter:innenklasse, Arbeitslosigkeit und Armut verband, wobei „Klientelismus“ und Kriminalisierung die grundlegenden Politiken des Neoliberalismus für diese Sektoren waren.

Seit 2008, mit dem sprunghaften Anstieg der Ungleichheit auf globaler Ebene und aktuell mit den Folgen des Krieges, befinden sich die „produktiven“ Machttechniken des Neoliberalismus, welche mit Konsum, Kredit usw. verbunden sind, sowie die bürgerliche Demokratie selbst in einer tiefen strukturellen Krise.

These III. Die wichtigste Neuerung der gegenwärtigen Situation in Begriffen des Krieges ist der Ausbruch eines zwischenstaatlichen Krieges, an dem Großmächte auf beiden Seiten beteiligt sind (wenn auch die USA und die NATO nur durch Stellvertreter agieren). Die „Umkehrung“ der Clausewitz’schen Formel verhindert ihr Verständnis.

Die Thesen Foucaults zur Biopolitik geben nicht sein gesamtes Werk wieder. Seine Entwicklung folgt in gewisser Weise der Entwicklung der politischen Bewegungen. Zuvor, in den frühen 1970er Jahren, hatte Foucault im Zusammenhang mit dem Aufschwung des Klassenkampfes ein Modell angenommen, das sich auf die Vorstellung einer Art permanenten Bürgerkriegs als Modell zum Verständnis der Machtverhältnisse stützt8. Aus dieser Phase stammt seine Umkehrung der Clausewitz’schen Formel. Für den preußischen General ist „der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Das bedeutet einerseits, dass es die Politik ist, die den Krieg auslöst, und nicht umgekehrt, weshalb wir, um einen Krieg zu verstehen, die Politik verstehen müssen, die ihn ausgelöst hat. Zugleich zeichnet sich der Krieg in der Clausewitz’schen Formel durch den Einsatz bestimmter Mittel (militärische Gewalt) aus. Foucaults Umkehrung dieser Begriffe beruht auf der Annahme, dass „Macht eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist“, und er fügt hinzu: „An diesem Punkt würden wir Clausewitz‘ Satz umkehren und sagen, dass Politik eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist“. Für den französischen Philosophen steht diese Umkehrung der Formel in direktem Zusammenhang mit einer Konzeption, in der „der Mechanismus der Macht im Wesentlichen Unterdrückung“9 ist.

Lazzarato nähert sich diesem Thema auf besondere Weise, indem er eine enge Verbindung zwischen der Umkehrung der Formel und dem Kolonialkrieg herstellt. Er stellt fest: „Wenn Politik […] die Fortsetzung des Krieges mit allen Mitteln ist, dann insofern, als es sich nicht um einen ‚regulären Krieg‘ handelt, sondern um einen Kolonialkrieg, der den Anstoß zum ‚totalen Krieg‘ gegeben hat und der keinen Frieden kennt“10. Er entwickelt dieses Argument als Kritik an Clausewitz selbst und weist zu Recht darauf hin, dass dieser als Theoretiker der napoleonischen Kriege zum Beispiel den Krieg gegen die haitianische Revolution ignoriert hat. Er weist darauf hin, dass Clausewitz nur ein Denker der europäischen Kriegsführung war, d.h. eines Krieges, dessen Perspektive ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Staaten war – und in diesem Sinne die Fortsetzung der staatlichen Politik. Im Rest der Welt, wo der Krieg von den Kolonialmächten geführt wurde, war er immer noch von Eroberung und Plünderung geprägt. Die Formel von Clausewitz wurde also, so der Autor, schon immer umgedreht11.

Unseres Erachtens bedeutet die Auslassung von Clausewitz jedoch keine Umkehrung der Formel. Der Kolonialkrieg ist immer noch die Fortsetzung der (imperialistischen) Politik mit anderen Mitteln. Natürlich überschneidet sich dieser Punkt mit einer Frage, die „Clausewitzianer:innen“ und „Anti-Clausewitzianer:innen“ gespalten hat: die Fähigkeit, sogenannte „irreguläre“ Kriege mit der Theorie von Clausewitz zu behandeln. In aller Kürze gesagt (für eine ausführlichere Erklärung verweisen wir auf unser Buch Sozialistische Strategie und Militärkunst), unterschied der preußische General eine variable Beziehung zwischen drei „Tendenzen“, die in jedem Krieg unter ihren verschiedenen konkreten Erscheinungsformen vorhanden sind (was er „die wunderliche Dreifaltigkeit“ nannte). Nämlich: Hass oder elementarer Impuls (hauptsächlich verbunden mit dem Subjekt „Volk“), die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten (in Verbindung mit der Armee und den Generälen) und Politik (in Verbindung mit der Regierung).

Kommentator:innen von Clausewitz – die man als „anticlausewitzianisch“ bezeichnen könnte – argumentieren, dass diese Dreifaltigkeit für das Verständnis „irregulärer Kriege“ (zu denen auch revolutionäre Bewegungen gehören würden) nicht nützlich sei, insbesondere da irreguläre Formationen nicht von der Regierung eines Nationalstaates geführt werden. Umgekehrt wurde unter „Clausewitzianer:innen“ argumentiert, dass die Dreifaltigkeit „keine starre soziologische Beschreibung des Krieges darstellt […] Clausewitz‘ Konzept der Unterordnung des Krieges unter die Politik ist zum Beispiel auf jede politische Einheit anwendbar, die sich Ziele setzt und über gewaltsame Mittel verfügt, die zur Erreichung ihrer Ziele eingesetzt werden“12. In diesem Sinne wurde vorgeschlagen, umfassendere Begriffe zu verwenden: statt „Volk“, „Armee“ und „Regierung“ sollten „Massenbasis“, „Kämpfer:innen“ und „Führung“ verwendet werden13, neben anderen Umformulierungen. Diese zweite Alternative ist für das Verständnis des „irregulären Krieges“ am relevantesten, denn auch wenn sich zwei souveräne Staaten nicht als solche gegenüberstehen, gibt es auf beiden Seiten des Grabens Politik, und diese ist immer noch die Ursache des Krieges.

Lazzarato, der den anticlausewitzianischen Lösungen näher steht, weist darauf hin, dass die „irreguläre Kriegsführung“ ihre Begriffe aus den Kolonialkriegen bezieht, um sie mit Foucaults Erklärung des Neoliberalismus durch die Biopolitik zu kontrastieren. „Gefangen in der positiven Wirkung eines weichgewaschenen Kapitalismus“, sagt er, „geläutert und reduziert auf den ‚Markt‘, das ‚Unternehmen‘, das ‚Humankapital‘, den ‚freien Wettbewerb‘ usw., kann uns die Biopolitik kaum helfen, darüber nachzudenken, was von/über die systematische Koexistenz von Faschismus und Demokratie zu denken ist…“14. Unter diesem Gesichtspunkt, so Lazzarato, müsse man in Bezug auf den Kapitalismus „von der Vorstellung Abstand nehmen, dass er ‚auf den Krieg wartet, um sich in eine Regierung der Zerstörung des Menschlichen zu verwandeln‘. Denn der Individualismus des Liberalismus, ob neu oder alt, umarmt die Zerstörung nicht im letzten Abschnitt seiner Karriere: Um aus der Verstrickung der ‚Regierung durch die Krise‘ herauszukommen, die von Anfang an genozidal und ökozidal war, verschmilzt er mit der Gouvernementalisierung des Krieges in all seinen Formen (kolonial und endokolonial, neokolonial und postkolonial)“15.

In diesem Sinne ist die Schlussfolgerung, die Lazzarato im Allgemeinen zieht, dass es sich nicht so sehr um eine „Umkehrung der Formel“ handelt – obwohl sein Argument davon ausgeht –, sondern um eine gewisse Identifizierung des Krieges mit der Politik und umgekehrt. Für den Autor ist „Politik nicht mehr, wie bei Clausewitz, die Politik des Staates, sondern eine Politik der finanzialisierten Ökonomie, die in die Vervielfältigung von Kriegen eingebettet ist, welche sich verschieben und den Krieg der Zerstörung verflechten mit den Kriegen der Klassen, ‚Rassen‘, Geschlechter und den ökologischen Kriegen, die die globale ‚Umwelt‘ für alle anderen bereitstellen“16. In Anlehnung an den späten Foucault in „Das Subjekt und die Macht“ weist Lazzarato darauf hin, dass die Gouvernementalität den Krieg nicht ersetzt, sondern ihn vielmehr kontrolliert, organisiert und regiert, sie ist eine Gouvernementalität der Kriege. Mit anderen Worten: Macht und Krieg, Machtbeziehungen (die assoziative Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten) und strategische Beziehungen (die Beziehung zwischen Gegner:innen) sollten nicht als aufeinander folgende Momente betrachtet werden, sondern als Beziehungen, die nebeneinander bestehen und sich ständig umkehren.

Der Gedanke, dass die Politik „nicht mehr die Politik des Staates, sondern die Politik der finanzialisierten Ökonomie ist“, hindert uns daran, die wichtigste Neuerung der aktuellen Situation zu verstehen: den Ausbruch des (zwischenstaatlichen) Krieges in der Ukraine, bei dem die USA und die NATO bisher durch Stellvertreter handeln. Ein Krieg, der bereits globale Auswirkungen hatte. Gleichzeitig wird bei der Nichtunterscheidung zwischen „Krieg“ und „Frieden“ in Bezug auf den Klassenkampf die grundlegende Tatsache außer Acht gelassen, dass reiner Widerstand kein Krieg ist und dass Krieg erst mit der Verteidigung beginnt, welche im Clausewitz’schen Sinne als Kombination mit möglichst vielen offensiven Elementen verstanden wird. Doch auf letzteres werden wir später zurückkommen.

These IV. Die Nützlichkeit der Clausewitz’schen Formel – als Ausgangspunkt – bezieht sich nicht nur auf die Kontinuität zwischen Politik und Krieg, sondern auch auf die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Situationen und Zeitlichkeiten zu unterscheiden. Diese Unterscheidungen sind für die Strategie unerlässlich.

Lazzaratos Kritik an Foucaults Geburt der Biopolitik hat den Vorzug, die – sicherlich weit verbreitete – Vorstellung auseinanderzunehmen, dass der Neoliberalismus friedlich auf die Subjektivität einwirke und seinen gewalttätigen Charakter hinter sich gelassen hätte. Andererseits etabliert er durch die Vorstellung eines „kontinuierlichen Krieges“ eine homogene Zeit, die strategische Überlegungen behindert. Die Analyse des Verlaufs der letzten Jahrzehnte birgt zwei Gefahren in sich. Eine besteht darin, den Krieg nicht zu sehen, d.h. nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass der Krieg für die Durchsetzung des Neoliberalismus von grundlegender Bedeutung war (sei es Bürger:innenkrieg oder Elemente davon oder konventionelle Kriege wie um die Malvinas), und blind zu bleiben für das Phänomen des Krieges im Allgemeinen und so einer Art Verkümmerung des strategischen Denkens infolge der neoliberalen Offensive zu erliegen. Die andere Gefahr besteht jedoch darin, den despotischen Vormarsch des Kapitals mit dem Krieg selbst zu verwechseln. Letzteres wäre ein umgekehrtes intellektuelles Verfahren wie dasjenige der von Walter Benjamin kritisierten17 Sozialdemokratie (beruhend auf der Idealisierung der Entwicklung der Produktivkräfte), welches aber in seiner Vorstellung einer homogenen Zeit mit dieser Konzeption verwandt ist: in diesem Fall die homogene Zeit eines permanenten Krieges, die die Begriffe „Krieg“ und „Frieden“ praktisch ununterscheidbar macht.

Für das strategische Denken sind genau die Unterscheidungen entscheidend, ohne die es unmöglich ist, über Übergänge nachzudenken. Der Frieden ist nie vollkommen, aber das bedeutet nicht, dass er automatisch in einen Krieg übergeht. Das kapitalistische Wachstum, insbesondere in der imperialistischen Epoche, ist nie harmonisch, aber das bedeutet nicht, dass es eine permanente Krise gibt. Die meisten bürgerlichen politischen Regime befinden sich heute in einer (mehr oder weniger ausgeprägten) Hegemoniekrise, aber das bedeutet nicht direkt einen Bürger:innenkrieg. Diese Art von Problemen ist für die Strategie von grundlegender Bedeutung, um die zeitliche Diskrepanz zwischen wirtschaftlichen, politischen, militärischen usw. Krisen und der Subjektivität der Avantgarde und der Massenbewegung bearbeiten zu können. Ohne diese unterschiedlichen Zeitlichkeiten zu erfassen, ist die Strategie nicht in der Lage, ihr Ziel zu erreichen: die einzelnen Kämpfe mit dem Ziel des Krieges zu verbinden.

Während der sozialdemokratische Evolutionismus per definitionem nicht in der Lage ist, über Krieg nachzudenken und ihn zu antizipieren, hat die Nichtunterscheidung zwischen Krieg und Frieden ähnliche Konsequenzen. Der Schlüssel zur strategischen Vorbereitung liegt in der Fähigkeit, Brücken zwischen den verschiedenen Zeitlichkeiten des historischen Prozesses zu schlagen. Jede Vorstellung von einer homogenen Zeit, sei es im Sinne einer evolutionären Entwicklung (der Produktivkräfte, der politischen Organisation, des Bewusstseins usw.) oder im Sinne eines „permanenten Krieges“, ist ein Hindernis für die revolutionäre Strategie.

Eine grundlegende Frage, die wir uns stellen müssen, lautet daher: In welchem Moment befinden wir uns jetzt? Insgesamt bestätigt der Krieg in der Ukraine, wie Claudia Cinatti betont, dass sich mit der kapitalistischen Krise von 2008 – welche der anhaltenden neoliberalen Hegemonie ein Ende setzte –, verschärft durch die Pandemie und die Umweltkrise, eine Periode eröffnete, in der die tiefgreifenden Tendenzen der imperialistischen Epoche der Kriege, Krisen und Revolutionen (Lenin) wieder an der Tagesordnung sind. Konkreter bedeutet dies, dass die Spielräume für eine evolutionäre Entwicklung schrumpfen und dass Krisen, der Militarismus der Großmächte sowie Tendenzen zur Revolution und Konterrevolution nicht nur in die Logik der historischen (imperialistischen) Epoche, sondern auch in die Etappe eingeschrieben sind18.

Es bleibt jedoch abzuwarten, in welchem Tempo sich diese Tendenzen entwickeln werden. Die Tendenzen zu größeren militärischen Konfrontationen, einschließlich Konfrontationen zwischen Großmächten, sind seit dem Krieg in der Ukraine zunehmend in die Weltlage eingeschrieben – umso mehr, als jeder Krieg dazu neigen kann, sich von seinen politischen Zielen zu verselbständigen, weil er seine eigene Grammatik hat, die anfällig für „Unfälle“ und Eskalation ist. Aber das ist noch nicht die Realität, und als Sozialist:innen müssen wir dafür kämpfen, genau dieses Schicksal der Menschheit durch die Revolution zu verhindern.

These V. Einer der Hauptwidersprüche der gegenwärtigen Etappe besteht zwischen der beispiellosen Internationalisierung des Kapitals und der Integration der Wertschöpfungsketten der letzten Jahrzehnte und den Tendenzen zu einem erneuten, zunehmend militaristischen zwischenstaatlichen Wettbewerb der Großmächte.

Die „Umkehrung“ der Clausewitz’schen Formel durch Deleuze und Guattari unterscheidet sich von derjenigen Foucaults. In Tausend Plateaus (ursprünglich 1980 veröffentlicht) entwickeln sie das Konzept der „Kriegsmaschine“ weitgehend als Kontrapunkt zum Konzept des preußischen Generals vom „absoluten Krieg“ – als abstraktem Kriegsbegriff –19. Von dort aus unterscheiden sie zwischen der Kriegsmaschine auf der einen Seite und dem Staatsapparat und dem Krieg selbst auf der anderen Seite. Es ist die Vereinnahmung dieser Kriegsmaschine durch den Staat, die den Krieg zu seinem Gegenstand macht, indem dieser den politischen Zielen des Staates untergeordnet wird. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Umkehrung“ für die Autoren nur von begrenzter Bedeutung: „Um sagen zu können, dass die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist, reicht es nicht aus, die Worte umzudrehen, als ob sie in die eine oder andere Richtung ausgesprochen werden könnten, sondern man muss die wirkliche Bewegung verfolgen, an deren Ende die Staaten, nachdem sie sich eine Kriegsmaschine angeeignet und sie ihren Zwecken angepasst haben, erneut eine Kriegsmaschine hervorbringen, die den Zweck übernimmt, sich die Staaten aneignet und mehr und mehr politische Funktionen übernimmt“20.

Deleuze und Guattari thematisieren die ursprüngliche Operation der Monopolisierung von Gewalt durch den Staat21: einerseits durch die Eingliederung von Gewalt in die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse selbst (Gewalt wird strukturell) und andererseits durch eine Verschiebung, die die Gewalt des Repressionsapparats in legale Polizeigewalt verwandelt. Ende des 19. Jahrhunderts wurde jedoch eine neue kapitalistische Kriegsmaschinerie aufgebaut, die den Staat, seine (politische und militärische) Souveränität und alle seine Verwaltungsfunktionen integrierte und unter der Leitung des Finanzkapitals tiefgreifend veränderte. Im 20. Jahrhundert wurde der staatliche Krieg nach Ansicht der Autoren zu einem „totalen Krieg“, in dem die eingesetzten Mittel und das verfolgte Ziel ihre Grenzen verlieren22. Diese totale Kriegsmaschinerie drückte sich in zwei aufeinanderfolgenden Figuren aus: die erste, der NS-Staat, der den Krieg zu einer unbegrenzten Bewegung, zu einem Selbstzweck macht; die zweite Figur entspricht der Nachkriegszeit und bezieht sich auf eine Kriegsmaschinerie, die direkt einen auf nuklearer Abschreckung basierenden Frieden (Frieden des Terrors oder des Überlebens) zum Ziel hat und die Weltordnung im Rahmen des „Kalten Krieges“ übernimmt.

Neu ist, vor allem in der Nachkriegszeit, dass die neue, von den Staaten entfesselte Weltkriegsmaschinerie mit einer noch nie dagewesenen Autonomie gegenüber staatlichen Institutionen auftritt, während sich ein staatenübergreifender Monopolkapitalismus entwickelt, der in den multinationalen Konzernen und der globalen Finanzoligarchie verkörpert ist. Gleichzeitig breiten sich technologische, finanzielle, industrielle und militärische Komplexe über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg aus. Wenn also die Kriegsmaschinerie nicht mehr einem politischen Ziel untergeordnet ist, dann vor allem deshalb, weil das Ziel selbst nicht mehr politisch ist, sondern sofort wirtschaftlich wird. An diesem Punkt, so die Autoren, „zeigt sich die Umkehrung der Clausewitz’schen Formel: Die Politik wird zur Fortsetzung des Krieges, der Frieden befreit technisch den unbegrenzten materiellen Prozess des totalen Krieges“23.

Der „Kalte Krieg“ als solcher „bringt weder Frieden noch Ehre für diejenigen, die ihn führen“24. Er wurde jedoch eindeutig von der Politik der Abkommen von Jalta und Potsdam über die Aufteilung der Einflusssphären bestimmt. Ohne ein Krieg im eigentlichen Sinne zu sein, umfasste er Kriege an den Grenzen des Einflussbereichs (Korea, Vietnam usw.). Er war geprägt von zahlreichen revolutionären Prozessen in der Peripherie – einschließlich in Osteuropa –, die gegen Ende der 1960er Jahre auf die imperialistischen Zentren einwirkten und zu einem internationalen Aufschwung des Klassenkampfes führten, der Anfang der 1980er Jahre sein Ende fand. Der abrupte Ausgang des „Kalten Krieges“ – der für viele überraschend kam – wurde nicht auf den Landkarten der Generalstäbe entschieden, noch nicht einmal im ökonomischen Bereich, sondern vor allem im größeren Rahmen der Ergebnisse des Klassenkampfes. Daraus ergibt sich eine der wichtigsten Grenzen des Konzepts der „Kriegsmaschine“, um diese Realität zu erklären; wir werden im Nachtrag am Ende darauf zurückkommen.

Über den historischen Bezug hinaus macht sich Lazzarato die These von Deleuze und Guattari kritisch zu eigen, um die Globalisierung zu erklären: Diese bringt er mit der Entwicklung der kapitalistischen Kriegsmaschinerie in Verbindung, wobei die neoliberalen Mechanismen den Kriegstaktiken des Kapitals entsprechen (Konsum, Verschuldung usw.). Der italienische Autor kritisiert einerseits zu Recht, dass Deleuze und Guattari eine fortschreitende Integration heterogener Ökonomien und Kulturen auf der Grundlage der technologischen Entwicklung theoretisieren. Er stellt fest: „Die Idee einer einzigen großen Maschine (‚integrierter Weltkapitalismus‘) ist eines der Zerrbilder, die in den dreißig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, die, wie man sich erinnern sollte, eher die Ausnahme als die Regel des Kapitalismus waren“25. Das Kapital kann nicht vollständig zum Weltmarkt werden, weil es nicht in der Lage ist, sich vom Staat zu trennen, „deshalb ist es unmöglich, eine einzige große Kriegsmaschine zu schaffen oder ein Empire zu werden“26. Andererseits macht sich Lazzarato die Idee zu eigen, dass die totale Kriegsmaschinerie nicht mehr auf den Krieg, sondern auf den „Frieden“ (des Terrors) abzielt. In diesem Rahmen bekräftigt der Autor, dass die Umkehrbarkeit zwischen Krieg und Wirtschaft Teil der Grundlage des Kapitalismus ist (mit Krieg, Geld und Staat als konstituierenden Kräften des Kapitalismus): „Die Wirtschaft verfolgt die Ziele des Krieges mit anderen Mitteln (‚Kreditblockade, Rohstoffembargo, Abwertung ausländischer Währungen‘)“27.

Beide von Deleuze und Guattari aufgeworfenen Fragen – die Idee einer einzigen Kriegsmaschine und die Tatsache, dass sie sich den Frieden zum Gegenstand gemacht hat – sind jedoch eng miteinander verknüpft und liegen ihrer besonderen „Umkehrung“ der Clausewitzschen Formel zugrunde. Hier liegt einer der Knackpunkte in Lazzaratos Ausführungen, wenn er versucht, das Denken nach 1968, das die Clausewitzsche Formel umkehrte, und die aktuelle Realität des Beginns einer offenen (auch militärischen) Infragestellung der Weltordnung zu artikulieren. Es handelt ich um zwei unvereinbare Begriffe, die sich auf einen der zentralen Widersprüche beziehen, welcher die herrschenden Klassen im heutigen Kapitalismus durchzieht. Einerseits könnte man sagen, dass die Kriegsmaschinerie des Kapitals sich den „Frieden“ zum Ziel gesetzt hat, was die beispiellose Internationalisierung des Kapitals und die Integration der Wertschöpfungsketten auf globaler Ebene in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Andererseits sind die transnationalen Konzerne in Ermangelung eines globalen Staates – und in Ermangelung der Möglichkeit eines solchen – gezwungen, über eine „Staatsraison“ ihres jeweiligen Imperialismus nachzudenken, die sie in einen (potenziell militärischen) Wettbewerb miteinander bringt.

Die Vorstellung, dass die Kriegsmaschinerien (im Plural, nach der Kritik von Lazzarato) auf den Frieden des Terrors abzielen, ist ebenfalls ein Zerrbild, welches sich aus der Dynamik des unangefochtenen Vormarschs der US-geführten imperialistischen Offensive bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts ergeben hat (ein Produkt der Niederlage des Aufstiegs des Klassenkampfes der 1970er Jahre und der kapitalistischen Restauration der Staaten, in denen die Bourgeoisie enteignet worden war). Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass diese Fortschritte grundlegende Auswirkungen auf die Gestaltung der globalen kapitalistischen Integration hatten, wie es sie nie zuvor gegeben hat. Da es aber keinen globalen Staat gibt, ist der zwischenstaatliche Wettbewerb zwischen den imperialistischen Mächten um die Aufteilung der Welt seit fast anderthalb Jahrhunderten ein fester Bestandteil des Kapitalismus. Das Vorhandensein eines gemeinsamen Feindes („Kalter Krieg“) oder das Fehlen eines Feindes, der einen wirksamen Widerstand leisten könnte (zur Zeit des Aufkommens des Neoliberalismus), kann diese Widersprüche nur entschärfen, jedoch kehren sie wieder, wenn diese Bedingungen erschöpft sind. Der Krieg in der Ukraine hat diese Erschöpfung in den Vordergrund gerückt.

These VI. Der Krieg bleibt die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das Aufeinanderprallen der globalen Integration unter der (in der Krise befindlichen) Hegemonie der USA und der (verstärkten) Herausforderung dieser Weltordnung durch die „revisionistischen“ Mächte bestimmt die Koordinaten der Politik, die im Krieg in der Ukraine fortgesetzt wird.

Um das ganze Ausmaß des erwähnten Widerspruchs zu begreifen, müssen wir auf die Formel von Clausewitz zurückgreifen und uns fragen, welche Politik im Krieg in der Ukraine „mit anderen Mitteln“ fortgesetzt wird. Nach dem Fall der Berliner Mauer war die Illusion einer einzigen Kriegsmaschine teilweise ein Erbe der Bipolarität des „Kalten Krieges“, in der die restlichen Imperialismen sich hinter die US-Hegemonie einreihten –  so entstand scheinbar (aber nicht wirklich) eine Art Ultraimperialismus. Wir sagen, dass sie nur teilweise auf diese Grundlagen baute, denn sie wurde auch durch den Vormarsch auf die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs gestützt. Denn diese stellten, nachdem sie kapitalistisch geworden waren, eine neue Quelle für Profite dar, insbesondere im Falle Chinas. Diese Politik der weltweiten Integration (Globalisierung), die auf der Unterordnung des kapitalistischen China und Russlands beruht, wird vom US-Imperialismus und der NATO im Krieg in der Ukraine fortgesetzt. Und auf Seiten Chinas und Russlands geht es darum, diese unipolare Ordnung herauszufordern, wobei sie dies bisher unter den jeweiligen Bedingungen tun, unter denen die USA ihnen den Konflikt vorsetzen. Im Falle Russlands in direkter militärischer Hinsicht, im Falle Chinas immer noch in Form eines wirtschaftlichen „Krieges“, wenn auch mit wachsenden Spannungen im militärischen Bereich.

Anders als das rückständige China zur Zeit der Restauration wurde die Russische Föderation, Erbin des Arsenals der UdSSR, schon früh als Bedrohung angesehen. Die Politik der USA und der NATO, die von „realistischen“ Theoretiker:innen wie John Mearsheimer in Frage gestellt wird und die im Krieg fortgesetzt wird, besteht in der Expansion nach Osteuropa, um Russland „einzukreisen“, ohne in eine direkte militärische Konfrontation zu gehen. Im Jahr 1999 traten Polen, Ungarn und die Tschechische Republik der NATO bei, im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Bulgarien, die Slowakei, Slowenien, Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro und 2020 Nordmazedonien. Dies ging einher mit der Einmischung in die so genannten „Farbrevolutionen“, wobei versucht wurde, aus den Aufständen gegen autoritäre Regime Kapital zu schlagen, um den Einfluss der USA auszuweiten.

Die Politik, die Putin mit der Invasion in der Ukraine fortsetzt – nach seinen erfolglosen Versuchen Anfang der 2000er Jahre, als Partner des US-Imperialismus aufzutreten –, besteht darin, Russland durch die Neuaufstellung seiner Armee und seiner Rüstungsentwicklung wieder den Status einer Militärmacht zu verschaffen. Dabei stützt er sich auf die nationale Unterdrückung der Nachbarvölker nach dem Vorbild des Zarismus oder Stalinismus. Ein reaktionärer russischer Nationalismus, der in Ereignissen wie dem Krieg mit Georgien um die Kontrolle von Südossetien, der Zerschmetterung des tschetschenischen Volkes oder in jüngster Zeit den Interventionen zur Unterstützung reaktionärer Regierungen in Belarus oder Kasachstan Höhepunkte fand.

In diesem Zusammenhang sind die Politik der Regierung Selenskyj sowie der politische Prozess, den die Ukraine seit Jahrzehnten durchläuft, nur verständlich als Pendelbewegung, die durch die Konfrontation zwischen den lokalen „pro-russischen“ und „pro-westlichen“ kapitalistischen Oligarchien gekennzeichnet ist28. Dazu gehörte die „orangefarbene Revolution“ im Jahr 2004 und ihre Fortsetzung im Euromaidan im Jahr 2014. Um diese Zusammenstöße herum vertiefte sich die Spaltung, die durch die Interessen der verschiedenen Fraktionen der lokalen Oligarchie geschürt wurde. All dies wurde durch die Existenz einer bedeutenden russischsprachigen Minderheit (etwa 30 % der Bevölkerung) und den Aufstieg rechtsextremer nationalistischer Gruppen noch verschärft. Ein Bürgerkrieg geringer Intensität, der bis 2014 zurückreicht29. Die Politik der Regierung Selenskyj, die sich im Krieg fortsetzt, zielt darauf ab, die Ukraine den westlichen Mächten unterzuordnen.

Mit anderen Worten: Was wir im Ukraine-Krieg sehen, ist keine Umkehrung der Clausewitzschen Formel, sondern eine ganze Reihe von Politiken, die im Krieg fortgesetzt werden. Die Erschöpfung des unilateralen Vormarschs der globalen Integration unter der Vorherrschaft der USA verschärft den Widerspruch zwischen der internationalen Integration der Produktivkräfte und der Rückkehr des Militarismus der Mächte. Während die europäischen Staaten einen neuen Militarismus entwickeln, kündigen die europäischen multinationalen Unternehmen Desinvestitionen in Europa an, um ihre Position auf dem nordamerikanischen Markt zu stärken und den steigenden kriegsbedingten Energiekosten zu entgehen. Oder im Falle Deutschlands sehen wir die widerprüchliche Politik – ein Produkt der Spaltung der eigenen herrschenden Klasse –, sich im Krieg in der Ukraine auf die Seite der USA zu stellen, während mehrere seiner wichtigsten transnationalen Unternehmen (wie Volkswagen, die Deutsche Bank, Siemens oder BASF, um nur einige zu nennen) versuchen, die Beziehungen zu China zu festigen, in dessen Wirtschaft sie weitgehend integriert sind und von der sie abhängen. So beginnen die verschiedenen bürgerlichen Sektoren, die mehr und die weniger transnationalisierten, in ihren Interessen auseinanderzudriften, was zu politischen Auseinandersetzungen innerhalb der einzelnen Regime führt (je nach dem Grad der Annäherung an die USA oder dem Grad der Beziehungen zu Russland oder China).

Weit entfernt von der Idee eines „kollektiven Imperialismus“ – nach dem von Lazzarato aufgegriffenen Begriff von Samir Amin – zwischen den USA, Europa und Japan, zeigte sich in der von den USA favorisierten Eskalation die klare Absicht, ihre Interessen zum Nachteil Europas und vor allem Deutschlands in den Vordergrund zu stellen. Dieses Element könnte in der Tat eine plausible Erklärung für Putins eigene anfängliche Fehleinschätzung im Krieg liefern, die auf einer Überschätzung der westlichen (gemeinsamen) Interessen bei der Priorisierung der globalen Integration beruhte.

Die Entwicklung dieser Widersprüche bestimmt die Frage nach den Rhythmen der Situation, nach der Möglichkeit von Momenten der „Entspannung“, wie man Ende 2022 nach dem Gipfeltreffen zwischen Xi Jinping und Biden vermuten konnte, oder von Momenten größerer Eskalation, wie es in den vergangenen Monaten der Fall war. Sicher ist, dass das Gleichgewicht der internen politischen Kräfte (Spaltungen zwischen den Sektoren der herrschenden Klassen) und der externen politischen Kräfte (Streitigkeiten zwischen den Staaten) erneut zu einem gefährlichen und immer entscheidenderen Spiel wird, in dem die Politik als konzentrierte Wirtschaft (Lenin) den Krieg hervorbringt.

These VII. Der Krieg in der Ukraine entspricht nicht mehr den Modellen der vorangegangenen Etappe: Neu ist die Rückkehr zu „regulären“ militärischen Konfrontationen, die Rückkehr des Krieges als „Schlacht auf einem Feld zwischen Menschen und Maschinen“, was die internationale Ordnung entscheidend beeinflussen kann.

In Guerras y Capital (im Original 2016 auf Französisch und 2021 auf Spanisch erschienen) stellt Lazzarato fest, dass „die vollständige Unterordnung des Krieges unter die Ziele des Kapitals am Ende des 20. Jahrhunderts ihre endgültige Form annimmt, als die Erschöpfung des zwischenstaatlichen Krieges dem gleichzeitig exklusiven und inklusiven Paradigma des Krieges – d.h. der Kriege – innerhalb der Bevölkerungen weicht, indem ein virtuell-reales Kontinuum zwischen wirtschaftlich-finanziellen Operationen und einer neuen Art von militärischen Operationen geschaffen wird, die nicht mehr auf die ‚Peripherie‘ beschränkt sind“30. Die Idee einer „Erschöpfung des zwischenstaatlichen Krieges“ und seine Ersetzung durch Kriege „innerhalb der Bevölkerungen“ wurde jedoch durch den Krieg in der Ukraine 2022 (und in gewissem Maße durch die Invasion der Krim 2014) widerlegt. Wie Richard Haass unter dem vielsagenden Titel „Zehn Lehren aus Rückkehr der Geschichte“ feststellt, „gibt es den Krieg zwischen Ländern, den eine ganze Reihe von Wissenschaftern für ein Ding der Vergangenheit hielt, nach wie vor“31.

Das Konzept des „Krieges innerhalb der Bevölkerung“ entnimmt Lazzarato ausdrücklich einem einflussreichen Buch des (pensionierten) britischen Generals Rupert Smith, The Utility of Force, das 2005 veröffentlicht wurde. Darin zeichnet Smith die Geschichte dessen nach, was er das Paradigma der „industriellen Kriegsführung“ nennt, welches seit Napoleon einen Großteil des 20. Jahrhunderts beherrschte und mit der Entwicklung von Atombombenarsenalen nach und nach obsolet wurde (was zu Niederlagen wie der USA in Vietnam oder in jüngerer Zeit zu Patt-Situationen wie in Afghanistan oder im Irak führte). An seine Stelle tritt das Paradigma des „Kriegs in der Bevölkerung“ (war amongst the people] – verbunden mit der Genealogie der „kleinen Kriege“ und des „irregulären Krieges“ –. Ein Hauptaspekt dieses Paradigma besteht darin, dass „im Krieg in der Bevölkerung im Gegensatz zum industriellen Krieg kein Akt der Gewalt jemals entscheidend sein wird: Der Wille des Volkes wird nicht durch die Kraftprobe gewonnen, und das ist letztlich das einzig wahre Ziel jeder Gewaltanwendung in unseren modernen Konflikten“32.

Diese Gleichung ist sehr wichtig. Aber gerade das zeigt, dass in diesen Kriegen eher politische als militärische Probleme im Mittelpunkt stehen. So war beispielsweise das Hauptproblem der US-Intervention im Irak ab 2003 nicht der Sieg über die Armee von Saddam Hussein. Wie Carl Schmitt betonte, ist es eine Sache, soziale Beziehungen zu zerstören (was durch Bomben oder Flugzeuge geschehen kann), aber es ist viel schwieriger, neue soziale Beziehungen zu schaffen, um sie zu ersetzen33. Auch wenn der anfängliche politische Erfolg der USA darin bestand, einen nationalen Befreiungskrieg zu vermeiden, indem sie die Spaltung zwischen Sunnit:innen, Schiit:innen und Kurd:innen aufrechterhielten und festigten, bestand ihr Problem stets in der Unfähigkeit, die Sunnit:innen zu integrieren, ebenso wie diejenigen schiitischen Sektoren, die gegen das US-Besatzungsprogramm waren. Dies führte zu abartigen Phänomenen wie ISIS, aber auch, insbesondere ab 2016, zu Demonstrationen gegen die Besatzung sowie zu Massenprotesten gegen Arbeitslosigkeit und schreckliche Lebensbedingungen, wie wir sie 2019 mit mehr als 100 Toten erlebt haben. Mit anderen Worten: Der (gewaltsame) Klassenkampf wurde zu einem zentralen Problem, das eine politische Stabilisierung verhinderte.

Das Problem mit dem Buch von Rupert Smith ist, dass es trotz der verschiedenen Elemente, die es zum Nachdenken über die jüngsten militärischen Konflikte beiträgt, ein Modell verallgemeinert (und radikalisiert), welches in den militärischen Interventionen der USA und der NATO gegen schwache Armeen oder irreguläre Kräfte in den 1990er und frühen 2000er Jahren verankert ist (Bosnien 1995, Irak 1991, 2003, Kosovo 1999 usw.). In seinem Buch behauptet Smith provokativ: „Krieg gibt es nicht mehr. Natürlich gibt es überall auf der Welt Konfrontationen, Konflikte und Kämpfe […] und die Staaten haben immer noch Streitkräfte, die sie als Symbol ihrer Macht einsetzen. Aber […] der Krieg als Schlacht auf einem Feld zwischen Menschen und Maschinen, der Krieg als massives, entscheidendes Ereignis in einer Auseinandersetzung in internationalen Angelegenheiten: einen solchen Krieg gibt es nicht mehr. Man bedenke: Die letzte bekannte echte Panzerschlacht der Welt, in der Panzerverbände zweier Armeen mit Unterstützung von Artillerie und Luftstreitkräften gegeneinander manövrierten, in der Panzer in Formation die entscheidende Kraft waren, fand 1973 statt“34.

Mit dem Krieg in der Ukraine sind genau diese überwunden geglaubten Elemente zurückgekehrt. Es ist nicht so, dass es den Krieg „nicht mehr gäbe“, sondern dass seine Form als „Schlacht auf einem Feld zwischen Menschen und Maschinen“ nicht konstant ist – das heißt, es gibt keinen „permanenten Krieg“ –, sondern dass er zu bestimmten historischen Anlässen auftritt. Smith hat zwar recht, dass die Konstante „Konfrontation, Konflikt und Kampf“ ist, doch bezieht sich dies im marxistischen Sinne genau auf den Klassenkampf und nicht unbedingt auf den Krieg selbst. Das Beispiel der Panzer, das der Autor verwendet, ist ein gutes Symbol für das wirklich neue Szenario, das durch den Krieg in der Ukraine eröffnet wurde, wo eine „revisionistische“ Macht wie Russland – und nicht wie üblich die USA – in nicht weniger als ein Land an der europäischen Peripherie einmarschiert, welches von der NATO unterstützt wird. Dies bedeutet zwar nicht, dass viele Elemente, die sich in den Kriegen der letzten Jahrzehnte herausgebildet haben, nicht weiterbestehen (angefangen beim enormen Gewicht der politischen Medien), aber die Ukraine hat gezeigt, dass die „Erschöpfung des zwischenstaatlichen Kriegs“ eine Illusion war. Es ist notwendig, den Krieg in dem neuen Kontext zu überdenken, der erneut die – nicht unbedingt unmittelbare – Aussicht auf einen Krieg zwischen Großmächten aufwirft.

These VIII. Das historische Ausmaß der Integration der Weltwirtschaft (welche der Kapitalismus nicht zu Ende führen kann) verwischt die Grenze zwischen „Wirtschaftskrieg“ und Krieg im militärischen Sinne. Dies bedeutet jedoch, dass die Unterscheidung zwischen den beiden mehr und nicht weniger grundlegend für die Strategie ist.

Eine weitere sehr wichtige Referenz in Lazzaratos Analyse ist das Buch Unrestricted Warfare (1999), geschrieben von Qiao Liang und Wang Xiangsui, beide Oberst der chinesischen Armee. Das Buch wurde weithin rezipiert und als eine Art chinesischer „Masterplan“ gegen die USA dargestellt. Die Autoren versuchen, die Kriegsführung in Zeiten der Globalisierung und der technologischen Integration neu zu überdenken. Sie argumentieren, dass das Recht der Waffen, zu bestimmen, was Krieg ist, weggefallen sei und damit verschwimme, was Krieg ist und was nicht. Dabei berücksichtigen sie beispielsweise die Fähigkeit transnationaler Organisationen, die Politik von Staaten zu beeinflussen, die Ausweitung der Möglichkeiten des „Wirtschaftskrieges“ in einer wirtschaftlich und produktiv stärker integrierten Welt, die „Computer-“ und „Cyber“-Dimension des Kriegs35, Kommunikation, Terrorismus usw.

Die globale Integration hat in der Tat die Grenze zwischen kriegerischen und nicht-kriegerischen Handlungen verwischt. Aber gerade deshalb ist es umso wichtiger, zwischen dem „Wirtschaftskrieg“ (der kein Krieg im eigentlichen Sinne ist) und dem militärischen Krieg zu unterscheiden, verstanden als „Schlacht auf einem Feld zwischen Menschen und Maschinen“ (Smith). Ohne diese Unterscheidung wären wir nicht in der Lage, die konkrete Situation zu verstehen. Die Konfrontation zwischen der Ukraine und Russland seit Putins Einmarsch ist ein vollwertiger zwischenstaatlicher Krieg. Das Eingreifen der USA und der NATO in Form von Wirtschaftssanktionen sowie der Unterstützung, Ausbildung, Bewaffnung und Versorgung der ukrainischen Armee ist offenkundig, aber ihre militärische Beteiligung ist bisher nicht direkt. Der „Wirtschaftskrieg“ mit China ist ebenfalls offen und bringt wachsende militärische Spannungen mit sich, ist aber noch keine „Schlacht auf einem Feld zwischen Menschen und Maschinen“. Diese „subtilen“ Unterschiede bedeuten nicht mehr und nicht weniger, als dass wir noch nicht vor dem Dritten Weltkrieg stehen.

Es ist nicht schwer, im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine den Einsatz vieler der von Liang und Xiangsui genannten Dimensionen zu erkennen (Ausweitung der Möglichkeiten des „Wirtschafskriegs“, das Gewicht der kommunikativen Dimension usw.). Die USA haben eine beispiellose Flut von Sanktionen verhängt, ohne offen Truppen vor Ort einzusetzen, aber alle mögliche Militärhilfe und Waffen bereitgestellt. Die meisten großen russischen Banken sind vom weltweiten Zahlungssystem isoliert, der Dollar selbst wurde als „Waffe“ eingesetzt, indem die Hälfte der russischen Devisenreserven (etwa 300 Milliarden) eingefroren wurde, und russischen Unternehmen wurde der Kauf aller möglichen Vorprodukte, einschließlich Mikrochips, untersagt. Der Kampf um die internationale und insbesondere die europäische öffentliche Meinung hat Dimensionen angenommen, wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegen eine Macht erreicht wurden. Das symbolische Extrem war das Verbot der Teilnahme russischer Sportler:innen an internationalen Sportveranstaltungen, wobei sogar Sanktionen gegen einzelne Künstler:innen usw. verhängt wurden. Andere Mittel, wie z.B. Cyberangriffe, von denen viele Analyst:innen zu Beginn des Krieges glaubten, dass sie eine wichtige Rolle spielen würden, haben dies nicht getan.

Die Bilanz all dieser Maßnahmen ist jedoch weitaus widersprüchlicher als erwartet. In diesem multidimensionalen Terrain hat die Globalisierung den Krieg in einem bestimmten Sinne verwirrender gemacht: Die globale Integration bedeutet, dass Maßnahmen, die zum Angriff auf den Feind ergriffen werden, am Ende den Angreifer mehr treffen können als den Angegriffenen. Russlands sanktionsbedingter Rückgang des BIP, der im März 2022 auf 15 Prozent geschätzt wurde, wird jetzt auf etwa 6 Prozent geschätzt, wobei die Energieverkäufe für 2022 einen Leistungsbilanzüberschuss von mehr als 250 Mrd. Dollar erwirtschafteten, was größtenteils auf die durch den Krieg selbst verursachten Preissteigerungen zurückzuführen ist. Dies bedeutet natürlich nicht, dass eine Fortsetzung des Krieges nichts an dieser Situation ändern würde, aber eine Konsolidierung der Isolation Russlands würde vor allem von politischen Faktoren abhängen: einer viel breiteren internationalen Einreihung der Länder hinter die USA, als sie bisher erreicht haben. Zum Anderen haben die Sanktionen (und nicht nur der Krieg selbst) eine weltweite Inflation ausgelöst, von der Europa aufgrund seiner Energieabhängigkeit von Russland besonders betroffen ist. Diese Maßnahmen erfordern eine relativ unmögliche Präzision, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Wie Shylock können sie ihrem Feind ein Pfund Fleisch abschneiden, aber wenn sie dabei einen Tropfen Blut vergießen, können sie sich selbst zum Verhängnis werden; in diesem Fall zum Beispiel, indem Europa untergeht. Dies sorgt auch dafür, dass China nicht in der Lage ist, sich offener in den Krieg einzumischen, da es widerstrebende Interessen hat, sowohl mit den USA und Europa als auch mit Russland.

Die Ansätze von Liang und Xiangsui erweitern zwar die Parameter für das Denken über den Krieg in der heutigen Zeit, unterschätzen aber die rein „militärische“ Dimension des Krieges.  Was die Auswirkungen auf den Krieg in der Ukraine selbst betrifft, so war die direkte militärische „Hilfe“ der NATO in Form von nachrichtendienstlichen Informationen aller Art, Ausbildung und Beratung und insbesondere in der jüngsten Phase des Krieges die Lieferung von hochmodernen Waffen, einschließlich hochmoderner hochmobiler Artillerie und Boden-Luft-Artillerie36, weitaus einflussreicher als die Sanktionen. Das Buch Unrestricted Warfare, das vor mehr als 20 Jahren (1999) geschrieben wurde, ist wie Smiths Buch Teil des Universums des militärischen Denkens, das die von den USA geführten Kriegen der 1990er Jahre im Zentrum hat. In der Tat hat die chinesische Regierung in den letzten Jahren einen Großteil ihrer Bemühungen auf die Modernisierung und den Ausbau ihrer Flugzeugträger, Tarnkappenflugzeuge, Hyperschallraketen usw. konzentriert, obwohl sie in den meisten Bereichen noch hinter den USA zurückliegt. In der Zwischenzeit ist der Streit um Taiwan zu einem der potenziellen militärischen Konfliktpunkte im globalen Kampf um die globale Hegemonie geworden.

Zu den Schlussfolgerungen, die Lazzarato aus diesen Debatten zieht, gehört die Feststellung, dass „die Krise nicht von der Entwicklung des Krieges zu unterscheiden ist. Daher ist es notwendig, dass sich die Phänomenologie des Kriegsbegriffs nicht mehr auf den zwischenstaatlichen Krieg bezieht, sondern auf eine neue Form des transnationalen Krieges, der mit der Entwicklung des Kapitals verbunden ist und nicht mehr von seiner wirtschaftlichen, humanitären, ökologischen usw. Politik unterschieden wird“37. Wie wir schon hingewiesen haben, stimmt es nicht, dass „die Krise nicht von der Entwicklung des Krieges zu unterscheiden ist“: die Krise hat ihre eigenen strukturellen Ursachen – auf die wir weiter unten eingehen werden –; es ist auch nicht so, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen sich nicht mehr auf zwischenstaatliche Kriege bezögen oder dass die Staaten eine Kabotagefunktion übernommen hätten. Der Krieg ist nach wie vor die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, aber das historische Ausmaß, das durch die Integration der Weltwirtschaft erreicht wurde (welche der Kapitalismus nicht bis zum Ende durchsetzen kann), verwischt diese Grenze, die dennoch unter dem Gesichtspunkt der Strategie entscheidend bleibt. Dies wiederum bedeutet, dass jeder Krieg, an dem große Staaten beteiligt sind, viel unmittelbarere und weitreichendere globale Folgen hat als in jeder früheren historischen Periode. Der Krieg in der Ukraine (mit seinen monetären Auswirkungen, steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen und den unmittelbaren Folgen für die Mehrheit der Weltbevölkerung) ist ein typisches Beispiel dafür.

Lazzaratos Bemerkung in Guerra o Revolución, dass „eine eventuelle chinesische Hegemonie nur nach Kriegen errichtet werden könnte, von denen der in der Ukraine vielleicht nur der Anfang ist“38, zeichnet ein Bild, das viel mehr auf die Phänomene hinweist, die wir gerade erleben. Aber wenn dem so ist, dann hätte ein Konflikt dieser Größenordnung (selbst wenn er sich auf die taiwanesischen Matsu-Inseln vor der chinesischen Küste beschränken würde) nicht nur militärisch, sondern auch im Sinne eines „uneingeschränkten Krieges“ das Potenzial, die Welt zu „destabilisieren“, mit tiefgreifenden Folgen für den Klassenkampf. Das Ausmaß dieses Konflikts ist mehr als 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer schwer zu beziffern, aber sicherlich würde sich Lazzaratos Idee, dass wir heute bereits einen „globalen Bürger:innenkrieg“ erleben, als völlig aus der Zeit gefallen erweisen.

These IX. Angesichts der Erschöpfung der in den letzten Jahrzehnten eroberten neuen Akkumulationsräume und der Tatsache, dass die Krisen ihre Funktion der „Bereinigung“ des Kapitals nicht erfüllen, kann die zunehmende Finanzialisierung der Wirtschaft und die staatliche Intervention nicht auf unbestimmte Zeit weitergehen. Sie verzögern nur den Kampf um die Frage (und machen ihn potenziell noch explosiver), wer die Kosten für die Erschöpfung des neoliberalen Zyklus trägt.

Lazzarato argumentiert, dass „das Scheitern der gegenwärtigen Globalisierung dem Scheitern der vorangegangenen Globalisierung zwischen dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert sehr ähnlich ist und nur zu Krieg führen kann, denn sobald das Finanzkapital zusammengebrochen ist, treten die Staaten und ihre Armeen an, um um die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt zu kämpfen“39. Wir sind zwar der Meinung, dass es ein qualitativ höheres Maß an Integration gibt als vor einem Jahrhundert, stimmen aber mit der obigen Aussage über die kriegerischen Aussichten, die sich aus der Krise der „Globalisierung“ ergeben, überein. Die Frage ist jedoch, von welcher Art von Krieg wir hier sprechen.

Angesichts des Widerspruchs zwischen 1) Kriegsmaschinen, die sich im Zuge der „Globalisierung“ den „Frieden“ zum Ziel setzen – die, wie wir gesehen haben, in Wirklichkeit stets ein spezifisches und variables Verhältnis zwischen dem Politischen, dem Ökonomischen und dem Militärischen darstellen – und 2) der Tatsache, dass das Kapital nicht in der Lage ist, sich vom Staat zu trennen, zeigt Lazzarato zwei (eng miteinander verbundene) „Auswege“ auf, die das Kapital wählt, um seine eigenen Grenzen zu überschreiten. Nämlich: 1) die Kontinuität der ursprünglichen Akkumulation (teils anknüpfend an die Thesen von Rosa Luxemburg, teils an David Harvey), d.h. die „Akkumulation durch Enteignung“ als Antwort auf die sinkende Profitrate; und 2) eine Verinnerlichung der Methoden der kolonialen Kriegsführung – auch in den imperialistischen Ländern – in dem, was er als „Klassenkriege“ bezeichnet. Beginnen wir mit der ersten.

Lazzarato kritisiert die seiner Ansicht nach in weiten Teilen des Marxismus vertretene Auffassung von der ursprünglichen Akkumulation, die diese auf eine bloße Phase der kapitalistischen Entwicklung beschränkt, welche überwunden wird, sobald sich die spezifische Produktionsweise durchgesetzt hat. Demgegenüber weist er darauf hin, dass die ursprüngliche Akkumulation die Entwicklung des Kapitals ständig begleitet. Der Kapitalismus braucht nicht-kapitalistische Märkte und Gesellschaftsschichten für die Akkumulation. Er tendiert zwar dazu, alle anderen Wirtschaftsformen zu eliminieren oder zu absorbieren, kann aber nicht ohne sie existieren, ohne andere Wirtschaftsformen, von denen er sich ernährt. In seiner Analyse der ursprünglichen Akkumulation hebt Marx neben der Staatsmacht und dem öffentlichen Kredit den Krieg hervor und begreift die Gewalt als ökonomisches Mittel. Auf diesen Koordinaten unterstreicht der Ansatz von Lazzarato, dass die ursprüngliche Akkumulation sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie die kontinuierliche Schöpfung des Kapitalismus selbst ist: „Kreditströme, Staatsverschuldung (die ‚zu einem der wirksamsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation wird‘) und der Eroberungskrieg erhalten und verstärken sich gegenseitig in einem Prozess der Deterritorialisierung, der unmittelbar global ist“40.

Die Idee der Kontinuität der ursprünglichen Akkumulation ist eine der Thesen, die David Harvey in seinem Konzept der „Akkumulation durch Enteignung“ am weitesten entwickelt hat (basierend auf einer Interpretation von Rosa Luxemburgs Werk). Er definiert sie als die Anwendung derselben Methoden der „ursprünglichen Akkumulation“ aus den Anfängen des Kapitalismus, um heute die ärmsten Sektoren der ärmsten Länder für die Kosten regionaler Überakkumulationskrisen aufkommen zu lassen. Diese Mechanismen würden darin bestehen, nicht-kapitalistische Gesellschaftsformationen oder Sektoren des Kapitalismus zu nutzen, in denen die kapitalistische Wertschöpfung relativ verboten war. Beispiele hierfür sind die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und sozialer Dienstleistungen, die IWF-Politik der Haushaltsanpassung, die Auslandsverschuldung, Abwertungen und kontrollierte Krisen41. Auf diese Weise hebt Harvey zu Recht die Bedeutung der Mechanismen der „Akkumulation durch Enteignung“ im Neoliberalismus hervor.

Wenn es jedoch eine Kritik gibt, die unserer Meinung nach an Harveys Ansatz angebracht ist, so ist es die, dass darin die „Akkumulation durch Ausbeutung“ immer mehr in den Hintergrund gerät, obwohl gerade durch sie das Kapital produziert und reproduziert wird und der verwertbare Wert geschaffen wird. Im Fall von Lazzarato geht seine Kritik an Harvey in die entgegengesetzte Richtung. Nach Ansicht des Autors besteht das Problem von Harvey darin, dass „die Vermeidung der politischen Frage, die durch die Hegemonie des Finanzkapitals aufgeworfen wird – nämlich die Unmöglichkeit, zwischen Akkumulation durch Ausbeutung und ‚Akkumulation durch Enteignung‘ zu unterscheiden – gleichbedeutend damit ist, den Krieg (in) der Wirtschaft zu ignorieren“42. Die Kritik an der „Trennung“ zwischen den beiden Begriffen können wir zwar teilen, aber im Fall von Lazzarato beruht sie auf einer „Radikalisierung“ der These von Harvey zugunsten der Existenz „eines Bürger:innenkriegs, der eine abstraktere, deterritorialere Form angenommen hat: der Krieg der Gläubiger:innen und Schuldner:innen“43.

Alle Elemente, die wir mit Harvey aufgezeigt haben, und das von Lazzarato hervorgehobene grundlegende Problem der Verschuldung gehören zu den wichtigsten Mechanismen, durch die der Kapitalismus funktioniert hat. Wie der italienische Soziologe hervorhebt, „wirkte die Verschuldung, bevor sie in Europa landete, als Massenvernichtungswaffe, zunächst in Afrika, dann in Lateinamerika und schließlich in Südostasien, die ganze Länder in die Knie zwang und seit den 1980er Jahren dem gesamten Planeten die Austerität aufzwang“44. Heute sind die Schulden kolossal geworden. Im Jahr 1970 betrug die weltweite Verschuldung 100 Prozent des weltweiten BIP, im Jahr 2020 waren es 250 Prozent. Die von Lazzarato vorgebrachte Idee einer Nicht-Unterscheidbarkeit zwischen Akkumulation durch Ausbeutung und Akkumulation durch Enteignung, bei der die letztere die erstere zu verschlingen scheint, ist jedoch höchst problematisch, nicht zuletzt wenn es darum geht, die Dynamik der strukturellen Krise, welche das kapitalistische System derzeit durchläuft, zu erklären.

Das Grundproblem, vor dem der Kapitalismus heute steht, ist das Fehlen neuer Motoren der Kapitalakkumulation, die in erster Linie mit der „Akkumulation durch Ausbeutung“ zusammenhängen. In dem Artikel „Bedeuten Krieg und Inflation das Ende der neoliberalen Globalisierung?“ weist Juan Chingo darauf hin, dass die Rentabilität der Investitionen in den wichtigsten wertschöpfenden Sektoren nahe an den Tiefstständen nach 1945 liegt, was für den Kapitalismus unhaltbar ist. In den letzten Jahrzehnten konnte der neoliberale Zyklus seine Grenzen durch bestimmte gegenläufige Tendenzen zur sinkenden Profitrate erweitern, hat aber die Ursachen des Produktivitätsrückgangs nicht gelöst45. Nach der Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen UdSSR, in Osteuropa und vor allem in China fand der Kapitalismus einen neuen „Urwald“, jenes „Draußen“, von dem Luxemburg sprach, einen „neuen“ Ort zur Kapitalakkumulation. Er war in der Lage, den Geltungsbereich des Wertgesetzes enorm auszuweiten und massenhaft neue Arbeitskräfte einzubeziehen (was den absoluten Mehrwert in der ganzen Welt erhöhte). Neu in den letzten Jahren ist jedoch, dass diese Gegentendenz ins Stocken gerät, nicht nur, weil die Löhne in China steigen, sondern auch, weil der asiatische Riese mit den USA und den Großmächten konkurriert. China hat sich von einer armen Nation, die ein Ziel für die Kapitalakkumulation der imperialistischen Mächte war, in eine Nation verwandelt, die auf dem Weltmarkt um die Möglichkeiten der Kapitalakkumulation konkurriert.

Die fortschreitende Finanzialisierung der Wirtschaft hat zwar bisher als Ausweichventil gegen dieses Szenario gedient, ist aber weit davon entfernt, einen neuen offenen Mechanismus für das Funktionieren des Kapitalismus zu bilden, wie die These von Lazzarato nahelegt. Nach Ansicht Lazzaratos folgt im heutigen Kapitalismus „die ‚Krise‘ nicht auf das ‚Wachstum‘, sondern beide existieren nebeneinander; der Frieden folgt nicht auf den Krieg, sondern beide sind nebeneinander vorhanden; die Wirtschaft ersetzt den Krieg nicht, sondern führt ihn auf eine andere Art und Weise durch. Die ‚Krise‘ ist unendlich und der Krieg kennt keinen Waffenstillstand…“46. Wie wir bereits im Zusammenhang mit den Begriffen „Krieg“ und „Frieden“ erörtert haben, haben die Krisen hier ihren Charakter nicht verändert. Die Vorstellung, dass die Krise unendlich ist, berücksichtigt nicht die Tatsache, die für das Verständnis der gegenwärtigen Situation sehr wichtig ist, dass die Krisen aufgrund der von den Staaten eingeführten Mechanismen ihre Hauptfunktion nicht erfüllt haben: die „Bereinigung“ des Kapitals. Dies war der Hauptaspekt beim Ausgang aus der Krise von 2008/9, in der die phänomenal lange Unterstützung durch die Zentralbanken und Regierungen, insbesondere in den USA, Westeuropa und Japan, eine signifikante Vernichtung von Kapital im Industrie-, Finanz- oder Handelssektor verhinderte und nicht einmal eine signifikante Vernichtung von fiktivem Kapital stattfand.

Beide Elemente, die Erschöpfung der neuen Akkumulationsräume, welche das Kapital in den letzten Jahrzehnten erobert hat, und die Tatsache, dass die Krisen ihre Funktion, Kapitale zu bereinigen, nicht erfüllen, führen zu einer Anhäufung von Widersprüchen, bei der das Kapital ständig versucht, seine eigenen Grenzen zu verschieben. Es handelt sich jedoch nicht um eine Dynamik, die aufrechterhalten werden kann, um einen neuen Mechanismus, den das Kapital gefunden hätte, um unbegrenzt zu überleben, oder um ein neues „Akkumulationsregime“. Sondern es handelt sich um einen potenziell explosiven Prozess der Akkumulation von Widersprüchen, welcher die Grundlage für das erneute Aufflammen geopolitischer Spannungen und des Militarismus der Großmächte bildet. Dies ist die Tiefenströmung, die zu zukünftigen zwischenstaatlichen Kriegen „um die Aufteilung der Welt“ führen wird, oder anders gesagt, darum, wer die Kosten für die Erschöpfung des neoliberalen Globalisierungszyklus trägt.

Fußnoten

1. Vgl. Bensaïd, Daniel, Elogio de la política profana, Barcelona, Ediciones Península, 2009, S. 162.
2. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, Buenos Aires, Tinta Limón, 2022, S. 76. Eigene Übersetzung.
3. Albamonte, Emilio, Maiello, Matías, https://www.klassegegenklasse.org/an-den-grenzen-der-burgerlichen-restauration/
4. Diese Entwicklung setzte sich vom französischen Mai ’68 bis zum revolutionären Prozess in Polen 1980/81 fort.
5. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, a.a.O., S. 54. Eigene Übersetzung.
6. Lazzarato, Maurizio, Capital Hates Everyone. Eigene Übersetzung.
7. Lazzarato argumentiert: „Der Staatsstreich von 1973 in Chile ist gleichzeitig ein Modell: 1) der Wiederaneignung des von der ‚Revolution‘ bedrohten Machtmonopols, 2) der kriminellen Zerstörung der kollektiven Aktion der Unterdrückten, 3) der Umwandlung der Besiegten in Beherrschte durch die Anwendung neoliberaler Normen“. (Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, Buenos Aires, TInta Limón, 2021, S. 22. Eigene Übersetzung).
8. Er gab sie jedoch bald zugunsten seiner Analyse der Machtverhältnisse im Sinne der Biopolitik und der Gouvernementalität als den wichtigsten Steuerungsinstrumenten des Neoliberalismus auf. Hier weist Lazzarato darauf hin, dass „die theoretische Befriedung mit der politischen Befriedung zusammenfällt, die Maschine Staat-Kapital stellt ihre Ordnung wieder her“ (Guerra o Révolución, a.a.O., S. 77. Eigene Übersetzung). Wie Lazzarato analysiert, knüpfte Foucault gegen Ende seines Lebens in „Subjekt und Macht“ (1982), wo er sein eigenes Werk überprüft, in gewisser Weise an diesen ersten Ansatz an.
9. Foucault, Michel, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France 1975. Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 2001. S. 76.
10. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. Eigene Übersetzung.
11. Eines der Hauptverdienste von Clausewitz besteht darin, dass er über die „Kabinettskriege“ hinausgegangen ist und das Eingreifen der Massen in den Krieg mit ihrem eigenen Gewicht als grundlegendes Phänomen erkannt hat, das mit der Verteidigung der Eroberungen der Französischen Revolution zusammenhängt. Doch der preußische General geht nicht auf den Krieg gegen die haitianische Revolution und das Kolonialproblem ein. Sein Ansatz konzentriert sich auf den europäischen Krieg und insbesondere auf den Kontinentalkrieg.
12. Waldman, Thomas, War, Clausewitz, and the Trinity, London, Routledge, 2016, S. 350. Eigene Übersetzung.
13. Vgl. Bassford, Christopher, „The Primacy of Policy and the ‚Trinity‘ in Clausewitz’s Mature Thought“, in Strachan, Hew and Herberg-Rothe, Andreas (Hrsg.), Clausewitz in the Twenty-First Century, Oxford, Oxford University Press, 2007, S. 82.
14. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. Eigene Übersetzung.
15. Ebd. Eigene Übersetzung.
16. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O., S. 313. Eigene Übersetzung.
17. In seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ erklärte Benjamin: „Die sozialdemokratische Theorie, und noch mehr die Praxis, wurde von einem Fortschrittsbegrif bestimmt, der sich nicht an die Wirklichkeit hielt, sondern einen dogmatischen Anspruch hatte.“ Er fügte hinzu: „Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen.“ (Benjamin, Walter, Über den Begriff der Geschichte, abrufbar unter https://www.textlog.de/benjamin/abhandlungen/ueber-den-begriff-der-geschichte )
18. Cinatti, Claudia, https://www.klassegegenklasse.org/der-krieg-in-der-ukraine-und-die-aktualisierung-der-tendenzen-zu-krisen-kriegen-und-revolutionen/
19. Für eine Analyse vgl. Sibertin-Blanc, Guillaume, „The War Machine, the Formula and the Hypothesis: Deleuze and Guattari as Readers of Clausewitz“, in Bradley Evans and Laura Guillaume (Hrsg.), Deleuze and War, in Theory and Event, Volume 13, Issue 3, Special Symposium, 2010.
20. Deleuze, Gilles und Guattari, Félix, A Thousand Plateaus, University of Minnesota Press, Minneapolis / London, 2005. S. 421. Eigene Übersetzung,
21. In ihren Ausarbeitungen zur Kriegsmaschine gibt es einen Ausgangspunkt bei den Nomadenvölkern (staatenlose Kriegsmaschinen wie die mongolischen Heere von Dschingis Khan) und eine Übersicht über die verschiedenen Formen der „Eroberung“ des Staates in der Antike und im Feudalismus (z.B. des feudalen Kriegers durch Verschuldung).
22. Das Konzept des „totalen Krieges“ wurde ursprünglich von General Erich Ludendorff (1865-1937) entwickelt, für den strategische Ziele nicht nur Armeen, sondern auch Infrastrukturen, finanzielle Ressourcen, menschliche und moralische „Reserven“ usw. umfassen. Dieses Konzept wurde oft mit dem „absoluten Krieg“ von Clausewitz verwechselt, obwohl es genau das Gegenteil davon ist, aber darauf werden wir später zurückkommen.
23. Deleuze, Gilles und Guattari, Félix, Tausend Plateaus, a.a.O. S. 471. Eigene Übersetzung.
24. Sagte der spanische Schriftsteller Don Juan Manuel im 14. Jahrhundert, der ursprüngliche Autor des Konzepts (zitiert in Halliday, Fred, Génesis de la Segunda Guerra Fría, Mexiko, FCE, 1989, S. 24 Eigene Übersetzung).
25. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, a.a.O., S. 106. Eigene Übersetzung.
26. Ebd., S. 111. Eigene Übersetzung.
27. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric Guerras y capital, a.a.O. Eigene Übersetzung.
28. Der Hintergrund der aktuellen Konstellation geht auf das Jahr 2004 und den Wahlkampf zwischen Viktor Juschtschenko (pro-westlich) und Viktor Janukowitsch (pro-russisch) zurück. Dort kam es zu Betrugsvorwürfen, welche die bereits erwähnte „orangene Revolution“ hervoriefen und schließlich Juschtschenko an die Macht brachten. Dann, 2010, gewann Janukowitsch die Wahlen, und 2013/14 kam es zum Aufstand gegen seine Regierung, der als Euromaidan bekannt wurde (wegen seines Zentrums auf dem Unabhängigkeitsplatz – die Transliteration von „Platz“ ist Maidan – und wegen seines Hauptslogans, dem Beitritt zur Europäischen Union). Der Aufstand wurde brutal unterdrückt und zunehmend von reaktionären und rechtsextremen prowestlichen Kräften übernommen. Nach dem Sturz von Janukowitsch übernahmen prorussische bewaffnete Gruppen die Regierungen von Donezk und Lugansk sowie das Parlament der Krim, einer Region, die Russland schließlich annektierte.
29. Die russischsprachige Minderheit war Ziel von Unterdrückungsmaßnahmen, einschließlich Beschränkungen des Gebrauchs ihrer Sprache und Angriffen von staatlich geförderten rechtsextremen Gruppen.
30. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric Guerras y capital, a.a.O. Eigene Übersetzung.
31. Haass, Richard, „Zehn Lehren aus der Rückkehr der Geschichte“, Neue Zürcher Zeitung, 25.12.2022.
32. Smith, Rupert, The Utility of Force, New York, Alfred Knopf, 2007. Eigene Übersetzung.
33. Vgl. Schmitt, Carl, Der Nomos der Erde, Duncker & Humblot, 2011.
34. Smith, Rupert, The Utility of Force, a.a.O. Eigene Übersetzung.
35. Vgl. Pelli, Geronimo, https://www.laizquierdadiario.com/Apuntes-sobre-la-dimension-informatica-en-la-guerra-el-caso-Rusia-Ucrania
36. Auch diese direkten militärischen Beiträge waren durch zahlreiche Widersprüche gekennzeichnet, was die operative und logistische Kohärenz des gelieferten Materials, die Ausbildung der ukrainischen Armee in ihrem Gebrauch usw. betrifft. Die jüngste Ankündigung der Lieferung eines Kontingents hochmoderner Panzer wie des US-amerikanischen M1 Abrams oder des deutschen Leopard 2 ist ähnlich gelagert. Für eine Analyse, siehe: Maiello, Matías, https://www.laizquierdadiario.com/Algunos-elementos-para-el-analisis-militar-de-la-guerra-en-Ucrania
37. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O. S. 342. Eigene Übersetzung.
38. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, a.a.O., S. 118. Eigene Übersetzung.
39. Ebd., S. 49. EIgene Übersetzung.
40. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric Guerras y capital, a.a.O. Eigene Übersetzung.
41. Vgl. Harvey, David, Der neue Imperialismus.
42. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric Guerras y capital, a.a.O. Eigene Übersetzung.
43. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric Guerras y capital,  a.a.O. Eigene Übersetzung. Mit diesem Thema hat sich Lazzarato in seinem Buch El hombre endeudado eingehend beschäftigt.
44. Lazzarato, Maurizio, Guerra o revolución. Por qué la paz no es una alternativa, a.a.O., S. 61. Eigene Übersetzung.
45. Chingo, Juan, https://www.klassegegenklasse.org/bedeuten-krieg-und-inflation-das-ende-der-neoliberalen-globalisierung/
46. Lazzarato, Maurizio und Alliez, Éric, Guerras y capital, a.a.O., S. 313. Eigene Übersetzung.
47. Dies ist das Szenario, das Ökonomen wie Nouriel Roubini zu der Aussage veranlasst: „Die nächste Krise wird nicht wie die vorangegangenen sein. In den 1970er Jahren hatten wir zwar eine Stagflation, aber keine massiven Schuldenkrisen, weil die Verschuldung niedrig war. Nach 2008 hatten wir eine Schuldenkrise, gefolgt von niedriger Inflation oder Deflation, weil die Kreditkrise einen negativen Nachfrageschock verursacht hatte. Heute sind wir mit Angebotsschocks vor dem Hintergrund einer viel höheren Verschuldung konfrontiert, was bedeutet, dass wir auf eine Kombination aus Stagflation im Stil der 1970er Jahre und Schuldenkrisen im Stil von 2008 zusteuern – d. h. eine stagflationäre Schuldenkrise.“ („A Stagflationary Debt Crisis Looms“, Project Syndicate, 29.6.2022. Eigene Übersetzung.)

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