Angekündigte Frühjahrsoffensive: Wohin steuert der Krieg in der Ukraine?

17.05.2023, Lesezeit 20 Min.
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Eine aktuelle Analyse des Ukrainekriegs und seines bisherigen Verlaufs.

Diese Analyse erschien bereits am 7. Mai 2023 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda. Seitdem zeigen sich bereits erste Anzeichen der angekündigten „Frühjahrsoffensive“. Welche Ausmaße sie annehmen wird, ist jedoch noch unklar, während die Nachrichten täglich von gegenseitigen Verlusten, aber auch von neuen Waffenlieferungen der NATO berichten. Auch wenn die Situation weiterhin flüssig ist, bietet die folgende Analyse einen guten Überblick über die aktuelle Lage und die Perspektiven des Krieges.

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In jedem Krieg sind die Informationen vom Schlachtfeld Teil des Konflikts. Die Ukraine ist da keine Ausnahme. Verschiedenste Nachrichten folgen aufeinander, tauchen auf und verschwinden in regelmäßigen Abständen wieder. In den letzten Tagen hat sich die Kontroverse nach den über Putins Residenz explodierten Drohnen verschärft, wobei Putin Kiew und Washington beschuldigte, einen Angriff durchführen zu wollen. Aber wie ist die allgemeine Situation des Krieges in der Ukraine heute? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir sie zunächst in die Ordnung der aktuellen internationalen Lage einordnen. Der Krieg ist nach wie vor die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Weit entfernt vom Mythos der friedlichen Globalisierung bleibt das imperialistische und kapitalistische System eine reale Massenvernichtungswaffe.

Dabei geht es nicht nur um die Ukraine. Gleichzeitig nehmen die Spannungen zwischen China und den USA zu. Es ist nicht so, dass es in den letzten Jahrzehnten keine Kriege gab. Der Balkan, Irak, Afghanistan und die vielen anderen Orte zeigen das. In einem früheren Artikel mit Emilio Albamonte haben wir analysiert, dass die wichtigste Neuerung des Krieges in der Ukraine, in Bezug auf die Kriegsführung, darin besteht, dass ein zwischenstaatlicher Krieg ausgebrochen ist, an dem Großmächte auf beiden Seiten beteiligt sind, wobei die USA und die NATO als Stellvertreter agieren. Dieser Krieg entspricht nicht mehr den Mustern der vorangegangenen Phase, er markiert die Rückkehr zu „regulären“ militärischen Auseinandersetzung: Die Rückkehr des Krieges als „Feldschlacht mit Menschen und Maschinen“, die die internationale Ordnung entscheidend beeinflussen kann1.

Von der schnellen Invasion zum Zermürbungskrieg

Auf dem Schlachtfeld lassen sich bisher drei Phasen unterscheiden:

1) Eine erste, zu Beginn der Invasion, in der die russische Armee eine Art Blitzkrieg führte. Eine Schlacht in das Innere, einschließlich des massiven Vorrückens von Panzern auf Kiew. Im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, dass Putins damalige Absicht nie darin bestand, die Stadt zu besetzen. Laut geleakten Geheimdienstberichten, deren Autoren später bestraft wurden, pokerte das russische Regime mit einem Zusammenbruch der Regierung Zelenskis. Dazu kam es jedoch nicht. Möglicherweise hat die russische Führung das westliche Engagement unterschätzt und das „gemeinsame Interesse“ des Westens, der globalen Integration Priorität einzuräumen, überschätzt.

2) Eine nächste Phase, die durch den Rückzug aus der Belagerung von Kiew begann und von der Reorganisation und Verlegung russischer Truppen in den Süden und Osten der Ukraine gekennzeichnet war. In dieser Phase des Krieges gelang es den russischen Streitkräften, den wichtigsten Hafen am Asowschen Meer (und im Donbass) zu erobern. Ein Landkorridor zwischen der Halbinsel Krim und den zuvor von Russland kontrollierten Gebieten im Donbass wurde geschaffen. Zeitweilig wurde spekuliert, dass diese Eroberungen nach Westen in Richtung Odessa ausgedehnt würden, um den Korridor mit den russisch kontrollierten Gebieten in Transnistrien zu verbinden.

3) Eine dritte Etappe – oder ein Teil der zweiten, je nachdem, wie man es sieht – wurde mit der Erklärung der Annexion der Gebiete Lugansk, Donezk, Saporischschja und Kherson eingeleitet. Darauf folgte eine ukrainische Gegenoffensive im Gebiet Cherson, die die russischen Truppen an der Südfront auf die andere Seite des Dnepr zwingen sollte. Auch im Raum Charkow an der Ostfront wurden die Streitkräfte Russlands zurückgedrängt. Unter massivem Einsatz der Artillerie auf beiden Seiten kommt es zu einer Schlacht um die Konsolidierung der Stellungen im Osten, in der die Russen eine deutliche Überlegenheit haben. Diese Phase dauert bis heute an.

Es hat sich eine Art „Zermürbungskrieg“ entwickelt. Beide Seiten mobilisierten ihre Infanterie und Artillerie an einer sich über 800 Kilometer erstreckenden Front. Umfangreiche Verteidigungsanlagen aus Schützen- und Panzergräben wurden errichtet. Der Zermürbungskrieg, der sich dem Stellungskrieg stark ähnelt aber nicht deckt, ist in seiner modernen Form durch Verschanzung, Artilleriebeschuss, Angriffe auf gegnerische Stellungen und hohe Kosten für Menschenleben, Ausrüstung und Artillerie gekennzeichnet. Eine erfolgreiche offensive Operation wird dadurch gekennzeichnet, dass die  Verteidiger entlang der Frontlinie stark zurückgedrängt wird. Mit einem „Coup de grâce“ ist kaum zu rechnen. Es wird um jeden Zentimeter gekämpft.

Charakteristisch für diese Art der Kriegsführung ist der Versuch der Kriegsparteien, sich durch die schrittweise Zerstörung von Kriegsgerät und Truppen gegenseitig zu ermüden. Beispiel dafür ist der Kampf um Bachmut, eine Kleinstadt in der Region Donezk. Monatelang hatten die russischen Streitkräfte die Stadt unter Beschuss genommen. Um Block für Block, um Haus für Haus wurde gekämpft. Tausende Soldaten wurden auf beiden Seiten getötet, doch bis heute hat keine Seite die Stadt vollständig unter ihre Kontrolle gebracht. Einigen Quellen zufolge kontrollieren die russischen Truppen – angeführt von Söldnern der Wagner-Gruppe – etwa 70 bis 80 Prozent der Stadt. Was den Krieg insgesamt betrifft, so hat keine der beiden Seiten seit Ende 2022 größere Gebietsgewinne verzeichnen können.

In seinem Buch „Conventional Deterrence“ (Konventionelle Abschreckung) zeichnet John Mearsheimer ein recht anschauliches Bild davon, was Zermürbungsstrategien bewirken:

Eine erfolgreiche Offensive drängt wie ein Bulldozer den Verteidiger buchstäblich auf breiter Front zurück. Flucht und Rückzug wechseln sich ab und zermürben schließlich die Verteidigung. Es wird wenig Wert darauf gelegt, das Äquivalent eines K.O.-Schlags auf dem Schlachtfeld zu erzielen. Stattdessen folgt der Sieg einer Reihe von Einzelgefechten, und es wird nicht erwartet, dass es schnell geht. Der Prozess ist langwierig und der Erfolg stellt sich erst ein, wenn der Verteidiger nicht mehr kämpfen kann. Natürlich wird erwartet, dass der Verteidiger vor dem Angreifer schwächer wird. Da es keine Abkürzungen zum Sieg gibt, scheut ein Angreifer nicht davor zurück, die Stärken des Verteidigers anzugreifen. Stärke wird gegen Stärke ausgespielt.2

Hinter der angekündigten Frühjahrsoffensive stehen noch offene Fragen

Die seit geraumer Zeit angekündigte Frühjahrsoffensive soll nach neuesten Informationen im Mai dieses Jahres beginnen. In den letzten Wochen ist die Südwestfront in einigen Medienberichten wieder in die Aufmerksamkeit gerückt. Ukrainische Spezialeinheiten haben eine Reihe von gezielten Angriffen durchgeführt, sind auf der östlichen Seite des Dnepr gelandet und versuchen, sich in Richtung der russisch kontrollierten Stadt Kherson durchzusetzen. Es wird vermutet, dass diese Aktionen darauf abzielen, eine neue Flanke zu öffnen oder es zumindest andeuten, in der Hoffnung, die anderen Fronten zu entlasten.

Andererseits hätte ein Vorstoß auf Kherson den Vorteil, dass es in Artilleriereichweite der Krim läge, die ein Ziel der ukrainischen Streitkräfte sein könnte.

Die südlich-zentrale Front bei Saporischschja scheint eine der praktikabelsten Kampfalternativen für die „Frühjahrsoffensive“ zu sein, da für die Verlegung der Truppen dorthin keine Überquerung des Dnepr erfordert. Die Alternative, die neu angekündigte Offensive in Richtung der Stadt Melitopol – südlich von Saporischschja und auf dem Weg zum Asowschen Meer – zu konzentrieren, die von den russischen Streitkräften kontrolliert wird, hat sich durch Nachdruck der Streitkräfte ergeben. In diesem Gebiet gibt es nach Angaben des „Instituts für Kriegsforschung“ bereits ukrainische Guerillakasernen. Das zweite Ziel am Kriegstisch wäre das an der südöstlichen Küste des Asowschen Meeres gelegene Berdjansk. Solche Pläne würden darauf abzielen, den breiten südlichen Korridor der russischen Streitkräfte abzuschneiden – was ihre Positionen westlich von Melitopol unhaltbar machen würde – und der Ukraine einen Zugang zum Asowschen Meer eröffnet. Dies bleibt jedoch alles nur Spekulation.

An beiden Fronten haben die russischen Streitkräfte dreifache Verteidigungslinien aus Schützengräben, Drahtzäunen und Panzersperren von jeweils mehr als 100 km Länge und einem Abstand von 15 km zueinander errichtet. Vor diesem Hintergrund könnten die britischen Challenger-2- und deutschen Leopard-2-Panzer, die in die Ukraine geschickt werden, von Nutzen sein. Allerdings würden die geplanten Lieferungen keine nennenswerte Menge darstellen und ihre kontinuierliche  Nutzung erfordert zusätzlich Ersatzteile, Munition und Ausbildung für ihren Betrieb. Im Falle der US-amerikanischen M1 Abrams ist es unwahrscheinlich, dass sie rechtzeitig eintreffen werden. Die ukrainischen Streitkräfte verfügen über hochmobile Artillerie-Raketensysteme (HIMARS), aber auch diese benötigen ausreichende Nachversorgung. Hinzu kommt das Problem, dass für einen solchen Angriff Luftdeckung erforderlich wäre.In jedem Fall sind die Bedingungen, unter denen die Frühjahrsoffensive stattfinden würde, unklar.

Die Zermürbung der Kräfte

Um sich ein vollständiges Bild von den Aussichten zu machen, muss man die bisherigen Ergebnisse des Zermürbungskrieges bewerten. Was die russischen Streitkräfte betrifft, so ist die Ermüdung beträchtlich, sowohl was die geschätzten hohen Verluste betrifft, die noch undurchsichtiger sind als die der Ukraine, als auch im Hinblick auf die Ausrüstung und die logistischen Probleme. Die Streitkräfte der Ukraine haben seit dem letzten europäischen Sommer keine nennenswerten Fortschritte mehr gemacht. Um das Ziel der vollständigen Eroberung der vier formell annektierten Regionen (Lugansk, Donezk, Saporischschja und Kherson) zu erreichen, müsste die Armee die Zahl der Truppen vor Ort erhöhen, also die Rekrutierung zwangsweise intensivieren. Die von Putin im September letzten Jahres angeordnete „Teilmobilmachung“ wurde nur in solchem Ausmaß durchgeführt, dass die Destabilisierung der inneren Front vermieden werden konnte. In dieser Hinsicht bleibt die Stärke der tatsächlichen Einsatzfähigkeit der russischen Armee angesichts des Szenarios einer weiteren Eskalation der Kämpfe unbekannt.

In der letzten Phase könnendie blutigsten Kämpfe in Bachmut, wie bereits erwähnt, zum größten Teil auf die Gruppe Wagner zurückgeführt werden. Dabei handelt es sich um eine private Söldnertruppe, die unter anderem in russischen Gefängnissen zwangsrekrutiert wird und von Jewgeni Prigoschin, einem Oligarchen mit direkten Verbindungen zu Putin, befehligt wird. Mit seinen öffentlichen Auftritten auf dem Schlachtfeld, die im starken Gegensatz zum Rest der militärischen Führung stehen, ist Prigoschin zu einer populären Figur unter den russischen Befürwortern der Invasion geworden. Er war öffentlich mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow aneinandergeraten, als es um die Anforderung von Rüstungsgütern für seine Gruppe ging. Zuletzt drohte er vor wenigen Tagen, seine Truppen am 10. Mai aus Bachmut abzuziehen, wenn er keine Munition erhalte. Er hatte das Oberkommando für Todesfälle unter seinen Truppen verantwortlich gemacht. Es handelt sich um eine interne Angelegenheit, die über die Inszenierung hinaus die Inkohärenz der russischen Streitkräfte und die Vermischung von Söldnertruppen mit der regulären Armee aufzeigt. Andererseits könnte es sich um Produktions- oder Logistikprobleme handeln, die den Hintergrund des Problems bilden.

Auf der anderen Seite der Schützengräben sorgt die im März bekannt gewordene umfangreiche Enthüllung von US-Geheimdienstdokumenten, die den jungen Angehörigen der Massachusetts Air National Guard, Jack Teixeira, belasten, nach wie vor für Aufsehen. Viele der Informationen, die in diesen als „streng geheim“ eingestuften Dokumenten enthalten sind, betreffen Themen, die auf die eine oder andere Weise bereits bekannt sind. Bedeutsam ist jedoch, dass sie in US-amerikanischen Quellen entdeckt wurden. Die Aussichten für die „Frühjahrsoffensive“ wurden düster eingeschätzt. Gewarnt wurde vor der Stärke der verschanzten russischen Verteidigungsanlagen, die zusammen mit „anhaltenden ukrainischen Mängeln bei der Ausbildung und der Munitionsversorgung wahrscheinlich den Fortschritt behindern und die Verluste während der Offensive erhöhen werden“. Gleichzeitig stellte sie fest, dass die Operation wahrscheinlich nur zu „bescheidenen Gebietsgewinnen“ führen werde. Bis heute versuchen US-Beamte, diese Überlegungen zu relativieren. Am Mittwoch argumentierte Außenminister Antony Blinken selbst, dass diese Einschätzungen „einen bestimmten Zeitpunkt“ widerspiegelten, der nicht „statisch“ sei, und dass er größere Möglichkeiten für eine bevorstehende Offensive sehe.

Die Washington Post bestätigte ihrerseits das in diesen Dokumenten gezeichnete Bild durch verschiedene Aussagen ukrainischer Kommandeure, die vor dem Mangel an qualifizierten Truppen warnten. Es sei unmöglich, mit Truppen zu kämpfen, die über keinerlei militärische Erfahrung verfügen und angesichts der überwältigenden russischen Artillerie spontan die Flucht ergreifen. Die Streitkräfte, die über eine gewisse Erfahrung verfügten, wurden entweder getötet oder verwundet. Dies würde mit westlichen Quellen übereinstimmen, die mangels offizieller Zahlen von 120.000 Toten und Verwundeten ausgehen. Zum Vergleich: Einige Analysten schätzen die tatsächliche Kampfkraft der Ukraine zu Beginn des Konflikts auf etwa 130.000 Mann3. Gleichzeitig wurde in Erklärungen von US-Beamten betont, dass die heutige Situation auf dem Schlachtfeld möglicherweise kein vollständiges Bild der Streitkräfte widerspiegelt, da Kiew die Truppen für die bevorstehende Gegenoffensive separat ausbilde und sie bewusst daran hindere, an den aktuellen Kämpfen teilzunehmen. In jedem Fall würde dies nicht ausreichen, um die Gesamtsituation zu ändern.

Der Zermürbungskrieg war zwar für beide Seiten sehr kostspielig, doch aufgrund der Asymmetrie zwischen Russland und der Ukraine wäre das relative Gewicht der Verluste für letztere viel größer. Dieser Vergleich ist von zentraler Bedeutung. Denn obwohl die ukrainischen Streitkräfte umfangreiche westliche Militärhilfe erhalten, werden keine US-Truppen für eine direkte Konfrontation in die Ukraine geschickt. Es handelt sich sowohl für den US-Imperialismus als auch für die NATO also um einen Stellvertreterkrieg. Die Soldaten sowie die Toten und Verwundeten gehören daher zu den ukrainischen Streitkräften. Dennoch: Die Gesamtzahl der russischen Opfer ist nach verschiedenen Schätzungen höher als die der ukrainischen Armee. Jedoch trägt die Ukraine größere Verluste in Proportion zur Heeresgröße.

Druck auf eine stärkere direkte Beteiligung der USA

Tatsache bleibt jedoch, dass in einem Zermürbungskrieg wie diesem, wie Mearsheimer es ausdrückte, „Macht nur so gut sei, wie Stärke“ ( A. d. Ü. ). Sieger wird der, der am besten in der Lage ist, militärische Ausrüstung zu ersetzen und die Rekrutierung zu erhöhen, um den hohen Anteil an Toten und Verwundeten zu absorbieren, den solche Kämpfe mit sich bringen. Selbst in Fällen, in denen die Ermüdungsstrategie letztlich erfolgreich ist, ist sie mit enormen Kosten verbunden. Um einen Zermürbungskrieg zu gewinnen, muss man bereit sein, beträchtliche Verluste und erhebliche Ressourcenverluste in Kauf zu nehmen.

Ohne die anhaltend starke Unterstützung durch die NATO, vor allem aber durch die USA, würde die Kraft ukrainischer Streitkräfte letztlich sofort zusammenbrechen. Schlussfolgernd ergibt sich folgende Frage: Wo liegt die Grenze der Strategie, die ukrainischen Streitkräfte als Stellvertreter für einen Zermürbungskrieg gegen eine Macht wie Russland einzusetzen? Oder anders ausgedrückt: Wo liegen die Grenzen der indirekten Einmischung des US-Imperialismus in einen Krieg, der jenseits aller militärischen Unterstützung ausschließlich von den Kriegsanstrengungen der erschöpften ukrainischen Streitkräfte vor Ort abhängt?

Denn die Ukraine ist selbst für die grundlegendsten Dinge vollständig von westlicher Hilfe abhängig. Die Analyse „Wie sieht die zukünftige Hilfe für die Ukraine aus“ des militärischen Think Tanks CSIS weist auf folgende Punkte hin:

1) Die Anforderungen an einen kontinuierlichen Fluss von Waffen und Munition. So feuert die Ukraine beispielsweise schätzungsweise 90.000 Artilleriegranaten pro Monat ab. Das entspricht in etwa der gesamten Jahresproduktion der USA im Jahr 2021.

2) Ersatzbedarf für verlorene Ausrüstung. Die Ukraine hat – unabhängigen Quellen zufolge – bis Februar 457 der 858 Panzer, 478 von 1.184 Schützenpanzern und 247 von 1.800 Artilleriegeschützen, die sie zu Beginn des Krieges verfügten, verloren.

3) Der Ausrüstungs- und Ausbildungsbedarf der ukrainischen Streitkräfte ist, wie bereits erwähnt, nicht mehr derselbe wie zu Beginn des Krieges. Hinzu kommen alle weiteren Fähigkeiten, die über das für den Kampf notwendige Maß hinausgehen.

Vergleicht man die Kapazitäten Russlands zur Ukraine, sowohl produktiv als auch militärisch, so sind die der russischen Föderation deutlich größer. Die ukrainischen Streitkräfte sind immer stärker auf externe Unterstützung angewiesen, um einen Zermürbungskrieg wie diesen fortsetzen zu können. An diesem Punkt eröffnen sich zwei verschiedene Alternativen. Der US-Imperialismus kann seine Intervention weiterhin vertiefen und auf eine kontinuierliche Schwächung Russlands setzen. Oder er kann für das nächste Jahr ein strategisches Szenario vorbereiten, das die Intensität der Kämpfe verringern soll. Eine Entscheidung, die sicherlich nicht kurzfristig festgelegt wird und möglicherweise bis zu einem gewissen Grad von den Ergebnissen der Frühjahrsoffensive abhängt – wenn diese überhaupt stattfindet. Aber die Diskussion ist im Gange.

Anfang 2023 analysierte der Think Tank Rand Corporation die Alternativen des US-Imperialismus, wenn dieser einen langen Krieg zu vermeiden versucht . Die Schlussfolgerung: Ein Sieg der Ukraine sei sehr unwahrscheinlich. Die Analyse evaluiert dabei auch die Kriegskosten mit den Vorteilen, die eine Verlängerung des Krieges mit sich bringen würden. Als letztes weist sie vor allem die weitere Schwächung Russlands und die Verringerung der Abhängigkeit der US-Verbündeten von Russland hin. Dazu gehören das erhöhte Risiko einer Eskalation mit direkter Beteiligung von NATO-Mitgliedern, der Bedarf der Ukraine an größerer wirtschaftlicher und militärischer Unterstützung, die verringerte Fähigkeit der USA, sich auf andere Prioritäten zu konzentrieren (z. B. China), und die erhöhte Abhängigkeit Russlands von China.

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die USA Maßnahmen ergreifen sollten, um eine Art mittelfristigen Waffenstillstand herbeizuführen, bei dem keine Seite ihre Ansprüche aufgibt, der Konflikt aber gewissermaßen „eingefroren“ wird. Zu diesem Zweck schlägt sie unter anderem eine planvolle und an Bedingungen geknüpfte Unterstützung der Ukraine. Auch wird ein mit ihren Verbündeten abgestimmtes „Sicherheitskonzept“ für die Ukraine vorgelegt, das eine NATO-Mitgliedschaft ausschließt, sowie die Lockerung der russischen Sanktionen. Das zentrale Konzept besteht darin, die Frage der territorialen Kontrolle, die ihrer Ansicht nach für die USA keine wichtige Dimension darstellt, in den Hintergrund zu drängen und die Aufmerksamkeit auf ihre globalen Interessen in diesem Krieg zu richten. Die Schlussfolgerungen der Studie sind jedoch nicht sehr ermutigend, was die Durchführbarkeit eines solchen Ansatzes betrifft, bestätigen jedoch die Notwendigkeit, sich mit diesem Thema zu befassen.

Sicher ist, dass mit zunehmender Dauer des Krieges und zunehmender Zermürbung eine immer stärkere und direktere Beteiligung des US-Imperialismus notwendig wird. Die Grenze zwischen Stellvertreterkrieg und offener Konfrontation mit Russland wird immer schmaler, mit all den damit verbundenen Risiken von Unfällen und Eskalation. Ein kleines Beispiel dafür war der Zwischenfall der US-Drohne MQ-9 Reaper im vergangenen März, nahe der Krim (60 Kilometer vom Hafen von Sewastopol entfernt). Diese wurde von einem russischen Kampfjet abgeschossen, ohne Vorsicht vor möglichen Folgen einer so leichtsinnigen Aktion. Auf diesem schmalen Grat bewegt sich die Zukunft des Krieges.

Die Situation wird immer instabiler. Für den Zermürbungskrieg ist noch kein Ausgang in Sicht. Ein Szenario, das sich noch verschärfen könnte, wenn die „Frühjahrsoffensive“ stattfindet und sich die Kämpfe intensivieren. Wie wir anfangs sagten, ist die Kriegstreiberei der Großmächte in vollem Gange. Die Ukraine ist der Höhepunkt eines umfassenderen Prozesses. Das ist die Perspektive, der wir uns stellen müssen. Deshalb gilt es, gegen jede Positionierung hinter einem der reaktionären „Lager“ im Konflikt und gegen die Illusion einer Lösung des imperialistischen „Friedens“ zu stehen. Sei es durch Europa, China oder andere Mächte. Es muss ein Pol gegen den Krieg in der Ukraine gebildet werden, der die internationale Einheit der Arbeiter:innenklasse mit einer eigenständigen und unabhängigen Politik ausrüstet, sich für den Abzug der russischen Truppen einsetzt und gegen die NATO, gegen die imperialistische Aufrüstung und für eine sozialistische Ukraine der Arbeiter:innen einbringt.

Fußnoten

1. Vgl. Rupert Smith: The Utility of Force, Alfred Knopf, New York 2007.

2. John J. Mearsheimer: Conventional Deterrence, Cornell University Press, Ithaca/London 1985, S. 34. Eigene Übersetzung.

3. Vgl.Grant, Glen: Seven Years of Deadlock: Why Ukraine’s Military Reforms Have Gone Nowhere, and How the US Should Respond, The Jamestown Foundation, Juli 2021.

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