“Revolutionen sind die effektivste Möglichkeit für gesellschaftliche Veränderungen”

04.03.2021, Lesezeit 20 Min.
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Wiki Commons Foto: Geraldo Magela/Agência Senado

Die marxistische Historikerin Raquel Varela ist Expertin auf dem Gebiet der Revolutionsforschung. Im Gespräch beleuchtet sie die Notwendigkeit einer materialistischen Geschichtsschreibung, die Lehren aus der Portugiesischen Revolution für das Gesundheitswesen in der Pandemie und die Bedeutung einer sozialistischen Zukunftsvorstellung.

Lassen Sie uns gleich loslegen und über Revolutionen sprechen. Sie haben ausführlich über die Nelkenrevolution und Revolutionen im Allgemeinen geforscht. Für Linke ist es wahrscheinlich selbstverständlich, warum das ein wichtiges Thema ist, aber in der Akademie ist das nicht so einfach. Warum, würden Sie sagen, ist es wichtig, die Geschichte von Revolutionen zu studieren? Man könnte argumentieren, dass sie nur Ausnahmen von der Regel sind.

Eben weil sie keine Ausnahmen von der Regel sind. Betrachten wir das zwanzigste Jahrhundert, waren Revolutionen die effektivste Möglichkeit für Gesellschaften, sich zum Besseren zu verändern, die effektivste Möglichkeit für radikale Veränderungen. Heute nehmen wir diese Veränderungen als Teil von Evolution und Reformen als selbstverständlich hin, aber das sind sie ganz und gar nicht. Tatsächlich hat der Kapitalismus im zwanzigsten Jahrhundert zwar in einigen Momenten die Möglichkeit gezeigt, das Leben der Mehrheit durch echte Reformen zum Besseren zu entwickeln, doch geschah dies meist aus Angst vor Revolutionen, die anderswo stattfanden, oder um Revolutionen zu verhindern. Revolutionen sind eine Schlüsselfrage für Sozialwissenschaftler:innen und Historiker:innen, wobei ich sagen muss, dass für mich die Frage, warum wir Revolutionen studieren sollten, recht seltsam ist. Die Frage sollte lauten, warum man Revolutionen nicht studiert. Bei Revolutionen geht es um Veränderung, um Transformation. Und das ist die Schlüsselfrage, die sich Gesellschaften stellen: Was haben wir, wie verändern wir uns und was wollen wir?

Normalerweise gibt es die Vorstellung, dass die Akademie ein extrem konservativer Ort ist, an dem es Veränderungen sehr schwer haben. Ich finde, das Gegenteil ist der Fall. Die Akademie stellt sich ständig selbst in Frage, aber das lässt keine gute Entwicklung in der Wissenschaft zu, weil sie immer der Ideologie der herrschenden Klasse hinterherläuft. Im Moment bekommt man keine Fördergelder, wenn man sich nicht mit Gender und Klimawandel beschäftigt. Und natürlich ist keine dieser beiden Fragen im Moment die Hauptfrage in der Welt. Wenn man sich die Frage des Hungers ansieht, wenn man sich die Frage der sozialen Ungleichheit ansieht, wenn man sich die Frage der Arbeitsbedingungen ansieht, wenn man sich die Gründe ansieht, warum Menschen in der Welt, auch in den Industrieländern, sterben, dann liegt das nicht am Geschlecht oder am Klima, und so wird es auch in fünfzig oder hundert Jahren nicht sein. Es hat vielmehr mit den Arbeitsbedingungen zu tun, mit den Löhnen, und damit, wie die Menschen leben, ernährt werden und wie viele Stunden sie arbeiten müssen. Natürlich ist die Geschlechterfrage eine wichtige Frage. Der Punkt ist, wie wichtig sie ist, wenn man sie mit anderen Fragen vergleicht, deren Studium meiner Meinung nach höchst dringend ist: Revolutionen, wie sich die Arbeiter:innenklasse organisiert und wie sie sich nicht organisiert, warum wir Stabilität haben. Das sind wunderbare Fragen: Warum haben die Gewerkschaften heute einen Organisationsgrad von acht bis zehn bis zwanzig Prozent? Warum gibt es in den letzten zwanzig Jahren eine massive Proletarisierung der Mittelschichten und eine Pauperisierung der Arbeiter:innenklasse? Warum ist die westliche Welt ein so stabiler Ort, wie können diese Staaten gleichzeitig so fragil und so solide sein? Wie konnte es zu dieser Konzentration des Reichtums kommen und warum gibt es keine systematischen revolutionären Organisationen der Arbeiter:innenklasse dagegen? Es gibt so viele wichtige Fragen, die wir nicht genug studieren.

Was speziell die Geschichte der Revolutionen angeht, würde ich als Historikerin und als Marxistin sagen, dass ich verstehen will, warum Revolutionen scheitern. Ich möchte verstehen, warum es eine Bürokratisierung der Parteien gibt. Ich will verstehen, was die Verschiebungen sind. Ich will verstehen, was die Rolle der Führungen wirklich ist. Ich will verstehen, wie wir Revolutionen vorhersehen können. Auf all diese Fragen haben wir keine Antworten und doch studieren wir Dinge, die nicht wesentlich sind. Diese Schlüsselfragen, die ich aufgelistet habe, sind hingegen absolut zentral, weil wir zu der Erkenntnis gekommen sind, dass der Kapitalismus unser Leben zerstört. Daran gibt es heute keinen Zweifel mehr. Für was auch immer man ihn verantwortlich macht – der Kapitalismus funktioniert nicht. Doch die Menschen haben Angst vor dem, was in stalinistischen Regimen passiert ist, und das ist eine richtige Angst. Warum diskutieren wir nicht darüber, was Sozialismus ist, was Revolution ist? Wir können nicht alle Prozesse unter Kontrolle behalten, aber wenn wir studieren, was in den vielen revolutionären Prozessen der Vergangenheit passiert ist, könnte das helfen, solche Dinge in der Zukunft zu verhindern. Das wäre eine schöne Aufgabe für die Akademie.

Bei der Geschichte von Revolutionen stellt sich, wie bei der Geschichte im Allgemeinen, immer die Frage, nicht nur ob, sondern wie man sie untersucht. Wenn man an die Nelkenrevolution denkt, vor allem in Deutschland, dann denkt man wahrscheinlich an Soldaten mit Blumen in den Läufen ihrer Gewehre. Nun heißt Ihr Werk A People’s History of the Portuguese Revolution, natürlich in der Tradition der People’s History of the United States von Howard Zinn, ein Begriff, der kaum ins Deutsche zu übersetzen ist, am ehesten vielleicht als Geschichte von unten. Wie unterscheidet sich Ihr Ansatz, diese Revolutionen zu studieren, von traditionelleren Narrativen?

Ich wollte die Geschichte von Menschen untersuchen, die normalerweise nicht in der Geschichte auftauchen. Ich wollte also nicht die Geschichte von Regierungen oder Zentralkomitees schreiben, obwohl ich glaube, dass Parteien eine wichtige Erklärung für Revolutionen sind. Aber in diesem Buch wollte ich die Arbeiter:innen an der Basis studieren. Es gibt immer noch die Vorstellung, dass die Menschen chaotisch sind und in einer Revolution tierisch werden. Das ist teilweise wahr. Eine Revolution ist ein Prozess der chaotischen Spaltung, weil der Staat nicht mehr herrscht – das ist die Definition der Revolution. Der Staat kann nicht mehr herrschen, und das bezieht sich nicht nur auf seine Fähigkeit zur Repression. Die Sowjets in der russischen Revolution entwickelten sich, weil sie dem Volk Nahrung und Strom gaben. Sie organisierten das Leben des Volkes, genau wie in der portugiesischen Revolution. Die Arbeiterkommissionen in der portugiesischen Revolution entwickelten sich in den Krankenhäusern, weil es dort keine Führung gab, die sie organisieren und die Gesundheitsversorgung sicherstellen konnte. In den Sowjets geht es also immer um Bedürfnisse. Dieser Prozess ist chaotisch, weil die Arbeiter:innen normalerweise keine Entscheidungen treffen. In einer Revolution aber müssen sie plötzlich Entscheidungen treffen.

In der People’s History habe ich mich nicht mit allen Menschen beschäftigt, ich habe nicht etwa die reaktionären Menschen studiert. Das ist ein wunderbares Konzept für einen Buchtitel, aber was Howard Zinn gemacht hat und worin ich ihm gefolgt bin, war, die revolutionären Menschen zu studieren. Ich wollte zeigen, wie diese Menschen, obwohl sie in Portugal 48 Jahre lang völlig außerhalb jeder politischen Entscheidungsfindung gestanden hatten und nichts über Politik wussten, plötzlich den Staat mit einer viel größeren Effizienz ersetzen konnten.

Ich ging in die Schulen, in die Krankenhäuser, in die Archive, ich ging in die Theater, in die Musikzentren und in die Nachbarschaften, um zu verstehen, wie Menschen einen neuen Staat schaffen. Ich denke, in diesem Moment können wir das Gegenteil der Theorie sehen, dass Menschen zu Tieren werden. Man kann vielmehr sehen, wie sich Menschen schnell verändern können, wenn sie am Arbeitsplatz zusammenkommen. Und warum? Weil sie vielleicht nichts über Politik wissen, aber sie treten in diesem Moment durch ihren Arbeitsplatz und ihre Nachbarschaft, die sie sehr gut kennen, in den Prozess ein. Sie kennen diese Orte nicht auf bewusste oder theoretische Weise, aber sie kennen sie auf eine extrem praktische Weise. Wenn sie also in diesen Prozess eintreten, entsteht das Gegenteil von Chaos. Inmitten des Chaos, das der Staat hinterlassen hat, können sie sich auf eine Art und Weise organisieren, die absolut überraschend ist und die Gesellschaft dramatisch zum Besseren verändert. Das ist mein hauptsächlicher Punkt.

Es ist ein Prozess der Leidenschaft und der Bezauberung. Ich habe die Dokumente darüber gelesen, wie Ärzte ein Krankenhaus besetzten, das völlig leer war, und innerhalb von zwei Wochen begannen, jeden zu versorgen, ohne Papiere, ohne Bürokratie, ohne niedergeschriebene Regeln. Hier geht es um Demokratie. Die Leute glauben, dass es bei der Demokratie um das Wählen geht, und ich bin da anderer Meinung. Ich glaube, dass das Wählen nur ein kleiner Teil der Demokratie ist. Der größte Teil der Demokratie besteht darin, wie man die Macht und das Wissen gemeinsam ausübt, und das ist natürlich am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft auf demokratische Weise. Das ist es, was in den Sowjets in allen Revolutionen unter verschiedenen Namen geschah: die Arbeiterkommissionen, die Arbeiterräte in Budapest und so weiter und so fort. Sowjets werden spontan geboren, um gemeinsame Probleme zu lösen; sie werden nicht geboren, um für den Sozialismus zu kämpfen. Und sie fangen sofort an, auf eine unglaublich demokratische Art und Weise zu arbeiten, nämlich: Jeder wählt, man wählt einen Vertreter und dieser Vertreter muss das, wofür er gewählt wurde, ausführen, sonst wird er ersetzt. Das ist ein widerrufbares Mandat. Es ist ein erstaunlicher Prozess. Er zeigt die ganze Fähigkeit der Menschen, ihre Angelegenheiten zu regeln und eine wunderbare Welt aufzubauen. Das ist der Grund, warum ich Revolutionen studiere.

Und natürlich ist das ein sehr viel demokratischerer Prozess als das derzeitige System.

Natürlich! Eine Basisdemokratie ist das Gegenteil einer paternalistischen Behandlung der Arbeiter:innen. Heute sagt man ihnen: „Natürlich dürft ihr euren Tarifvertrag diskutieren, aber die nationale Politik dürft ihr nicht bestimmen.“ Das ist lachhaft. In Portugal gibt es beispielsweise einen Minister für Meeresangelegenheiten, der über die Angelegenheiten der Hafenarbeiter:innen entscheidet. Das ist das Gegenteil von Demokratie. Stattdessen müssen wir die Entscheidungen aller Menschen zusammenführen, um einen nationalen Plan auszuarbeiten – allerdings von unten, nicht von oben.

Ich würde gern zu einem der Beispiele aus der Portugiesischen Revolution zurückkehren, das Sie angesprochen haben: die Besetzung der Krankenhäuser. Während der Pandemie haben wir gesehen, wie auf dem Höhepunkt der Krise Krankenhäuser leer standen, während ringsum Menschen starben. Worin besteht ihrer Meinung nach die Relevanz solcher historischer Beispiele aus der Nelkenrevolution für die politischen Antworten, die heute nötig sind?

Ich denke, wir können daraus lernen. Portugal hat sich innerhalb von 25 Jahren vom europäischen Schlusslicht in Sachen Kinder- und Müttersterblichkeit – ein reiner Albtraum! – zum zwölftbesten Gesundheitssystem der Welt entwickelt. Die Grundlage dafür wurde in der Revolution gelegt. Damals wurde das Gegenteil von dem getan, was heute getan wird. Zuallererst wurden die privaten Krankenhäuser besetzt und alles wurde einem einheitlichen, geplanten Gesundheitssystem unterstellt. In der ganzen Welt, in den USA ebenso wie in Portugal, sehen wir heute leerstehende Krankenhäuser. Das war die kapitalistische Antwort auf diese Pandemie. Statt einer Übernahme des privaten Sektors gab es eine mittelalterliche Ausgangssperre, das heißt einen Lockdown. Die einzige Möglichkeit, um mit einer Pandemie umgehen zu können, einem Ausnahmefall der viele Menschen in die Krankenhäuser bringt, besteht jedoch darin, genug Menschen zu haben, die sich um die Kranken kümmern können.

1974/75 wurden private Krankenhäuser, die zuvor vor allem von der Kirche kontrolliert worden waren, besetzt. Ärzt:innen wurden verpflichtet, in der staatlichen Gesundheitsversorgung zu arbeiten. Dort bekamen sie feste Verträge und gute Gehälter. Das zog die besten Ärzt:innen an. Die Krankenhäuser wurden unter die Kontrolle von Kommissionen gestellt, die von den Ärzt:innen, Pfleger:innen und den Angestellten in der Technik und Verwaltung gewählt wurden. Diese Kommissionen wählten wiederum den Leiter und zu Beginn auch die Verwaltung. Und die Dinge funktionierten sofort! Die politischen Entscheidungen, die heute getroffen werden, sind im Gegensatz dazu neoliberale Entscheidungen. Sie erscheinen den Bürger:innen jedoch als wissenschaftlicher Konsens: Der Lockdown ist die einzige Möglichkeit. Ich denke, die Frage der Organisation des Gesundheitswesens ist hier essenziell. Wir müssen die Menschen an den Arbeitsplätzen dazu anhören, nicht nur im Gesundheitswesen, sondern im ganzen Land. Es geht nicht an zu entscheiden, dass Kinder und Jugendliche für ein Jahr nicht spielen und keinen gesellschaftlichen Umgang haben sollten. Von Wygotski und der guten Neuropsychologie der Sowjetunion wissen wir ebenso wie von der heutigen, hochentwickelten Neuropsychologie der Vereinigten Staaten, dass der Körper auf einen Mangel an sozialen Beziehungen auf dieselbe Weise reagiert wie auf Hunger. Wir sind soziale Wesen. Wir können nicht weggesperrt werden. Die einzige Antwort ist stattdessen, massiv in Menschen zu investieren. Doch was war die Antwort der Europäischen Union? Sie hat neue Maschinen gekauft, obwohl offensichtlich war, dass stattdessen Pfleger:innen, Techniker:innen und Ärzt:innen gefehlt haben. Man kann genug Maschinen, genug Beatmungsgeräte haben, aber wer soll damit arbeiten?

Das Gesundheitssystem in vielen europäischen Ländern steht kurz vor dem Zusammenbruch – nicht etwa aufgrund eines Mangels an Maschinerie, sondern aufgrund des Personalmangels. Beschäftigte aus dem Gesundheitssektor sagen seit Jahren, dass ihre Löhne zu niedrig und ihre Arbeitszeiten zu lang sind, dass Menschen aus dem Job aussteigen, weil sie ihn nicht länger ertragen. Nun zahlen wir hierfür den Preis.

Viele steigen aus und gehen stattdessen in den privaten Sektor. Die einzige Möglichkeit, sie für den öffentlichen Sektor zurückzugewinnen, sind gute Löhne und eine Karriere. Nirgends auf der Welt hat der private Sektor die Pandemie überwunden. Warum gibt es so viele Tote in Brasilien und den USA? Weil es dort keinen starken öffentlichen Sektor im Gesundheitswesen gibt. In Portugal haben während der Pandemie private Krankenhäuser geschlossen. Das sind Läden, keine Krankenhäuser.

Wir haben nun viel über aktuelle Fragen gesprochen und in Portugal sind Sie in der Tat nicht nur Historikerin, sondern eine mediale Figur. Sie treten im Fernsehen auf, schreiben für die großen Tageszeitungen. Aus einer deutschen Perspektive erscheint das recht überraschend. Hier gibt es keine linken Intellektuellen im Fernsehen, von marxistischen Intellektuellen ganz zu schweigen. Außerdem sind Sie in der Gewerkschaftsbewegung aktiv. Wie passt all das für Sie zusammen?

Ich denke, es sind alles Teile eines Ganzen, um ehrlich zu sein. Ich habe mich nie als Akademikerin verstanden. Ich würde es so formulieren: Ich will über die Arbeiter:innen für die Arbeiter:innen mit den Arbeiter:innen arbeiten. Mein Engagement in den Gewerkschaften versteht sich da von selbst. Meine Auftritte in den Medien sind schwieriger zu erklären. Auch in Portugal ist das nicht gewöhnlich. Es ist gewissermaßen ein Epiphänomen. Doch wir bräuchten viel mehr davon. Ich denke, ein Grund, warum die offiziellen Medien gegenüber den sozialen Netzwerken an Relevanz verlieren, ist, dass man dort immer mehr verlässliche Information und gute Analysen findet. Die Medien hingegen kennen immer mehr nur noch eine einzige Stimme. Es kommen dort viele Leute zu Wort, doch am Ende vertreten sie alle dasselbe. Das ist ein großes Problem, weil die Kontrolle der Medien der Demokratie widerspricht. Es ist für mich völlig in Ordnung, wenn mir Leute widersprechen. Meistens hilft es mir dabei dazuzulernen. Ich halte die Idee der Kritik für eine der wundervollsten Ideen, die wir haben. Ich halte jedoch nichts davon, kritische Meinungen zu unterdrücken. Wir haben das in der Pandemie immer wieder beobachten können und beobachten es noch immer. Ernsthafte Wissenschaftler:innen wurden wie Coronaleugner:innen behandelt, weil sie die Maßnahmen der Regierungen kritisiert haben. Die Wissenschaft ist ein widersprüchlicher Prozess. Ich kann auch den Begriff „wissenschaftlicher Konsens“ nicht ausstehen. Was ist ein wissenschaftlicher Konsens? Wir sind heute hier, weil eine Handvoll Menschen im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen gelandet sind, weil sie gegen einen „wissenschaftlichen Konsens“ waren.

Dasselbe gilt für meine öffentlichen Auftritte. Die Hälfte der Menschheit hat keinen Zugang zu Wasser und/oder Seife, die stärksten Mittel gegen die Verbreitung des Virus. Und dennoch sind kaum kritische Figuren im Fernsehen, die in Frage stellen, warum wir genug Flugzeuge haben, aber keine Seife. Es ist so offensichtlich geworden, dass wir dem Kapitalismus kritisch gegenübertreten müssen. Wenn das Fernsehen diesen Stimmen keinen Raum gewährt, werden sie in anderen Kommunikationsformen auftauchen.

Ich würde gern zu der Frage der Verbindung zwischen Geschichte und Politik zurückkehren. Ihr kanadischer Kollege Bryan Palmer hat einmal in einer von Ihnen herausgegebenen Zeitschrift geschrieben: „Geschichte ist wichtig, weil sie alles ist, was wir als historische Materialist:innen in unserem Versuch haben, die Gegenwart als das Rohmaterial einer sozialen Transformation zu begreifen.“ Er adressiert hier die Verbindung zwischen Geschichte und Transformation, wo aber liegt ihrer Meinung nach diese Verbindung zwischen der Geschichte und einer möglichen sozialistischen Zukunft?

Bryan Palmer ist ein hervorragender Historiker und ich verfolge seine Ideen, seine Artikel und Bücher, sehr genau. Von ihm stammen wundervolle Bücher über James P. Cannon und den Streik der Transportarbeiter in Minneapolis.1 Um zu meinem ersten Beispiel zurückzukehren: Wir können den Sozialismus nicht wirklich voraussehen, aber wir können durch die Geschichte sehen, was gut und was schieflief, um uns wenigstens eine Ahnung davon zu geben, was wir in Zukunft gebrauchen können und was nicht. Oliver Sacks, ein Neurologe in den USA, der sehr gute Bücher zur wissenschaftlichen Verbreitung seines Faches geschrieben hat, hatte einmal einen Patienten ohne Gedächtnis. Er musste in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht werden. Dabei hatte er keine weiteren Probleme außer seiner fehlenden Erinnerung. Er konnte sich nicht daran erinnern, wer er war, also konnte er nicht leben. Das ist für mich die stärkste Metapher für die Rolle der Geschichte. Als soziale Wesen sind wir auch historische soziale Wesen. Unsere Kenntnis der Vergangenheit ist die Kenntnis darüber, wer wir heute sind. Ich kann mich an einer Weggabelung nicht für einen der Pfade entscheiden, wenn ich keine Ahnung habe, was dort liegt. Diese Ahnung verleiht uns die Geschichte.

Ich denke, wir haben nicht genug über den Sozialismus nachgedacht und ich denke, das müssen wir tun. Was ist Sozialismus? Was ist Utopie? Wir hören immer wieder, dass die Utopie ein Ort ist, zu dem wir streben, den wir aber nie erreichen. Man geht, aber weiß nicht so recht wohin. Ich denke nicht, dass das stimmt. Als bewusste Menschen sind wir durch unsere sozialen Beziehungen bestimmt, in denen die Arbeit die hauptsächliche Rolle spielt. Sie hat unsere Sprache entwickelt. Und wir waren nur deshalb dazu in der Lage uns so zu entwickeln, weil wir Vorstellungskraft besitzen. Ernest Mandel hat dazu einen wundervollen Text geschrieben – ich war zwar nie Mandelistin, aber ich denke, in gewissen Kontexten sollte man Mandel zitieren.2 Er schreibt darin, das wir nicht nur homo sapiens sind, also der vernünftige Mensch, sondern auch homo faber, der schaffende Mensch. Wir sind jedoch genauso sehr homo imaginosus, der Mensch voller Fantasie. Wir stellen uns Dinge vor, wir denken voraus, wir planen die Zukunft. Ich denke, das muss Teil einer sozialistischen Mobilisierung sein. Menschen kann man nicht mit einer Forderung von einem Zehn-Euro-Mindestlohn bewegen. Das genügt nicht.

Das Gegenteil hat der Stalinismus behauptet. Das Problem des Stalinismus bestand darin, dass es sich dabei um eine konterrevolutionäre Diktatur handelte, die die Grundlagen der Demokratie zerstört hat. Er schuf folgerichtig einen Neuen Menschen, einen sogenannten Stachanow, basierend auf der wissenschaftlichen Rationalität der Arbeit. So jemand würde man in seinem Leben niemals sein wollen. Es ist ein imaginärer Kerl, der wie der Teufel arbeitet, mit Muskeln bepackt ist und niemals die Fabrik verlässt. Das ist das Gegenteil des Sozialismus. Wir sollten uns den Sozialismus stattdessen so vorstellen, wie ihn William Morris in seinem Roman Kunde vom Nirgendwo beschrieben hat. Es geht um die Verkürzung der Arbeitszeit, damit jeder Musik und Poesie lernen kann, damit man jeden Tag Liebe machen kann, weil man nicht mehr erschöpft ist. Es geht darum, einen Mann lieben zu können, nicht weil man sich eine Wohnung teilen muss und kein eigenes Geld hat, sondern weil man ihn lieben möchte. Es geht um freie Liebe. Sozialismus heißt zur Universität zu gehen, um über die besten Lösungen für die drängendsten Probleme der Gesellschaft nachzudenken und sich nicht mehr um seinen Arbeitsplatz sorgen zu müssen. Im Sozialismus geht es um unser Sozialleben, das heute vollkommen verarmt ist. Der Kapitalismus hat isolierte Menschen aus uns gemacht. Deshalb sind Depressionen die größte Krankheit in westlichen Ländern. Die Leute sind jeden Tag allein. Auf der Arbeit sind sie allein, weil sie in Konkurrenz zueinander stehen. Und zuhause ist die Familie der letzte Moment, in dem sie etwas Kooperation finden. Doch die Familie genügt nicht, um jemanden glücklich zu machen. Wir brauchen ein Gemeinschaftsleben. Viele Menschen leben heutzutage mit Hunden und Katzen. Darüber müssen wir ehrlich sprechen. Warum? Weil Kinder und ein Sozialleben Teil unserer Gemeinschaft sein sollten. Warum kümmern wir uns nicht gegenseitig um unsere Kinder? Warum leben wir kein gemeinschaftliches Leben? Natürlich sollte jeder Anspruch auf eine eigene Wohnung haben, das ist schließlich persönliches Eigentum, kein Privateigentum. Jeder muss mit Rechten versehen sein, die für mich unverrückbar sind. Das ist eine weitere Diskussion, die über den Sozialismus zu führen ist. Wir können keine einzige Ausnahme von demokratischen Rechten hinnehmen – nicht nachdem, was der Stalinismus angerichtet hat. Manche Feministinnen wollen die Strafbarkeit von Männern umkehren, das soll heißen, wenn man eine Anzeige macht, ist der Mann schuldig, Das können wir nicht tun. Wir können stattdessen den Frauen jede Möglichkeit geben, sich zu schützen und vor Gericht zu ziehen. Doch wir können kein Gesetz erfinden, das gegen demokratische Rechte geht. Die Linke muss damit sehr vorsichtig sein. Individuelle Freiheiten, die die Bourgeoisie geschaffen hat, sind der Anfang unserer Demokratie – wir brauchen sie nicht zu zerstören. In der Hegelschen Dialektik geht es nicht um Zerstörung, sondern um Aufhebung. Wir müssen diese Rechte verbessern. Das also ist der Sozialismus für mich. Das ist, wo ich leben möchte.

Raquel Varela ist Historikerin und lehrt derzeit an der Universidade Nova de Lisboa. Sie war Gastprofessorin an der Universidade Federal Fluminense im Bundesstaat Rio de Janeiro und Fellow am Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam. Ihr Buch A People’s History o the Portuguese Revolution erschien in englischer Übersetzung 2019 bei Pluto Press.

Fußnoten

1. Bryan Palmer (2008): James P. Cannon and the Origins of the American Revolutionary Left, 1890-1928, University of Illinois Press, Champaign; Ders. (2016): Revolutionary Teamsters. The Minneapolis Truckers’ Strikes of 1934, Brill, Leiden.
2. Ernest Mandel (2002): Anticipation and Hope as Categories of Historical Materialism, in: Historical Materialism 10/4, S. 245-259.

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