Kurt Tucholsky schreibt an einen Bonzen

23.05.2017, Lesezeit 2 Min.
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Die SPD war einst eine Arbeiter*innenpartei. Nun leben die Führer*innen von SPD, Linkspartei und Gewerkschaften wie kleine Kapitalist*innen. 1923 hat der sozialistische Autor Kurt Tucholsky einen Brief an einen Bonzen geschrieben, um diesen daran zu erinnern, wo er herkommt.

Vor mehr als 150 Jahren ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands von Arbeiter*innen gegründet worden. Am Samstagmorgen vor dem Hotel Estrel konnte man bestaunen, wie weit die SPD es geschafft hat: Die Sozialdemokrat*innen wurden in dicken Audis von Chauffeuren vorgefahren. Die Arbeiter*innen standen auf der anderen Straßenseite und protestierten.

Dabei musste ich an ein Gedicht vom sozialistischen Autor Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1923 denken. Er schrieb „an einen Bonzen“:

An einen Bonzen

Einmal waren wir beide gleich.
Beide: Proleten im deutschen Kaiserreich.
Beide in derselben Luft,
beide in gleicher verschwitzter Kluft;
dieselbe Werkstatt – derselbe Lohn –
derselbe Meister – dieselbe Fron –
beide dasselbe elende Küchenloch …
Genosse, erinnerst du dich noch?

Aber du, Genosse, warst flinker als ich.
Dich drehen – das konntest du meisterlich.
Wir mußten leiden, ohne zu klagen,
aber du – du konntest es sagen.
Kanntest die Bücher und die Broschüren,
wußtest besser die Feder zu führen.
Treue um Treue – wir glaubten dir doch!
Genosse, erinnerst du dich noch?

Heute ist das alles vergangen.
Man kann nur durchs Vorzimmer zu dir gelangen.
Du rauchst nach Tisch die dicken Zigarren,
du lachst über Straßenhetzer und Narren.
Weißt nichts mehr von alten Kameraden,
wirst aber überall eingeladen.
Du zuckst die Achseln beim Hennessy
und vertrittst die deutsche Sozialdemokratie.
Du hast mit der Welt deinen frieden gemacht.

Hörst du nicht manchmal in dunkler Nacht
eine leise Stimme, die mahnend spricht:
»Genosse, schämst du dich nicht –?«

Quelle: Die Weltbühne, 6. September 1923

Seit 1923 hat sich einiges verändert. Die Bonzen, die in der SPD, der Linkspartei und unseren Gewerkschaften das Sagen haben, sind inzwischen viel reicher geworden. Aus unseren Mitgliedsbeiträgen gönnen sie sich Löhne, mit denen sie „auf Augenhöhe“ mit dem Kapital verhandeln können (O-Ton Frank Bsirske). Sie leben wie Manager*innen.

Und während früher die Bürokrat*innen aus unseren Reihen rekrutiert wurden, sind es jetzt immer mehr Politik-Studis, die noch nie einen Betrieb von innen gesehen haben, die die Sozialdemokratie anführen oder in unseren Gewerkschaft das Sagen haben. Naja. Die Frage von Tucholsky ist trotzdem aktuell. Genosse, schämst du dich nicht?

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