Existieren Rassismus und Kapitalismus unabhängig voneinander?

20.10.2017, Lesezeit 5 Min.
Gastbeitrag

Am Mittwoch besuchten einige Dutzend Interessierte einen Vortrag zur Einführung in die materialistische Rassismuskritik, der im Rahmen der kritischen Orientierungswoche an der HU stattfand.

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FOTO TAGESSATZ Frankfurt: Ex-Pegida-Anhänger um Heidi Mund von Freie Bürger und Gegendemonstranten demonstrieren auf dem Rossmarkt. Bei gewaltsamen Rangeleien setzt die Polizei Pfefferspray ein und es gibt Festnahmen. Foto aufgenommen am: 11.04.2015 Foto: Rolf Oeser

Nicht selten wird angenommen, dass Marxismus und Antirassismus wie zwei entfernte Brüder sind, die schon lange in Theorie und Praxis nichts mehr miteinander zu tun hätten. Doch weit gefehlt.

Denn der Vortrag hatte als Zweck, das verbreitete Vorurteil zu widerlegen, dass die marxistische Methode nicht zur Erklärung von Unterdrückungsformen wie Rassismus und Sexismus geeignet sei.

Stattdessen sei ein falsches Verständnis von Rassismus verbreitet, dass ihn auf ein Vorurteil reduziere, dessen Wirkung primär durch die Sprache vermittelt werde. Entgegen dieser Auffassung müsse Rassismus als Bestandteil der kapitalistischen Ausbeutung begriffen werden.

Warum aber sollte die Grundlage der Kritik bei Marx zu suchen sein?

Schon 1844 formulierte er den „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung). Dieses Vorhaben schließe logischerweise auch Rassismus als solches Verhältnis mit ein.

Im Folgenden fand ein Exkurs zum Thema Materialismus statt:

Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (Zur Kritik der Politischen Ökonomie)

Es ist also unmöglich, dass eine Idee oder Vorstellung existieren kann, die vollkommen von dem, was in der Gesellschaft geschieht, unabhängig ist: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte). Rassismus müsse folglich stets im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffen werden.

Die maßgebliche Wurzel des Rassismus sei im Kolonialismus zu suchen, dessen primärer Grund wirtschaftliches Interesse gewesen sei – entgegen einer verkehrten Vorstellung, die als Grund für den Kolonialismus einen bereits vorher existierenden Rassismus ausmacht. Die im Zuge der Kolonisierung stattfindende gewaltsame Enteignung beschreibt Marx im 24. und 25. Kapitel des Kapitals als Grundlage der ursprünglichen Akkumulation, der ersten großen Anhäufung von Kapital – die Reichtümer der Kolonien und die dort ausgebeutete Arbeitskraft stellte einen Motor für den europäischen Kapitalismus dar.

In den Kolonien herrschte im Gegensatz zu den Metropolen nicht einmal der Schein von Menschenrechten, sondern ein offenes Gewaltverhältnis und damit eine Differenz zwischen offener und verschleierter Ausbeutung. Das kolonisierte Subjekt, zur bloßen Reproduktion gezwungen, mit einer eigenen zerstörten Kultur und nicht in der Lage, diese zu praktizieren oder am bürgerlichen Kulturleben teilzuhaben, wird so aus der bürgerlichen (menschlichen) Gesellschaft ausgeschlossen.
Rassismus erweist sich so als funktional für die kapitalistische Ausbeutung, indem Arbeitsbedingungen geschaffen und aufrechterhalten werden, die buchstäblich nicht menschlich sind.

Gleichzeitig reiche Rassismus als Rechtfertigungsideologie über die Sphäre der Ökonomie hinaus. Die Ungleichheit werde anhand von „Markern der Differenz“ rationalisiert, in diesem Fall die Hautfarbe. Die psychologischen Aspekte umfassen ein Interesse an der „Rassenhierarchie“, um die eigenen Privilegien zu sichern, Dehumanisierung und Empathieunfähigkeit und Entsolidarisierung. Der Rassismus kann aber auch in irrationalen Hass umschlagen. Als Beispiel für die irrationale Dimension wurde eine dem Genozid an den Herero und Nama vorgestellte Diskussion angeführt. Das Argument, ihre Arbeitskraft auszunutzen und sich daran zu bereichern wurde dem Vernichtungsinteresse gegenübergestellt.

Heute existiere ein Neo-Rassismus, der anstatt mit Rasse mit Kultur und Migration argumentiere, also ein „Rassismus ohne Rassen“. Dessen historischer Ursprung liege in der Arbeitsmigration nach Deutschland. Bis in die 70er Jahre seien die Migrant*innen mehr oder weniger toleriert worden.

Durch ihren dauerhaften Aufenthalt hätte sich allerdings eine gewisse Konkurrenz unter Migrant*innen und Deutschen entwickelt, die Migrant*innen wiederum wurden für soziale Probleme zur Verantwortung gezogen. In den 80er/90er Jahren ist die rassistische Gewalt immer mehr eskaliert.

Es handle sich demzufolge nicht einfach um eine Kontinuität des alten Rassismus, sondern vielmehr um ein neues Verhältnis auf einer neuen materiellen Grundlage. Rassismus müsse als „Ausschluss durch Einbeziehung“ verstanden werden.

Auf dieser Grundlage wurde richterweise klargestellt, dass es nicht einfach damit getan ist, rassistische Argumente mit Fakten zu widerlegen, da die rassistische Ideologie eine andere Ursache hat. Auch die Reduktion auf individuelle Einstellungen sei neoliberal und führe politisch in eine Sackgasse: Der strukturelle Rassismus kann so nicht anders begriffen werden, außer als bloße Summe einzelner falscher Einstellungen. Für antirassistische Kämpfe eine weitreichende Konsequenz, steht hier doch der revolutionäre Kampf der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen der pädagogischen Aufklärung gegenüber.

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