Ein marxistischer Feminismus für eine Welt in der Krise

20.12.2021, Lesezeit 10 Min.
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Arbeiterinnen von Madygraf, feministische Sozialistinnen. Foto: Enfoque Rojo.

Welche Strategie kann einen Ausweg aus der Pandemie und dem Kapitalismus aufzeigen? Brot und Rosen bei der IV. Internationalen Marxismus-Feminismus-Konferenz

Vom 11. bis 13. November fand die IV. Internationale Marxismus-Feminismus-Konferenz statt, mit der Teilnahme von namhaften linken und marxistischen Feministinnen wie Silvia Federici, Nancy Fraser, Frigga Haug und Tithi Bhattacharya. Bei der Konferenz, die aufgrund der pandemischen Lage als Onlineformat organisiert wurde, debattierten auch Genossinnen der internationalen sozialistisch-feministischen Organisation Brot und Rosen (Pan y Rosas) auf einem Podium über revolutionäre Strategie angesichts einer Welt in der Krise.

Während der Konferenz wurden verschiedene Themen behandelt, wie die Krise der sozialen Reproduktion und die globale Krise des Kapitalismus, die Beziehung zwischen Patriarchat und Kapitalismus, sowie verschiedene Überlegungen zur Interaktion zwischen Geschlecht, Klasse und race. Erfahrungen mit Frauenkämpfen und politische Überlegungen zur extremen Rechten sowie zum sogenannten Linkspopulismus wurden ebenfalls thematisiert. In diesem Rahmen stellte der Workshop der Brot und Rosen-Genossinnen einen Versuch dar, für einen klassenkämpferischen und revolutionären Feminismus zu streiten, der nicht nur bei der Analyse der Beziehung von Geschlecht und Klasse stehen bleibt, sondern auch eine hegemoniale Strategie der Arbeiter:innenklasse vorschlägt. Ein Feminismus, der unabhängig von allen Varianten von Staat, Kapital und Bürokratie ist und sich nicht zum Anhängsel reformistischer Projekte der Verwaltung des Kapitalismus macht.

Im vorliegenden Klasse Gegen Klasse Magazin #8 haben wir die Beiträge des Podiums der Brot und Rosen-Genossinnen Cynthia Burgueño und Josefina Martínez aus dem Spanischen Staat, Andrea D’Atri aus Argentinien, Diana Assunção aus Brasilien und Alejandra Decap aus Chile übersetzt, um sie einem deutschsprachigen Publikum zur Verfügung zu stellen. An dieser Stelle wollen wir einige Elemente hervorheben, die aus unserer Perspektive für die Debatte in Deutschland fruchtbar zu machen sind.

Eine „progressive“ Regierung in Deutschland?

Nach 16 Jahren wurde Angela Merkel als Bundeskanzlerin Anfang Dezember von Olaf Scholz als Kanzler der „Fortschrittskoalition“ aus SPD, FDP und Grünen abgelöst. Gleichzeitig hat uns seit nun fast zwei Jahren die Coronavirus-Pandemie im Griff – eine gefühlte Ewigkeit –, während die Regierungen weltweit die Profite der Konzerne priorisieren. Die Arbeiter:innen setzen im Gesundheitssystem weiterhin ihre Körper und Leben ein, während häusliche Gewalt, Betreuungskrise, Prekarisierung und die doppelte Arbeitslast der Frauen in der Pandemie zugenommen haben.

Die „Fortschrittskoalition“ soll nun das richten, was der Großen Koalition nicht gelungen ist, mit Karl Lauterbach als neuem Gesundheitsminister an federführender Stelle. Die Ampel schlägt außerdem eine Reihe von Verbesserungen vor, die einen gesellschaftlichen „Aufbruch“ in eine neue Zeit einläuten sollen. Darunter nicht zuletzt die längst überfällige Streichung des §219a StGB, der Ärzt:innen für Informationen über Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert, oder die angekündigte Ersetzung des viel kritisierten Transsexuellengesetzes durch ein Selbstbestimmungsgesetz. Auch die alt-neue rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin verspricht „Emanzipation und Selbstbestimmung von Frauen“.

Können Feminist:innen sich nun also auf „progressive“ Regierungen freuen, deren Minister:innenposten erstmals paritätisch besetzt sind? Wie fortschrittlich kann überhaupt eine Regierung sein, an der die neoliberale FDP – noch dazu mit Christian Lindner im Finanzministerium – beteiligt ist? Oder welche Strategie ist notwendig, um nicht nur zu garantieren, dass uns unsere Rechte über unsere Körper und unsere Leben tatsächlich zugestanden werden, sondern auch um Angriffe zurückzuschlagen, die Ampel und R2G gleichzeitig für uns planen, zum Beispiel die Teilprivatisierung der Rente und weitere Abschiebe-Offensiven?

Um erste Hinweise für die Beantwortung dieser Frage zu finden, möchten wir mit den Beiträgen unserer Genossinnen international auf strategische Debatten und politische Erfahrungen im Umgang mit „progressiven“ Regierungen zurückgreifen, die in den vergangenen Jahren in internationalen feministischen Kreisen breit diskutiert wurden.

Feministische Strategien in einer Welt in der Krise

Cynthia Burgueño eröffnete das Podium mit einer Analyse der aktuellen internationalen Situation, geprägt von einer durch die Coronavirus-Pandemie verschärften wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Krise. Die Pandemie hat dabei nicht nur gezeigt, dass die Last auf die – immer weiblichere und immer migrantische – Arbeiter:innenklasse und die Ärmsten abgewälzt wird, die am meisten unter den multiplen Krisen der Betreuung, der Pflege, der Gesundheit, der sozialen Infrastruktur, aber auch der Fragmentierung und Prekarisierung der Arbeitsbedingungen zu leiden haben. Die Pandemie hat auch sichtbar gemacht, dass es die Arbeiter:innen in den „essentiellen“ Sektoren sind – unter ihnen wiederum überproportional viele Frauen und Migrant:innen –, die diese Gesellschaft überhaupt am Laufen halten. Und wir konnten sehen, dass diese Arbeiter:innen – insbesondere die Frauen – in den vergangenen Jahren an der vordersten Front der sozialen und Klassenkämpfe standen. Wie Burgueño sagt: „Was diese Krise deutlich gezeigt hat, ist, dass die Arbeiter:innenklasse, die zur Hälfte aus Frauen besteht, alle strategischen Positionen für die Produktion und Reproduktion der Gesellschaft innehat.“ 

Für Deutschland müssen wir hier ganz besonders die Kämpfe der Krankenhausbewegung hervorheben. Nach jahrelanger Organisierung und wichtigen Teilkämpfen bundesweit – insbesondere die harten Kämpfe der outgesourcten Servicebereiche der Krankenhäuser in Berlin – streikten im September und Oktober dieses Jahres in der Hauptstadt tausende Krankenpfleger:innen gemeinsam mit den Arbeiter:innen der ausgegliederten Krankenhaus-Tochterunternehmen für mehr Lohn, mehr Personal und eine Entlastung angesichts des völlig überlasteten Gesundheitssystems, das die Profite der Konzerne über Menschenleben stellt. Und dieser Kampf wird auch weiterhin nötig sein, denn die „fortschrittliche“ Ampelkoalition bietet außer schönen Worten weder eine klare Antwort auf die Pandemie, um das Gesundheitssystem zu stabilisieren, noch auf den seit Jahren unerträglichen Personalmangel und die Verdichtung der Arbeitsabläufe, die Beschäftigte regelmäßig in den Burnout treiben. Und auch der Berliner R2G-Senat hat nicht vor, die weiterhin grassierende Spaltung der Belegschaften durch Outsourcing zu beenden.

Welche Haltung sollen die Gesundheitsarbeiter:innen also zur neuen Regierung einnehmen? Wie können wir einen Feminismus aufbauen, der an der Seite der Arbeiter:innen steht und nicht auf die Versprechen einer angeblich fortschrittlichen Regierung vertraut, die unter diesem Deckmantel eine neoliberale Politik im Interesse des imperialistischen Kapitals weiterführt? Das ist, wie Burgueño sagte, eine strategische Debatte.

Andrea D’Atri beschrieb in ihrem Beitrag, wie die „progressive“ Mitte-Links-Regierung von Alberto Fernández angesichts der Armutsquote von 40 Prozent in Argentinien einerseits völlig unzureichende Transferleistungen für arme Familien umsetzt, aber zugleich weiterhin die horrenden Auslandsschulden an das imperialistische Kapital zahlt. In diesem Zusammenhang argumentiert D’Atri gegen die Strategie des populistisch-autonomistischen Feminismus: Seine Forderung von „Lohn für Hausarbeit“ (wie sie beispielsweise auch Silvia Federici historisch vertreten hat) bietet heute ein Einfallstor für eine massive Kooptierung von Seiten der argentinischen Regierung: Die Regierung schmückt sich mit diesen feministischen Diskursen von der Entlohnung von Hausarbeit und Betreuungsarbeit, verwaltet jedoch lediglich die Armut. Somit fungiert der populistisch-autonome Feminismus letztlich als Vermittlerin zwischen dem Staat und den Empfängerinnen der Transferleistungen, während er mit selbstorganisierten Suppenküchen die schlimmste Armut abfedert. Der Populismus nimmt sich jedoch nicht vor, die Regierung zu konfrontieren und ein Programm aufzustellen, welches tatsächlich die Profite der Kapitalist:innen angreift.

Am Beispiel der Rebellion in Chile ab 2019 erklärte Alejandra Decap ihrerseits die Rolle von Frauen und Queers in der ersten Reihe der Kämpfe gegen das vom Pinochetismus geerbte neoliberale Regime. Dabei geht sie von den feministischen Kämpfen vor 2019 aus, in denen sich wichtige strategische Debatten über den Umgang mit sexistischer Gewalt und über die Erkämpfung reproduktiver Rechte ergeben haben: Soll sich die Frauenbewegung auf die Repressivmaßnahmen des Staates gegen Gewalttäter und auf die Veränderung von Gesetzen im Parlament verlassen? Oder ist es notwendig, die Grenzen des Regimes zu sprengen? Die Revolte 2019 gab eine erste Antwort der Selbstorganisierung gegen Staat und Regierung, mit den Frauen in der ersten Reihe. Doch diese Bewegung wurde von der Regierung – in Zusammenarbeit mit der stalinistischen Kommunistischen Partei, der neoreformistischen Frente Amplio und der Gewerkschaftsbürokratie – in institutionelle Fahrwasser gelenkt. Während die Avantgarde der Arbeiter:innenklasse mit Streiks das gesamte Land zum Stillstand brachte, schlossen diese Kräfte am 15. November 2019 ein „Abkommen für den Frieden“. Auch die Frauenbewegung ordnete sich diesem institutionellen Umweg unter. Dagegen setzte Decap eine strategische Alternative: „Wir von Brot und Rosen schlagen vor, die soziale Kraft der Arbeiter:innenklasse und ihrer strategischen Sektoren zu fördern, um die Säulen des kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Staates zu bekämpfen.“

Über den Kampf gegen den Aufstieg der extremen Rechten sprach Diana Assunção aus Brasilien. Während die extreme Rechte – nicht nur Bolsonaro in Brasilien, sondern auch Trump, Vox, die AfD und so viele andere – sich vehement gegen jeden Fortschritt im Kampf der Frauen und der queeren Community wendet, stellt sich die Frage, wer die Verbündeten im Kampf gegen Bolsonaro und Co. sind. Im Fall Brasiliens haben viele Feminist:innen die Unterstützung der reformistischen PT, die selbst vor Bolsonaro an der Regierung war und die kapitalistische Misere mitverwaltet hat, und die Verteidigung der Institutionen des Regimes gewählt. Jedoch führt im Kampf gegen Rechts kein „geringeres Übel“ zum Ziel – denn die soziale Grundlage des Aufstiegs der Rechten ist die kapitalistische Krise, für die nur eine klar antikapitalistische Antwort einen Ausweg aufzeigen kann. Auch in Deutschland können wir ein ähnliches Phänomen beobachten, wenn sich „alle Demokrat:innen“ gegen die AfD zusammenschließen sollen, oder wenn DIE LINKE im Berliner Abgeordnetenhaus sich bei der Wahl eines AfD-Abgeordneten ins Präsidium enthält, um den parlamentarischen Betrieb nicht zu lähmen. Dagegen muss ein marxistischer Feminismus den Kampf gegen Rassismus und Patriarchat und den Kampf gegen den kapitalistischen Staat miteinander verbinden und dafür die Arbeiter:innenklasse als revolutionäres Subjekt ins Zentrum setzen. Eine zweite strategische Debatte, die Assunção in diesem Rahmen anschnitt, ist die der Intersektionalität. Hier betonte sie, dass Intersektionalität nicht bedeuten kann, Klasse als „eine weitere Unterdrückung“ oder als „Summe von Unterdrückungen“ zu verstehen, da dies einer Strategie der Klassenkollaboration Tür und Tor öffnet: „Viele Feministinnen, die sich auf Intersektionalität berufen, stellten sich in den Vereinigten Staaten beispielsweise gegen Trump und unterstützten Obama und dann Biden-Harris. Das sind Regierungen, die, wie wir wissen, die Bombardierung des Nahen Ostens fortsetzen. Dieses Beispiel zeigt die Folgen der Trennung zwischen ‘marxistischem Feminismus’ und ‘realer Politik’“.

Wie eine marxistisch-feministische Strategie aussehen kann, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und einen revolutionären Ausweg gegen den patriarchalen Kapitalismus anbieten kann, diskutierte Josefina Martínez zum Abschluss des Podiums in Auseinandersetzung mit der Theorie der sozialen Reproduktion und mit den Positionen von Nancy Fraser als Vertreterin eines „Feminismus der 99 Prozent“. Neben Fragen der Analyse stellte sie vor allem die politische Strategie in den Vordergrund, die diese feministischen Strömungen vorschlagen. Nancy Fraser beispielsweise stellt dem „reaktionären Populismus“ von Trump, Bolsonaro und Co. einen „progressiven  Populismus“ entgegen, um einen „gegenhegemonialen Block“ zu errichten. Dort räumt sie der Arbeiter:innenklasse durchaus eine zentrale Rolle ein – jedoch keine, die von der Bourgeoisie unabhängig wäre. Letzten Endes geht der Feminismus der 99 Prozent in der Formulierung Frasers davon aus, dass eine Allianz mit linksbürgerlichen oder linksreformistischen Varianten als Repräsentant:innen der imperialistischen Bourgeoisie möglich sei, in der die Arbeiter:innenklasse und die am meisten unterdrückten Sektoren die Oberhand behalten könnten. Im Gegensatz dazu hob Martínez hervor, dass es gerade die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse zu allen Varianten der Bourgeoisie, des Reformismus und der Bürokratie braucht, um einen gegenhegemonialen Block anführen zu können.

Letztlich ist es genau diese Herausforderung, vor der die feministische Bewegung und die Arbeiter:innenbewegung in Deutschland stehen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die „Fortschrittskoalition“ im Bund oder R2G in Berlin uns unsere Rechte schenken. Um tatsächlich auf die Krisen der Betreuung, der Pflege, der Ökologie, der Weltwirtschaft und so weiter antworten zu können, müssen wir eine unabhängige Kraft der Arbeiter:innenklasse aufbauen, die ein hegemoniales Programm gegen jegliche Form von Ausbeutung und Unterdrückung aufstellt. Mit dieser Ausgabe unseres Magazins möchten wir im deutschsprachigen Raum die Diskussion für einen solchen marxistischen Feminismus vertiefen.

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